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21.08.97


Der Kartograph der Weltgesellschaft

Zu Niklas Luhmanns Opus magnum "Die Gesellschaft der Gesellschaft"

Von seinen Kritikern wird der deutsche Soziologe Niklas Luhmann als abgehobener Supertheoretiker, Pseudo-Hegel oder Konservativer verteufelt. Nicht ganz zu Recht. In seinem neuen Buch, einer Summe seines Denkens, gibt sich der umstrittene Wissenschafter als Sachwalter der Toleranz und intellektuellen Bescheidenheit zu erkennen.

VON NIELS WERBER

Dreissig Jahre Forschungsarbeit waren nötig, unzählige Monographien und Aufsätze mussten ihr den Weg bereiten, nun ist sie erschienen: Mit Niklas Luhmanns "Gesellschaft der Gesellschaft" liegt nun die Gesellschaftstheorie des berühmtesten deutschen Soziologen vor. Der Titel seiner fast 1200 Seiten langen Summa sociologica wirkt befremdlich, man ist andere gewohnt. Von der Freizeit-, Verfassungs-, Konsum-, Risiko- oder Informationsgesellschaft haben wir schon gehört, von der "Gesellschaft der Gesellschaft" noch nicht.

Die Tautologie steht für Luhmanns entschiedene Distanzierung von gängigen Bindestrich-Soziologien, die nur einen Aspekt der Gesellschaft untersuchen, aber die Ergebnisse zur Gesamtschau aufblähen. Luhmann geht es nicht um Ausschnitte wie Wirtschaft, Recht oder Politik. Alles, was sozial ist, soll mit Rücksicht auf die Gesellschaft und ihre Evolution beschrieben werden.

Opposition unmöglich

Luhmann entwirft seine Theorie nicht als Kommentar (von Kommentatoren) der Klassiker des Fachs, wie dies sonst - nicht nur in der Soziologie - üblich ist. Er verschiebt nicht die Last des Denkens auf die Fachgeschichte, sondern will mit eigenen Mitteln überzeugen. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass jede Beschreibung der Gesellschaft nur "in der Gesellschaft" stattfindet. Anders als die "kritische" Soziologie annahm, gibt es keine "Opposition" gegen die Gesellschaft, da dies eine Aussenperspektive auf die Gesellschaft voraussetzen würde, und welcher Standort könnte der Soziologie einen solchen Blick gestatten? Überall, wo Soziologen reden, schreiben, lehren oder mahnen, ist Kommunikation und damit Gesellschaft. Auch die Soziologie kann nicht aus ihrer sozialen Haut.

Wenn die Soziologie ein Teil der Gesellschaft ist, und was sollte sie sonst sein, dann folgt daraus, dass sie in ihrem Beobachtungsbereich selbst enthalten ist. Dies ist nicht selbstverständlich, schliesslich sind Botaniker keine Bäume. Aber jede Gesellschaftstheorie muss berücksichtigen, "dass das Erkennen sozialer Systeme nicht nur durch seinen Gegenstand, sondern auch schon als Erkennen von sozialen Bedingungen abhängt". Die Beschreibung der Gesellschaft ist Teil der Gesellschaft - und verändert sie also. Jede soziologische Operation ist eine Kommunikation - und mithin Teil ihres Objektbereiches. Diese Selbstreferenz wird von dem Titel "Gesellschaft der Gesellschaft" ausgestellt. Der Soziologe muss genauso wissen, dass seine Beobachtungen das mitkonstruieren, was er beobachtet, wie die Physiker seit Heisenberg zu berücksichtigen haben, dass alle Messungen den Zustand dessen verändern, was gemessen werden soll.

Die Vorstellung, dass die Soziologie eine Menge von Sachverhalten "objektiv" - also unabhängig von einem beobachtenden "Subjekt" - beschreiben könnte, wird daher verabschiedet. Wo der Beobachter erster Ordnung "Natur und Notwendiges" wahrzunehmen meint, sieht die Soziologie "Konstruktionen über je verschiedenen Unterscheidungen. Ihre Beschreibung ist infolgedessen nicht notwendig, sondern kontingent, und nicht mit Bezug auf Natur richtig, sondern artifiziell." Was immer ein Beobachter sieht, sieht er dank den Unterscheidungen, die er verwendet; und man wird ihn fragen dürfen, warum er die Welt so (z. B. Unterschicht / Oberschicht) und nicht anders (z. B. Frauen / Männer, Mehrheiten / Minderheiten, Arbeit / Kapital etc.) anschneidet. Jeden Beobachter kann man derart beim Beobachten beobachten und ihm ein "Ich sehe was, was du nicht siehst" zurufen - nämlich den "blinden Fleck" seiner Beschreibung.

