Der Mensch als Umwelt der Gesellschaft
Niklas Luhmann war einer der herausragenden Soziologen dieses Jahrhunderts. Wie
gestern bekannt wurde, starb er 70jährig am 6. November nach langer Krankheit in seinem
Wohnort Oerlinghausen bei Bielefeld.
Von Niels Werber
Nun, da man weiss, dass Niklas Luhmanns jüngstes Werk über die Gesellschaft der
Gesellschaft sein letztes bleiben wird, wirken die beiden schwarzgebundenen Bände wie
sein Vermächtnis. 1200 Seiten stark, krönt diese Summa sociologica ein Lebenswerk von
unvergleichlicher Produktivität. Dieses Buch lässt unzählige andere Publikationen wie
Vorstudien erscheinen: Die 600seitigen "Sozialen Systeme" werden im Vorwort als
"Einleitungskapitel" bezeichnet, Lumanns ausschliesslich aus eigenen Aufsätzen
bestrittenen Publikationsreihen "Soziologische Aufklärung" (sechs Bände) und
"Gesellschaftsstruktur und Semantik" (vier Bände), Überlegungen aus seinen ca.
50 Monographien und über 300 Aufsätzen konnten in diese grosse Arbeit einfliessen, die
erstmals den Schritt unternimmt, nicht einzelne soziale Systeme wie Liebe, Wirtschaft,
Wissenschaft, Recht, Massenmedien oder Kunst zu untersuchen, sondern die Gesellschaft
selbst.
Theorie als Passion
30 Jahre hat Luhmann in dieses Grossprojekt investiert, "Kosten" seien dabei
keine angefallen. Wenn man erfährt, welche Selbstdisziplin und Mühe für die
Fahnenkorrektur seines letzten Buches nötig gewesen sind, weiss man, dass dies nur
insoweit stimmt, als Geld gemeint ist. Mit unversiegbarem Elan trieb Luhmann sein Vorhaben
voran. "Theorie als Passion" heisst die zu seinem 60. Geburtstag vor zehn Jahren
erschienene Festschrift mit Recht. Diese Leidenschaft konnte trotz mancher Leiden erst mit
seinem Leben enden.
Geboren 1927, hat er Rechtswissenschaften studiert und eine erste Laufbahn in der
Verwaltung hinter sich gebracht. Er arbeitet als Landtagsreferent des niedersächsischen
Kultusministeriums, dann als Referent der Verwaltungshochschule Speyer, ehe Helmut
Schelsky den Oberregierungsrat nach Münster holte, wo er innerhalb nur eines Jahres
promovierte und habilitierte, um dann 1968 einen Lehrstuhl für Soziologie an der
neugegründeten Universität Bielefeld zu übernehmen. Schon vorher entwirft Luhmann die
Grundzüge seiner Theorie, stets bemüht um eine facheinheitliche Theorie, welche die
vielen Bindestrich-Soziologen auf eine Grundlage zu stellen vermöchte. Mancher mag seine
Herkunft aus der Verwaltung in den Zettelkästen wiederauferstehen sehen, in den Luhmann
sein Wissen abgelegt hat, oder auch in seiner Aufteilung der Gesellschaft in
Funktionssysteme, denen er spezifisch codierte Kommunikationen zuordnet, als gelte es
eingehende Behördenpost nach Absender und Dringlichkeit in Fächer zu sortieren.
Kleine Theorie der Kopfschmerzen
Aber der Jurist brilliert mit einer seltenen Kombination aus souveräner Beherrschung
der modernen Theorielandschaft und umfassender Bildung - zitiert werden Parsons und
Pfendorf, Deleuze und Augustinus, Maturana und Gracian, meist im Original. Seine Vision
einer facheinheitlichen Theorie hat er nun realisiert, das Buch dazu heisst nicht
"Risiko- oder Informationsgesellschaft", sondern eben "Die Gesellschaft der
Gesellschaft". Dieser sperrige Titel verweist auf die Überzeugung Luhmanns, dass
jede Theorie der Gesellschaft selbst ein Teil der Gesellschaft ist und im Medium der
Soziologie ein Modell ihrer selbst entwirft. Es geht also nicht um die Gesellschaft,
sondern um ihre Selbstbeobachtung mittels Soziologie.
Darin liegen - typisch für die soziologische Systemtheorie - Selbstbescheidung und
Anmassung. Sie beobachtet nämlich nicht weniger als alles, was sozial ist, und versteht
sich als universale Theorie. Was dies impliziert, hat Luhmann unermüdlich erläutert:
Wenn die Soziologie alles Soziale beobachtet, dann bedeutet dies zugleich, dass sie alles,
was nicht sozial ist, überhaupt nicht registriert. Luhmann hat sich als Soziologe daher
immer für unzuständig erklärt, wenn es um Bewusstsein, Körper, Maschinen oder Atome
geht. Nur Kommunikationen seien für den Soziologen beobachtbar, psychische, physische
oder organische Systeme aber kommunizierten nicht, sie "irritieren". Daher
bestehe auch die Gesellschaft keinesfalls "natural aus konkreten Menschen",
sondern aus Kommunikationen. Diese Formulierungen haben für Spott und Missverständnisse
gesorgt. Luhmanns tautologische und paradoxe Ausdrucksweise - "nur die Kommunikation
kommuniziert" - wurde belächelt und persifliert, auf den Ausschluss des Menschen
reagierte man mit Empörung, als wollte die Soziologie mit diesem Ausschluss des Menschen
aus ihrem Objektbereich auch gleich zu seiner Exekution schreiten.
