Weltgeschichte als Thriller

Über Harold Innis, den Lehrer Marshall McLuhans


Von Niels Werber

Welcher Historiker besäße heute schon die Kühnheit, seine Geschichte mit Ägypten und Babylon beginnen und in der Gegenwart enden zu lassen? Wie sollte er aus der unglaublichen Fülle des Materials Prinzipien destillieren, die die Story von den Pyramiden bis zum Weißen Haus trüge? Wer würde heute noch eine Weltgeschichte schreiben, selbst wenn er Tausende von Seiten Platz hätte? Die heute in Sonderforschungsbereiche zersplitterten Geisteswissenschaften sind sich allenfalls noch einig über das Ende der "Großen Erzählungen" und meiden ängstlich alle Experimente mit universalen Theorien. Den Mut zur Verknüpfung unübersehbarer Mengen von Forschungsergebnissen findet in den Humanities kaum jemand.

 In dieser oft als "unübersichtlich" bezeichneten Lage wirkt die deutsche Erstauflage einiger Schriften von Harold Innis (Kreuzwege der Kommunikation, hrsg. von Karlheinz Barck, aus dem Englischen von Friederike von Schwerin-High. Springer Verlag, Wien/New York 1997; 267 Seiten, 68 DM) wie die Antwort auf einen heimlichen Ruf nach Orientierung. Innis benötigt etwa im Jahre 1947 für seine Zeitreise aus Mesopotamien in die USA nur 30 Seiten. Sein technik- und medientheoretisches Interesse vermag die unendliche Datenmenge so übersichtlich und überzeugend zu gruppieren, daß seine Kurzgeschichten der Weltgeschichte nicht als Delirium dahingefaselter Daten erscheinen, sondern als prägnante Narrationen. Innis' Talent zur "Übersicht" erklärt die Faszination, die von seinen 50 Jahre alten Texten heute auszugehen vermag.

 Harold Adams Innis (1894-1952) hat seine Laufbahn in Toronto als Wirtschaftshistoriker begonnen und als Medienwissenschaftler beendet. In beiden Fächern verfolgte er den Zusammenhang von Herrschafts- und Wirtschaftsräumen mit den nutzbaren Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen. Arbeiten über die politische und wirtschaftlichen Erschließung Kanadas durch Eisenbahnen, Telegraphen und Schiffahrtslinien, der immer skeptische Blick auf den großen Nachbarn USA und sein historisches Interesse führen schließlich zu seinem vielleicht wichtigsten Werk: Empire and Communication (1950), dessen Titel sein Forschungsprogramm einer kommunikationstechnologischen Genealogie der Imperien anzeigt.

 Dem Reich der Pharaonen etwa stand als "Kommunikationsmittel" nur der Stein zur Verfügung, in den aufwendig und mühselig Hieroglyphen gemeißelt wurden. Diese monumentalen Speichermedien, zumal als Schmuck der Pyramiden, repräsentierten zwar ideal das "Prestige" einer "absoluten Monarchie", doch konnten sie ob ihres Gewichts kaum transportiert werden und faszinierten so nur Anwesende. Das ägyptische Reich konzentrierte sich daher auf wenige Großstädte im Bannkreis der steinernen Monumente. Dies änderte sich mit der Einführung der Papyrusbögen, die seit der fünften Dynastie (ca. 2700 v. Chr.) als Schreibstoff genutzt wurden. Statt langsam zu meißeln, schrieb man nun schnell mit einem Pinsel, was folglich die Schrift erheblich vereinfachte und abstrahierte.

 War in der Bilderschrift des Steins jede Einzelheit von Interesse, so kam es nun nicht länger auf die ästhetische Form, sondern auf den Inhalt an. "Mit der deutlichen Zunahme der Schreibschrift ging die Säkularisierung des Schreibens, Denkens und Handelns einher." Das leichte Medium des Papyrus ermöglichte die Ausdehnung des Reiches vom Libanon bis nach Oberägypten, da nun die Fernkommunikation den Befehlsfluß zwischen Hauptstadt und Provinzen sicherstellte. Die Verwaltung des Gebietes übernahm eine Priesterbürokratie, die mit dem Bildungs- und Schriftmonopol auch den Zugang zur Macht kontrollierte. Die sich in den Pyramiden ausdrückende absolute und hochzentralisierte Herrschaft des Pharaos über die Zeit durch ein durables Medium (Stein) wurde so von einer "dezentralisierten bürokratischen Machtverteilung" abgelöst.

 Anders im Zweistromland, in dem Schlammlehm zu Tontafeln verarbeitet wurde. In Babylonien und Assyrien stand damit ein Schreibstoff zur Verfügung, der zwar sehr haltbar war, sich aber wegen seines Gewichts "als Mittel der Langstreckenkommunikation" kaum eignete. Die relative "Unzerstörbarkeit" gebrannter Ziegeltafeln garantierte die "Unfälschbarkeit geschäftlicher Korrespondenz", daher handelt es sich bei ihnen meist um "Rechts- und Kaufverträge und Landübereignungen". Auch der schnell trocknende und daher geschwind zu beschreibende Lehm begünstigte die Verwendung des Materials für privatrechtliche Urkunden. Lange Epen waren selten - man hätte dazu schon eine sehr lange Mauer beschriften müssen.

