zurück

Der Forscher, das Mikroskop, der Frosch

Humberto Maturanas Aufsatzsammlung "Die Biologie der Realität"

Von Niels Werber

Die Publikationen des Paradigmas sind bekannt: Die Kunst der Gesellschaft, Die Realität der Massenmedien, Die Wirklichkeit der Medien oder gar Die Gesellschaft der Gesellschaft. Was diese Bücher offensichtlich gemeinsam haben, ist der Genitiv im Titel. Dies ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Haltung. Im Lateinunterricht lernt man den genitivus subiectivus vom genitivus obiectivus zu unterscheiden: amor parentum kann die Liebe der Eltern (zu den Kindern) meinen oder auch das genaue Gegenteil: die Liebe (der Kinder) zu den Eltern. Die Medien sind Realität, und sie erzeugen selbst Realität. Wie Niklas Luhmann oder Siegfried Schmidt ist auch Humberto Maturana Lateiner und nennt seine Sammlung von Aufsätzen aus gut zwei Jahrzehnten Biologie der Realität.

Es gibt eine biologische Beschreibung der Realität und eine Realität der Biologie. Schließlich hat der Biologe, der die Sehnerven eines Frosches seziert und beschreibt, ebenfalls Augen. Die Biologie ist also selbst Teil ihres Objektbereiches und muß daher in ihrer eigenen Theorie vorkommen. Der Forscher darf daher nicht vom Mikroskop aufschauen und zufrieden die Wahrheit verkünden, daß die Weltwahrnehmung des Frosches weniger von der Fähigkeit seiner Retina abhängt, sich durch Außenreize stimulieren zu lassen, als von seiner internen neuronalen Aktivität; vielmehr muß er in seine Überlegungen einbeziehen, daß seine Wahrnehmung des Frosches nicht allein vom Frosch abhängt, sondern von der Art, wie sein eigenes Nervensystem arbeitet.

Maturana stellte sich diese Frage nach der Rolle des Beobachters beim Beobachten zuerst 1958, als er am Massachusetts Institute of Technology (M.I.T.) Frösche untersuchte. Seine These lautet, "daß wir Beobachter uns in unserer Erfahrung im Prozeß des Beobachtens ereignen, d. h. wir finden uns selbst vor als Beobachter im Prozeß des Beobachtens in dem Moment, in dem wir uns die Frage über unser Operieren als Beobachter im Prozeß des Beobachtens stellen". Einfacher formuliert: Die Realität des Beobachters (das Präparat im Miskroskop) ist die Realität des Beobachters, also seine Konstruktion. Maturana dreht die klassische Annahme um, daß der Erkenntnisprozeß eine Annäherung des Intellekts an die Dinge sei.

Aus diesem Grunde gelangt er zu der "ontologischen" Prämisse: "Die Logik jeder Beschreibung ist isomorph der Logik des Operierens des beschreibenden Systems." Nur Maturana konnte die Beobachtung machen, daß der Frosch nicht auf die "Dinge" in seiner Umwelt reagiert, sondern auf die eigene neuronale Aktivität; während andere Biologen, die nach dem Input-Output-Schema an den Frosch herangingen, zu ganz anderen Ergebnissen gelangten.

Die These über den Frosch verdankt ihre Logik also nicht der "Sache", dem Frosch, sondern dem System, das den "Frosch" im Vollzug seiner Operationen erzeugt. Was der Frosch ist, hängt vom Beobachter ab, der nur sieht, was er sehen kann, und nicht mehr. Die "Wissenschaft", so folgert Maturana konsequent, ist daher ein "Erklärungsbereich, der keine Annahme einer äußeren Realität erfordert". Die Wissenschaft hat es mit Beobachtern zu tun, die ihre Erfahrungen korrelieren, nicht mit den Sachen selbst. Observo ergo sum, könnte das Credo lauten.

Die zirkuläre Aufgabe, den Biologen in die Biologie, den Beobachter ins Beobachtete miteinzubeziehen, führt Maturana 1970 zur These von der Geschlossenheit des Nervensystems, die seitdem unter dem Schlagwort "Autopoiesis" Karriere gemacht hat. Autopoiesis, was übersetzt etwa Selbsterschöpfung heißen könnte, bedeutet, daß ein System die Elemente, aus denen es besteht, selbst reproduziert. "Die Organisation des Lebendigen ist jene Art der zirkulären Organisation, in der die Bestandteile, die sie bestimmen, eben diejenigen sind, deren Synthese oder Erhaltung die zirkuläre Organisation selbst garantiert." Die Elemente, aus denen es besteht, reproduziert es (auf der Basis seines Stoffwechsels) selbst. Die Bestandteile unseres Körpers bestehen nicht etwa aus importierten Nahrungsmitteln, sondern aus eigens (daraus) hergestellten Polymeren. Wenn der Organismus diese Elemente nicht mehr synthetisieren kann, lebt er nicht mehr, keine noch so leckere Mahlzeit vermag dann noch zu helfen.

