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Gebetsmüller und Witzewagner
Ein Wettbewerb für Internetliteratur ist nicht das reine Vergnügen. Was ist
überhaupt Netzliteratur? Einfach das, was ins Netz gehängt wird?
Erfahrungsbericht eines strapazierten Jurymitglieds mit erhöhter Telefonrechnung
Von Erhard Schütz
An diesem Wochenende findet in Berlin zum dritten Mal die "Softmoderne", das
Festival der Netzkultur, statt. Auf dem Programm steht auch eine Diskussion über
den Internet-Literaturpreis, der von "Zeit", IBM, "Tagesspiegel" und Radio Bremen
ausgelobt wurde. Wie jede Preisverleihung ist auch diese im Netz bereits heftig
kritisiert worden. Erhard Schütz, Germanistikprofessor an der Berliner
Humboldt-Universität, gehörte zur Jury und hat nun einen Überblick über das, was
und wie im Netz so geschrieben wird.
"Und wie hast Du Dich genannt? - Sten Rasin. - Selbst wenn's nichts bedeutet,
klingt stark. - Es bedeutet was... - Behalt's für Dich."
Ein Stück Dialog aus einer Geschichte vom futuristischen Wiedergänger des
Donkosaken Stenka Rasin, der im 17. Jahrhundert den Widerstand gegen die Russen
organisiert hatte. Die Russen sind nun ersetzt durch Teta, und Rasin kämpft in
Autopol: "Ein in sich geschlossenes System, ein vom restlichen Verkehrsnetz
abgetrennter Teil der Autobahn, betrieben von Europas führendem Konzern Teta."
Autopol ist eine Parabel auf allerlei und noch mehr, zum Beispiel auf die
Informations-Highways als zukünftige Straflager oder bloß die Welt als Knast.
Viel muß man sich nicht dabei denken.
Ilija Trojanow, der zuletzt mit einem schönen Roman mit wunderbarem Titel auf
sich aufmerksam gemacht hatte - "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" -,
hat jetzt einen "Zukunfts-Thriller" geschrieben, der so angepriesen wird: "ein
Internet-Movie", "direkt aus dem Internet". Ein "interaktives Konzept" habe diese
"novel in progress", sei "polyperspektivisch angelegt" usf. Na ja. Tatsächlich
ist die Besonderheit von "Autopol" nur die, daß der Text vorher mal im Internet
zu besichtigen war. In Buchform ist das eine fix runterlesbare Geschichte, die
erkennen läßt, daß der Autor ein literarischer Hit sein könnte, wenn er nicht
gerade mit solchen Mätzchen beschäftigt wäre.
Literaturkompressen...
"Das Schreiben des Schreibenden ist die Mutter des Buchhandels." Den Satz findet,
wer in "Reichlins nützlichen Internet-Tools gegen Literatur aller Art" unter dem
Angebot "Komprimierung" den Eintrag "Weltliteratur von P. Handke" berührt. Eine
Totalkomprimierung 14:1. Würde demnach Trojanows Buch komprimiert, bliebe kaum
mehr als das 6 seiner E-Mail-Adresse. Unkomprimiert sind es einstweilen 184
Seiten Wechselrede in Spiegelstrichtuff, ein Mengerscher Schwamm aus verwischten
Bild- und Text-Inserts, die aus etwa dem nämlichen Grund durchs Netz geschickt
wurden wie "Linie"-Aquavit sein Produkt über den Äquator schippert:
Aufmerksamkeitsmanagement. Noch mal na ja: Warum nicht auch das? Trojanow wird
sich nicht ganz zu Unrecht gesagt haben: Die Welt ist groß, und Aufmerksamkeit
lauert nicht überall.
Hinter den 164 Adressen, unter denen Beiträge zum Internet-Literaturwettbewerb
1997, ausgelobt von IBM, Zeit, Tagesspiegel und Radio Bremen, ins
Netz gehängt worden waren, verbergen sich jedenfalls andere, schwerere Kaliber.
Sieht man die entsprechenden Diskussionsbeiträge zur Entscheidung der Jury an,
wähnt man viele leicht kränkbare Seelchen, schneller schmollbereit als
schreibfähig. Selbstredend, daß da Verschwörungsvorstellungen nicht ferne waren.
Die Jury ist nur bis zum Buchstaben B gekommen, weil die Preisträgerin
Berkenhager heißt und der Preisträger Berlich. Oder: IBM will die Zukunft der
Netzliteratur verhindern, deshalb hat die Jury zwei textlastige,
plug-in-freie Beiträge ausgezeichnet.
Merkwürdig: Müßte man nicht von Schülerzeitungszeiten her wissen, daß bei einem
Wettbewerb immer die Falschen ausgezeichnet werden? Das ist doch Sinn der Jury -
jedenfalls für die Nichtgepriesenen. Aber im Ernst, was soll Literatur im
Internet überhaupt sein? Ins Netz gestellte Schwerlaster der Weltliteratur? Der
komplette Shakespeare zum Runterladen? Hyperfiction-Texte? Links die von der
Prinzessin zum Drachen, von dort zum Schatz, dann zu den Zwergen, am Ende auf den
Hund, jedenfalls zum Kater führen? Animierte Texte? Zappelnde Buchstaben,
zitternde Bildlein, zage Töne? Robinson Clubs für bastelnde Narzissen mit
Primel-Standing? Oder das Utopia der gemeinsamen Schreibprojekte?