Wer dennoch für sich einen "archimedischen Punkt" der Weltbetrachtung reklamiert und so tut, als resultierten seine Beschreibungen nicht aus zufälligen Unterscheidungen, sondern aus der Natur der Dinge, ist "totalitär", denn alle von seiner "einzig wahren" Sicht abweichenden Beschreibungen gelten als falsch - was den Einsatz von Autorität, wenn nicht Gewalt, rechtfertigt, um all jene zu belehren, die mit anderen Unterscheidungen beobachten. Eine Theorie dagegen, die weiss, dass sie nur sieht, was sie sieht, und daher akzeptiert, dass es auch andere Beobachter gibt, tritt liberal auf. Diese von Luhmann beobachtungstheoretisch entworfene Toleranz darf aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Seiner Konkurrenz ruft Luhmann zu: "Macht es anders, aber mindestens ebenso gut!"

Wenn die "Beschreibung des Gesellschaftssystems nur im System, nur mit Mitteln des Systems und immer nur mit einem Bruchteil seiner Operationen erfolgen kann", dann kann diese Beschreibung nur eine Vereinfachung sein. Da sie die soziale Welt nicht zu verdoppeln vermag, steht die Soziologie unter einem Zwang zur Abstraktion - es kommt also darauf an, mit welchen Unterscheidungen sie Vielheiten auf Einheiten zurückführt und Einzelfälle generalisiert. Diese unvermeidliche Lage reflektiert Luhmanns Stil mit einer "Ausdrucksform", welche die "Unterkühltheit der theoretisch erzwungenen Abstraktionen" auf seine Leser wirken lässt und bisweilen überfordert. Dennoch liegt in der Abstraktion kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Auch eine Landkarte ist nur nützlich, wenn sie von beinahe allem absieht, was die Landschaft "wirklich" ausmacht, und Strassen in Striche verwandelt. Ohne diese Vereinfachung bekäme man selbst einen Stadtplan nicht mit ins Auto.

Keine Lebenshilfe

Bei Landkarten verkleinert sich der Massstab mit der Vergrösserung des kartographierten Gebiets: Ein Globus kann nicht die Details einer Wanderkarte bieten, und doch bildet der Rhein die Grenze zwischen Frankreich von Deutschland, egal, wie gross oder klein die Karte ist. Eine Theorie der Weltgesellschaft darf sich jede Abstraktion erlauben, doch wird sie nicht überzeugen, wenn sie nicht auch ins Detail zu zoomen vermag und dort mikrosoziologischen Halt findet. Luhmann stellt das Auflösevermögen seiner Theorie vielfach unter Beweis. Seiner Grundlagenforschung werden Studien zur historischen Semantik als Beleg an die Seite gestellt.

An Dokumenten aus Moral und Religion, Kunst und Liebe, Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Recht, an Exkursen zur Globalisierung oder zur Ghettobildung erläutert Luhmann seine Kernthesen zu Entstehung und Aufbau der modernen Gesellschaft und entfaltet eine Übersicht der wichtigsten Selbstbeschreibungsversuche der Gesellschaft von Platon bis zur Postmoderne. Besonders in diesen Studien zur Semantik im zweiten Teilband des Werkes findet der Laie einen guten Zugang zu Luhmanns Denken, da er hier auf Vertrautes stossen wird. Aber gerade an dieser Quellenarbeit fallen auch Luhmanns Innovationen besonders auf, da sie eine bisweilen radikale Neuformierung des Materials erzwingen. Beeindruckend ist jedenfalls die Fähigkeit, so viele "Diskurse" vieler Jahrhunderte im Rahmen einer Theorie aufeinander zu beziehen. Der Preis für dieses Auflösevermögen ist gewiss die Unterkühltheit des Stils, doch ist dies wohlfeil für differenzierungsfreudige Leser, die von der Gesellschaftstheorie weder Schlagwörter noch Lebenshilfe erwarten. Andere mögen jene "soziologischen Schriftsteller" lesen, die jedes Jahr die Gesellschaft auf ein neues, modisches Schlagwort reduzieren.


Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1997. 1164 Seiten, 2 Teilbände, kartoniert, zusammen 52.50 Fr.


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