An einer der wenigen Stellen der Aufsatzsammlung, die einigermaßen allgemeinverständlich ist, erläutert Maturana seine Theorie an einem berühmt gewordenen Beispiel: "Was in einem lebenden System vor sich geht, entspricht dem Geschehen bei einem Instrumentenflug, bei dem der Pilot keinen Zugang zur Außenwelt hat und lediglich als Regulator der durch seine Fluginstrumente angezeigten Werte fungieren darf. Seine Aufgabe ist es, eine bestimmte Abfolge der von seinen Instrumenten angezeigten Meßwerte einzuhalten. Der Pilot, der sein Flugzeug verläßt, ist erstaunt darüber, daß ihm seine Freunde zu perfektem Flug und perfekter Landung gratulieren, die er in absoluter Dunkelheit ausgeführt hat. Er fühlt sich verwirrt, da er seinem Wissen nach in jedem einzelnen Zeitpunkt nichts anderes getan hat, als die von seinen Instrumenten angezeigten Werte innerhalb bestimmter Grenzen zu halten."

Die Freunde des Piloten sind natürlich jene naiven Beobachter, die glauben, daß ein Lebewesen kausal auf bestimmte Umweltreize reagiert, obwohl es sich ganz auf interne Errechnungen seiner Bordmittel verlassen muß. Wenn diese Bordmittel allerdings nichts taugen, stürzt das Flugzeug ab, die Spezies stirbt aus. Der Verlauf der Evolution hat dafür gesorgt, daß diejenigen autopoietischen Systeme (über-)leben, deren interne Berechnungen den externen Umständen nicht unangemessen, sondern "viabel" sind. Die naiven Freunde, die von der verblüffenden "Anpassung" des Systems an seine Umwelt sprechen oder Gott für die gütige Vorwegkoordination danken, haben nicht gesehen, wie viele Flugzeuge an den Klippen zerschellt oder ins Meer gestürzt sind. In Serie geht natürlich nur der Typ, den ihr Freund, der Pilot, geflogen ist.

Maturana versucht zu zeigen, wie das Leben neue Möglichkeiten findet, zu leben. Die Evolution hat schließlich zu sprachbegabten und gesellschaftsfähigen Wesen geführt, deren Umgangsformen (Kultur) selbst evoluieren und zu einer Biologie geführt haben, die uns dies erklären will. Diese Evolution ist also letztlich ein biologischer Vorgang, daher unternimmt Maturana es, als Biologe über den Menschen, seine Sprache und seine Gesellschaft zu schreiben. Dies führt bisweilen zu interessanten Beobachtungen, etwa zu einer intelligenten Sprachtheorie, oftmals aber auch zu eher bizarren Vermutungen: zur Herleitung der Gesellschaft aus der "biologischen" Grundemotion der Liebe, zur Auffassung der Arbeitswelt und des Rechtssystems als "nichtsoziale Gemeinschaften", zur biologischen Kritik der Heuchelei, zu der These, daß es ohne "Liebe und Aufrichtigkeit" nie zum evolutionären Quantensprung des Primaten zum Menschen gekommen sei oder zur Beschränkung der Gesellschaft auf die Interaktion körperlich Anwesender.

Auf der Grundlage einer biologischen Theorie des Menschen eine Typologie von "Systemen" des "Zusammenlebens" zu erstellen und die Einzeltypen auf die ihnen zugrundeliegenden "Emotionen" der "Liebe", der "Verpflichtung" und der "Selbstverleugnung" zurückzuführen, wirkt angesichts der Komplexität soziologischer Theorien etwas schlicht. Maturanas beeindruckende Plädoyers für ein "Handeln in Liebe", die fast jeden Aufsatz beschließen, knüpften an seine Biologie allenfalls rhetorisch an. Weitere Kritik ist müßig, sie füllt längst Sammelbände.

Warum könnte sich also die Lektüre eines sachlich schwierigen, oft kontraintuitiven und stilistisch fast durchweg holprigen Buches eines Neurobiologen lohnen? Maturana führt erstmals einen Denkstil und ein Vokabular ein, das mittlerweile das gesamte Feld des Konstruktivismus beherrscht. Hier läßt sich nachlesen, auf welche "naturwissenschaftlichen" Grundlagen man sich dort beruft.

Humberto R. Maturana: Biologie der Realität. Aus dem Englischen von Wolfram K. Köck. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 390 Seiten, 68 DM.

 

[ dokument info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 29.01.1999 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 30.01.1999

 

zurück