KOPFSPRUNG
Kontramoralin
VON NIELS WERBER
Unsere Geschichte erinnert an einen Roman von
Charles Dickens. Die Heldin entstammt kleinen
Verhältnissen und verbringt ihre Jugend in der
langweiligsten Stadt Ostwestfalens, wo der Mangel
an Abwechslung und Aufgaben das 17jährige
Mädchen dazu verleitet, zumindest die Sicht auf
die Welt mit der Hilfe von Drogen zeitweilig
aufzuhellen. Der Aussicht, mit Mac-Jobs Pfennige
zu verdienen, zog sie die "schnelle
Mark" ("Bild") vor, die mit
Prostitution zu verdienen ist. Mit dem
selbstverdienten Geld kauft sich die gefallene
Unschuld nicht etwa den Stoff für den obligaten
goldenen Schuss, sondern zieht aus in die Welt,
um die erfolgreichste Mädchenband Deutschlands
zu gründen, deren Texte ("...ich sitz' auf
deinem Schoss...", "Warum?") sich
zu einem guten Teil wie Erinnerungen an jene Zeit
anhören, wo Sex und Drogen nicht besungen,
sondern täglich erlebt wurden. Goldene
Schallplatten statt Drogenelend - wie erbaulich!
Niemand nimmt es einem US-amerikanischen
Gangsta-Rapper übel, dass die Songs von einem
Leben der Gewalt bisweilen nicht ohne Bezug zur
eigenen Erfahrung der Ghetto-Jugend sind. Die
Gemeinde trauert, wenn ein Rapper von seiner
Bandenvergangenheit eingeholt wird und einer
Kugel zum Opfer fällt. In Deutschland und wenn
es sich um Damen handelt, scheint es anders zu
liegen. Liane "Lee" Wiegelmann, die
Sängerin von Tic-Tac-Toe, die es von einem
Bielefelder Bordell zum Star in MTV-Videos
schaffte, muss eine moralische Kampagne über
sich ergehen lassen, die ihr die arglistige
Täuschung ihrer Fans ("Bild") vorwirft
oder gar die Schuld am Tod ihres Ehemannes
insinuiert, den die zu Ruhm Gekommene
rücksichtslos in der Provinz zurückgelassen
habe (RTL 2). "Die Glitzerfassade bröckelt
immer mehr. Viele ihrer jungen Fans sehen sich
mit der bitteren Wahrheit konfrontiert",
schreiben gleich fünf
"Bild"-Redakteure, die allesamt nicht
umhinkommen, die "bittere Wahrheit" den
empörten Fans mit vielen Details über Lianes
Arbeit im "Knusperhäuschen"
mitzuteilen.
Bitter an dieser Wahrheit schmeckt nur das
Moralin. Wir ziehen es vor, Lees Lebenslauf zu
bewundern. Eine Veränderung, die vom "rosa
BH" und "gelben Mini-Body" in
einem Bielefelder "Eros-Center"
("Bild") zu einer stets geschmackvoll
gekleideten Frontfrau einer über die Grenzen
Deutschlands hinweg beliebten Band geführt hat,
muss allein schon aus ästhetischen Gründen ohne
Abstriche gutgeheissen werden. Und wer sonst die
ewigen Boysbands ob ihrer keimfreien
Unwirklichkeit kritisiert und das durch und durch
Erfundene an jeder sexy Geste belächelt, der
sollte sich mit uns auf die nächsten Lieder von
Tic-Tac-Toe freuen.
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