Mit grösster Geduld und einiger Ironie verwies Luhmann diese Kritiker darauf, dass die
Systemtheorie "den Menschen" gerade dadurch ernst nehme, dass sie ihn aus der
Gesellschaft - und damit auch aus der Soziologie - ausschliesse. Denn der Mensch werde so
nicht auf ein paar Formeln reduziert und zur Trivialmaschine degradiert, wie dies in der
Tradition der Gesellschaftstheorien üblich ist, die immer genau zu wissen meinten, was er
sei, vom Zoon politikon bis zur wölfischen Bestie, vom guten Menschen bis zum hilflosen
Mängelwesen, um auf diesen Gewissheiten ihre Sozialentwürfe zu bauen. Luhmann zählt den
Menschen dagegen zur Umwelt der Gesellschaft. Er ist - wie manches andere - ihr Medium.
Vom Kopfschmerz, unter dessen "Irritation" Luhmann Jahrzehnte zu leiden hatte,
sagte er vieldeutig, dass er "all sein Denken muss begleiten können".
Damit war gemeint, dass weder der Schmerz mit dem Denken zusammenfalle, noch Objekt der
Soziologie sei. Das Bewusstsein beobachtet den Schmerz und versucht, ihn zu ignorieren -
und sollte die betroffene Person darüber schweigen, bliebe dies so lange unbemerkt, bis
dieses Leiden kommuniziert würde. Kopfschmerzen kommunizieren aber nicht selbst, sondern
werden zum Thema - sei es, indem man selbst sagt, dass sie das Denken (und nicht die
Kommunikation) ständig begleiten; sei es, indem andere aus der Aussensicht die These
gewinnen, einer müsse Kopfschmerzen haben, sonst würde er wohl nicht so oft die Augen
schliessen und seine Schläfen massieren. In der Beobachtung erhalten die Gesten den
Status einer Mitteilung, die darüber informiert, dass die Kopfschmerzen lästig werden,
und man bietet ein Aspirin an. Wenn dies angenommen wird, hat man wohl richtig
unterstellt, zumindest kann das in künftigen Kommunikationen vorausgesetzt werden - und
das reicht aus, was die Gesellschaft betrifft.
Klagen über die Kälte
Ob diese Unterstellung aber wirklich zutrifft, ist grundsätzlich ungewiss - denn die
Gesten könnten etwas ganz anderes oder gar nichts bedeuten und die Aussage, man habe
Kopfschmerzen, könnte zur Desinformation des Anderen gedacht sein, etwa um den Grund für
schlechte Laune auf den eigenen Körper zu schieben. Den Körper selbst oder das
Bewusstsein können Beobachter nicht unmittelbar befragen, sondern nur beobachten. Und
diese Beobachtung hängt nicht etwa von "den Fakten" ab, sondern von der eigenen
Verfahrensweise der Beobachter: "Jedes selbstreferentielle System hat nur den
Umweltkontakt, den es sich selbst ermöglicht." Nervenbahnen und Kognitionssysteme
zweier Körper kommunizieren nicht direkt miteinander - genau das macht Kommunikation erst
nötig. Nur Engel, die sich sprachlos verstehen, brauchen keine Gesellschaft, Individuen
dagegen sind operativ "berührungslos nebeneinander lebende Monaden".
Über die Kälte dieser These mag man klagen, gemeint ist bloss, dass niemand "im
anderen wahrnehmen oder denken" kann oder "Operationen produzieren könnte, die
nicht als eigene, sondern als die eines anderen erkennbar wären". Jedes System
produziert durch seine "operative Schliessung" eine "Differenz von System
und Umwelt". Der Beobachter, auch der Soziologe, sieht in seiner Umwelt nur, was
seine Operationen ihn sehen lassen, nicht mehr, nicht weniger. Wer anderes vorgibt, neigt
zum Totalitären. Luhmann, dem man in der "Zeit" einen "stoischen Rückzug
aus Praxis und Geschichte" vorgeworfen hat, attackierte mit Verve all jene Positionen
"der Einheit und der Autorität", die meinen, "die Welt, wie sie wirklich
ist, beschreiben und anderen von da aus mitteilen zu können, wie sie richtig zu denken
und zu handeln haben".
Es gebe aber keinen Ort in unserer Welt, an dem das möglich sei, denn jeder sehe immer
nur das, was er nach Massgabe von Kompetenz und Standort zu sehen vermag. Luhmanns Denken
erhält so eine kritische wie tolerante Note. Luhmann folgert für seine
Gesellschaftstheorie, auch sie müsse "sich damit begnügen, dass sie nur
Gesellschaftstheorie ist. Sie wird keine verbindliche Repräsentation mehr anerkennen,
sondern sich selbst - nicht nur die anderen! - in einer polykontextural konstituierten
Welt vorfinden." Wie immer brillant und schlüssig sie sich präsentiert, sie wird
zugestehen, dass es auch anders geht, und denen, die einen Standpunkt als Wahrheit
verkaufen, ihre Perspektivität vorhalten.
Wer immer die gewaltige Architektur der Systemtheorie mit den Bauten anderer Denker
vergleicht, wird dies nicht "objektiv" tun können, sondern als ein Beobachter
von vielen. Doch werden die Soziologen unter ihnen wohl darin übereinstimmen, dass dieses
Werk die Schwelle zum Millennium mit Leichtigkeit überschreiten und weit in das nächste
Jahrhundert hinein weiter wirken wird. Dafür stehen auch Luhmanns Schüler ein, die heute
in beinahe jeder akademischen Disziplin zu finden sind. |
|
|
|