Linus Reichlin läßt wissen: "Streng genommen hat Literatur im Internet nichts zu
suchen. Sie ist zu langsam und muß naturgemäß mit bloß 26 graphischen Elementen
auskommen, die wir schon zu oft gesehen haben." Folglich hat er in seinem
Wettbewerbsbeitrag seine Tools zur wahlweise Beschleunigung, Komprimierung und
Beseitigung von Literatur angeboten. Ein pfiffiger Einfall, der ihn, wären die
Beispiele (s.o.) nur etwas weniger müde ausgeführt, bestimmt aufs virtuelle
Podest gehievt hätte. Doch hilft das bei der Klärung nicht viel weiter. Ist so
etwas Internetliteratur? Ist es "Octothorp" von Florian Brody? Ein präziser, in
Text und Bild in strenger Ästhetik komponierter Kurzessay? Sie waren jedenfalls
beide auffallende Ausnahmen in einer Geringzahl einsam Schweifender und Vielzahl
von Angehörigen der Textstämme der Poesieälbler, Gebetsmüller und Witzewagner.
...und ganz viel Ikarus
Die Poesieälbler sind am zahlreichsten vertreten. Die einen dekorierten ihre
Liebeserklärungen an sich selbst mit den Tapetenmustern und Knautschpapieren, die
die Netzkonfektion so zum Runterholen erlaubt, andere hielten Patentrezepte zu
Weltrettungspetitionen feil oder reichten Hand zum mehrstimmig monotonen
Depressions-Selbstmord-Verhinderungslehrgang. Wundersam dazwischen
wichtigtuerisches Referenzgeklingel, schwiemelige Preziositäten, hochstapelnde
Metaphorik, Pennälerdada und Second-hand- Surrealismus. Da fragt schon mal der
"cunnilinguale Dichter": "Wer zahlt in gespenstischer Münze?" Da will sich einer
"lächerlich machen über" jemanden, was ihm auch für sich gelingt. Trotz "weiß
anlächelnder Bubenzähne" blieb die Stimmung "miesest", und "ein hohler Laut
zerfällte langsam". Kurz: ein Florilegium der Primanerpoesie von Ausmaß und
Reichtum holländischer Tulpenfelder. So viel "Ich" war nie, statistisch mit
einigem Abstand gefolgt von "Gott" und "Schutzengel". Ja, und dann natürlich ein
Überblick über die Schullektüre: Faust und Büchner, immerhin! Und ganz viel
Ikarus. Was ein Moment von Selbstreflexivität andeuten mag.
Wesentlich kunstvoller waren die Gebetsmüller. Daß sie von der konkreten Poesie
abstammen, ließ sich nur selten übersehen. "Onkel Otto plätschert lustig in der
Badewanne" oder das Blätterspielchen der "100.000 Gedichte" elektronisch kann
allenfalls Netzneulinge verblüffen, die zugleich Literaturlehrlinge sind. Unter
den Permutationsexperimenten allerdings findet man noch die formal
überzeugendsten Beiträge. Sie sind jedoch gepaart mit Sinnenblässe oder
Gedankenbescheidung - eher finstere Wiederholungszwänge denn Freilandexperimente.
Bleiben die Witzewagner. Wahrscheinlich wird weiland Wohl und Wehe bei ihnen
liegen, den gesamtkunstwerkelnden Einfalldesignern. Vielleicht ist das dem Medium
am angemessensten? Wenn man sich bei langen Texten gerötete Augen und hohe
Telefonrechnungen holt, dann ist so etwas genau das Richtige: ein spöttischer
Spot, eine geistreiche Grille oder auch nur ein schlapper Scherz aus Text, Ton
und Taumelbild. Synästhetische Pausenfüller für die elektronische
Hirnarbeiterschaft. Das muß ja nicht nur albern oder sarkastisch, das kann auch
eine intelligente Bosheit oder ein multimediales Denkbild sein.
Bleibt noch "Pingu und die Flaschenpost" von Elke Herbst. Der Beitrag fällt nicht
nur aus dem Rahmen, weil er eine ausgesprochen interaktive Kinderbelustigung ist,
sondern auch wegen seiner frischen Ästhetik. Er kommt eher von dort, wo die
professionellen CD-ROM- Designer werkeln - und er läßt ahnen, daß die Zukunft
einer synästhetisch entgrenzten (oder sagen wir bloß: erweiterten) Literatur noch
längere Zeit auf CD-ROM oder ihren Derivaten zu finden sein könnte, gleich neben
dem Film.
Damit ist zwar noch immer nicht geklärt, was Internetliteratur sein kann, aber
denkbar ist, wie der Wettbewerb zu dessen Klärung weitergehen könnte. Nämlich mit
präziseren Ausschreibungsbedingungen. Die multimedial Ausdruckswilligen um jeden
Preis und die freiwillig Selbstkontrollunfähigen finden ja auch andernorts ihre
Reservate. Darum könnte man statt geschlossener Bastelbeiträge, die eben entweder
technisch unfertig oder literarisch ruinös sind, eher Konzepte oder Drehbücher
anfordern, vielleicht mit der einen oder anderen Illustration im Detail.
Projektbeschreibungen mit Arbeitsproben also, deren Ausarbeitung unter
professioneller Assistenz dann der Preis für die Sieger sein könnte. Das würde
den Anteil der ernster zu nehmenden Beiträge erhöhen und die Zahl der gekränkten
Seelen senken. Ob das, was dabei herauskommt, dann noch Literatur heißen muß? Das
zu fragen ist müßig. Wenn es die intellektuelle Lust nur hinreichend fördert,
wird sich schon ein Label finden.
Die Wettbewerbseinsendungen sind zu finden unter der Adresse:
http://wettbewerb.ibm.zeit.de/teil
nehmer/index.html
Ilija Trojanow: "Autopol". Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, 184
Seiten, 24 DM
Bemerkung:
Rezension
TAZ Nr. 5324 vom 06.09.1997 Seite 14 Kultur 286 Zeilen
Kommentar Erhard Schütz
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