Ausgabe vom 02.04.97

KOPFSPRUNG

Kontramoralin

VON NIELS WERBER

Unsere Geschichte erinnert an einen Roman von Charles Dickens. Die Heldin entstammt kleinen Verhältnissen und verbringt ihre Jugend in der langweiligsten Stadt Ostwestfalens, wo der Mangel an Abwechslung und Aufgaben das 17jährige Mädchen dazu verleitet, zumindest die Sicht auf die Welt mit der Hilfe von Drogen zeitweilig aufzuhellen. Der Aussicht, mit Mac-Jobs Pfennige zu verdienen, zog sie die "schnelle Mark" ("Bild") vor, die mit Prostitution zu verdienen ist. Mit dem selbstverdienten Geld kauft sich die gefallene Unschuld nicht etwa den Stoff für den obligaten goldenen Schuss, sondern zieht aus in die Welt, um die erfolgreichste Mädchenband Deutschlands zu gründen, deren Texte ("...ich sitz' auf deinem Schoss...", "Warum?") sich zu einem guten Teil wie Erinnerungen an jene Zeit anhören, wo Sex und Drogen nicht besungen, sondern täglich erlebt wurden. Goldene Schallplatten statt Drogenelend - wie erbaulich!

Niemand nimmt es einem US-amerikanischen Gangsta-Rapper übel, dass die Songs von einem Leben der Gewalt bisweilen nicht ohne Bezug zur eigenen Erfahrung der Ghetto-Jugend sind. Die Gemeinde trauert, wenn ein Rapper von seiner Bandenvergangenheit eingeholt wird und einer Kugel zum Opfer fällt. In Deutschland und wenn es sich um Damen handelt, scheint es anders zu liegen. Liane "Lee" Wiegelmann, die Sängerin von Tic-Tac-Toe, die es von einem Bielefelder Bordell zum Star in MTV-Videos schaffte, muss eine moralische Kampagne über sich ergehen lassen, die ihr die arglistige Täuschung ihrer Fans ("Bild") vorwirft oder gar die Schuld am Tod ihres Ehemannes insinuiert, den die zu Ruhm Gekommene rücksichtslos in der Provinz zurückgelassen habe (RTL 2). "Die Glitzerfassade bröckelt immer mehr. Viele ihrer jungen Fans sehen sich mit der bitteren Wahrheit konfrontiert", schreiben gleich fünf "Bild"-Redakteure, die allesamt nicht umhinkommen, die "bittere Wahrheit" den empörten Fans mit vielen Details über Lianes Arbeit im "Knusperhäuschen" mitzuteilen.

Bitter an dieser Wahrheit schmeckt nur das Moralin. Wir ziehen es vor, Lees Lebenslauf zu bewundern. Eine Veränderung, die vom "rosa BH" und "gelben Mini-Body" in einem Bielefelder "Eros-Center" ("Bild") zu einer stets geschmackvoll gekleideten Frontfrau einer über die Grenzen Deutschlands hinweg beliebten Band geführt hat, muss allein schon aus ästhetischen Gründen ohne Abstriche gutgeheissen werden. Und wer sonst die ewigen Boysbands ob ihrer keimfreien Unwirklichkeit kritisiert und das durch und durch Erfundene an jeder sexy Geste belächelt, der sollte sich mit uns auf die nächsten Lieder von Tic-Tac-Toe freuen.

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