 Ein Medium macht also bestimmte kulturelle Entwicklungen wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. Dank der Tontafeln konnten Eigentumsansprüche fixiert und von einer Generation an die nächste vermacht werden. Es entstand daher ein komplexes Verwaltungs- und Rechtssystem sowie eine vereinheitlichte Schrift, die "auch für die Amtskollegen und Nachfolger verständlich" war. Die Herrschaft auf der Grundlage dieser Kommunikationsverhältnisse war allerdings räumlich streng begrenzt, da der Ton zwar ein gutes Speicher-, aber ein schlechtes Verbreitungsmedium ist. Man findet daher zwischen Euphrat und Tigris nur Stadtstaaten und keine ausgedehnten Reiche. Innis bezieht seine Analysen auf die Kategorien von Raum und Zeit. Es gibt Medien, die wie der Papyrus eine räumliche Orientierung der Gesellschaft befördern, und solche wie Stein oder Ton, welche Herrschaftsformen begünstigen, die auf Zeitmonopolen gebaut sind.

 Die in Stein geschlagenen zehn Gebote der Juden errichten eine Herrschaft über die Zeit; das sich auf Papyrus verbreitende Christentum enthält dagegen auch einen räumlichen Universalismus und muß seine Dauer durch die Errichtung einer zentralistischen Bürokratie sicherstellen, die über ihr Bildungsmonopol solange zu wachen vermag, bis die Erfindung des Buchdrucks der "allein selig machenden" katholischen Kirche ein Ende bereitet. Die "Macht der Klöster" im Mittelalter wurde dadurch verstärkt, daß die "Papyrusversorgung aus Ägypten durch die Mohammedaner abgeschnitten worden war" und nur das sehr teure Pergament zur Verfügung stand. Zugleich ermöglichte die Verwendung des Pergaments den Wechsel von der Schriftrolle zum Buch und damit die Kodifizierung des Rechts, denn nun konnte man in großen Büchern sehr schnell bestimmte Stellen nachschlagen - erst diese Überprüfbarkeit verschriftlichteten Wissens schafft die Voraussetzungen für Wissenschaft. "War einem Reich ein Gleichgewicht zwischen den religiösen Organisationen, den Hütern der Zeit, und den politischen Einrichtungen, den Hütern des Raums, geglückt, so lauerten Gefahren durch den technischen Wandel" - nicht nur der Medien, sondern auch der Transport- und Waffentechnologien.

 Von Innis ließe sich leicht der Bogen zu Friedrich Kittler und Paul Virilio schlagen. Das nachhaltige Interesse, das Innis an seiner Universität für Medien und Kommunikation geweckt hat, brachte die klassischen Publikationen der Toronto School zur Materialität der Kommunikation und besonders zu Oralität und Schriftlicheit auf den Weg: Marshall McLuhans Gutenberg Galaxy und Eric A. Havelocks Preface to Plato, Jack Goodys und Ian Watts Consequences of Literacy. Heute setzt Derrick de Kerckhove diese Tradition in Toronto fort. Wer sich für die Medientheorie interessiert, findet mit Innis einen Autor, der sie miterfunden hat.

 Seine Aufsätze basieren im Kern auf einer einzigen These. Alle menschlichen Gesellschaften verdanken ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung bestimmten Speicher- und Verbreitungsmedien. Wenn heute deutsche Medientheoretiker wie Kittler vorschlagen, unsere Gesellschaft von den Chiparchitekturen her zu beschreiben, dann erweisen auch sie sich als Innis-Schüler. Mit ihm teilen sie auch die Neigung zu unglaublichen Verdichtungen, die oft verblüffend überzeugend wirken, bisweilen aber auch einen höchst spekulativen Eindruck machen. So wird etwa die Geschichte Britanniens der letzten fünf oder sechs Jahrhunderte mit dem Satz erklärt: "Die Flexibilität der englischen Sprache, die ein Ergebnis zahlreicher, aufeinander folgender Sprachinvasionen war, bedingte gemeines Recht, parlamentarische Einrichtungen und Handel."

 McLuhan hat zu den Reduktionen seines Lehrer bemerkt, daß "jeder Satz eine komprimierte Monographie" sei und jede Seite "eine kleine Bibliothek" enthalte. Seine Gutenberg-Galaxis verstand McLuhan als "Fußnote zu Innis' Beobachtungen zum Thema der psychischen und sozialen Konsequenzen der Schrift und des Buchdrucks". In ihrem komprimierenden Verfahren liegt der Zauber von Innis' Texten, aber auch ihr Nachteil, da nicht zu jedem Satz eine weiterführende Monographie vorliegt, obschon viele Beobachtungen interessant genug klingen, sich dies zu wünschen. Aber Innis hat über die Weltgeschichte eben kein Epos verfaßt, sondern mehrere Thriller. Dieser Gewinn an Spannung tröstet über den Verzicht auf langatmige Validierungen allemal hinweg. 
 

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