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Was aber bleibet, stiften die Programmierer

Umgekehrtes Marionettentheater: "Der Glöckner von Notre-Dame" à la Disney und Stella

Von Niels Werber

BERLIN. Den Sprung in die Gutenberg-Galaxis des Buchdrucks überlebt die Kathedrale nur zum Teil, ihre Funktion als steinernes Archiv des Mittelalters büßt sie ein. Viktor Hugos Roman Notre-Dame de Paris erzählt von diesem Medienwechsel. Es ist nur konsequent, wenn am Ende der Gutenberg-Galaxis die Stella-Produktion von Walt Disneys Glöckner von Notre-Dame einen ähnlichen Schnitt setzt zwischen dem Musiktheater der Vergangenheit und dem in Echtzeit performten Videobühnenspiel der Zukunft.

Wenn das Medium die Message ist, dann muß Disneys computergenerierte Notre-Dame aus mobilen Cubes, Projektionen und Animationen als der eigentliche Protagonist des Musicals gelten, und wenn der Szenenapplaus nicht bei besonders überzeugenden Leistungen der Darsteller, sondern besonders spektakulären Illusionen aufbrandet, wird das Verhältnis des neuen Mediums zu seinem alten Inhalt deutlich. Auf elf bewegliche Würfel im Bühnenboden, die in beinahe permanenter Bewegung der Kulisse immer neue Gestalt verleihen, werden nach dem Muster der Blue-box-Technik des Films Projektionen geworfen, vor denen die Darsteller auftreten.

Wirkt die Bühne in der ersten Szene noch wie ein Setzkasten, in dem man ein paar Figuren plaziert hat, so entfalten sich bald die Cubes, Projektionsflächen und weiteren mobilen Elemente zu einem virtuosen Tanz, dessen graziöses Gelingen ein komplexes Computerprogramm und eine Unzahl von Rechnern sicherstellen. Ein Großteil der Proben mußte allein darauf verwendet werden, daß die Schauspieler hier mithalten können und nicht aus dem vorgegebenen Takt der Maschinen fallen. Der Glöckner: ein umgekehrtes Marionettentheater. Es mutet ein wenig inkonsequent an, daß Stella auf den Einsatz von Darstellern nicht verzichtet hat, denn wie sehr sie auch singen und tanzen, raufen und saufen, ihr Spiel bleibt, verglichen mit der perfekten Choreographie der Special effects notwendig zurück. Und das ist gut so, denn Disneys Variation auf Hugos Meisterwerk ist so schlicht, daß man sie nicht in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken sollte: der Richter Frollo zieht das Findelkind Quasimodo auf und macht ihn zum Glöckner. Der häßliche Wicht, obwohl von seinem Meister gewarnt vor der political incorrectness der Welt, verläßt den Dom, um vom Pöbel verspottet zu werden. Eine gute Lehre, sollte man meinen, aber die Zigeunerin Esmeralda kommt Quasimodo gegen ausdrücklichen Befehl Frollos zu Hilfe, sie ist "bereit zum Streit", wie eine Großmacht, leider aber ohne jede fire power außer ihrem Charme.

Esmeralda wird vom verliebten Frollo verfolgt, vom verliebten Quasimodo gerettet, verfolgt, vom verliebten Hauptmann Phoebus gerettet, verfolgt, von Quasimodo gerettet . . . Daß Frollo nicht nur sie, sondern alle Sinti und Roma drangsaliert, daß ausgerechnet einer seiner Büttel, der blonde Phoebus, ihr zur Flucht verhilft, soll vermutlich eine allegorische Deutung anbieten, zumal gegen Ende des Stücks ein Zigeunerchor gemeinsam mit der Söldnertruppe Frollos ein Lied für Albanien singt: am "Ende aller Schlachten" werde man "lieben statt hassen". So daß Quasimodos Klage vom Beginn, er wolle "sein wie die anderen", überflüssig würde, weil dann endlich der andere ohne Furcht anders sein könnte.

Das klingt erbaulich, aber am Ende wird Esmeralda doch als Hexe verbrannt; auch sie war gewarnt, denn "Leben heißt durch Dornen gehen". Frollo, der mit einem Autodafé Paris zur Ordnung bringen wollte, wird von seinem eigenen Pflegesohn vom Glockengestühl gestürzt, der zur Belohnung in die Freiheit entkommt. Dann stehen alle wieder gemeinsam auf der Bühne und stimmen das Lied an: "Die Welt ist, wie sie ist, eine andere gibt es nicht".

Da erscheint das "dies irae, dies illa", bei dem Quasimodo mit Frollo abrechnet, doch passender, aber in Latein, kann schließlich niemand mitsingen, und soviel Interaktivität darf es bei Stella immer sein. Was aber bleibet, stiften die Programmierer.

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 07.06.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 08.06.1999

 

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