Partei der permanenten Revision

Das tägliche Update als Regel: Wie der Bundeskanzler die Sozialdemokratie den Gegebenheiten anpasst

Von Niels Werber

Programme haben eine immer kürzere Haltbarkeit. Windows 95, so lautet ein alter Scherz der Softwarebranche, trug das Verfallsdatum im eigenen Namen. Nur drei Jahre später kam Windows 98, und schon jetzt erwartet uns die Version 2000. Neue Technologien und neue Ansprüche der Benutzer werden als Grund genannt für diese permanente Programmrevolution, die hinter den immer gleichen Desktops der Bildschirmoberflächen die Software immer wieder auf die gerade aktuellen Möglichkeiten der Hardware und Wünsche der Wetware anpassen. Wenn, wie Bill Gates es sich wünscht, alle seine Kunden von Microsoft online versorgt und ihre automatisch erstellten Profile bis in das letzte Spezialinteresse hinein individualisiert sein werden, wird das monatliche oder gar tägliche Update zur Regel werden.

Das Godesberger Programm

Obwohl Gerhard Schröder bereits mit Gates zusammengetroffen ist, um sich über die Zukunft der Weltgesellschaft zu informieren, verblüfft es doch, dass die "Neue Mitte" zu versuchen scheint, die Programmierung der SPD denselben Regeln der Beschleunigung und Individualisierung zu unterwerfen. Das Godesberger Programm von 1959 gab der Partei für Jahrzehnte Kontur, das Grundsatzprogramm von 1989 wurde bereits im April 1998 überarbeitet und soll jetzt, nur ein Jahr später, erneut in die Revision gehen. Schröder hat in dem gemeinsam mit Tony Blair verfassten Papier den Anstoß dazu gegeben, und zumindest die Youngster in der SPD begrüßen die neue "Debatte um ein neues Grundsatzprogramm". Das Schröder-Blair-Papier hat schon im Juni für böses Blut gesorgt und die Parteilinien polarisiert. Seitdem steht der Vorwurf der "Grundsatzlosigkeit" im Raum; dem "Modernisierer" Schröder sei keine sozialdemokratische Kuh so heilig, als dass er sie nicht seiner Selbstdarstellung opfern würde.

Diese Kritik setzt allerdings voraus, dass die SPD tatsächlich über scharf konturierte "Grundsätze" verfügt, die zu verletzen wären. "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des Demokratischen Sozialismus. Sie sind unser Kriterium für die Beurteilung der politischen Wirklichkeit, Maßstab für eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft und zugleich Orientierung für das Handeln". Das "Grundsatzprogramm" vom April 98 zeigt sich nicht nur der sozialdemokratischen "Werte" gewiss, sondern gelangt auch an ihrem "Maßstab" zur Beurteilung der Lage. Internatio- nale Konzerne, Großbanken und die Globalisierung werden als Verantwortliche dafür ausgemacht, dass die "neue und bessere Ordnung" immer noch nicht begonnen hat, sondern im Gegenteil der Norden den Süden ausbeutet, die Reichen die Armen für sich arbeiten lassen und eine Elite essich auf Kosten der Natur, der Zukunft und der Schwachen gut gehen lässt. "Die Konzentration wirtschaftlicher Macht in immer weniger Händen scheint unaufhaltsam, der weltweite Wettlauf um Märkte und knappe Hilfsquellen unvermeidlich zu sein. In immer kürzerer Zeit bewegen sich Kapitalströme um den Erdball. Gigantische multinationale Konzerne planen ihre Gewinnstrategien weltweit, unterlaufen demokratische Kontrollen und erzwingen politische Entscheidungen. Expansionsmacht und Gewinnstreben schaffen gewaltigen Reichtum, erniedrigen aber gleichzeitig unzählige Menschen und ganze Nationen."

Der Feind ist stark, doch nicht unbesiegbar: "Gegenmacht entsteht, wo sich Staaten erfolgreich zu regionalen Gemeinschaften zusammenschließen und Gewerkschaften nationale Grenzen überwinden." Die SPD versteht sich 1998 programmatisch als die Partei, die diese "Gegenmacht" politisch organisiert und den Mächten entgegenführen wird. Ihr Staatsverständnis ist das eines Kontrolleurs, der die ungezügelten Kräfte des Kapitalismus solange eindämmt, bis er abstirbt: "Es ist die historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig." Soweit dies das Programm ist, dann kann weder überraschen, dass Schröder es verraten haben soll, noch die Behauptung erstaunen, die SPD sei völlig unvorbereitet an die Macht gekommen. Schröder und Blair rütteln selbstverständlich nicht an den "Grundwerten" der Sozialdemokratie, im Gegenteil, "diese Werte sind zeitlos", heißt es, wir werden "sie nie preisgeben". Diese ostentativ beschworene "Treue zu unseren Werten" belegt aber nur ihre Belanglosigkeit für das politische Geschäft.

Der Preis für ihre Zeitlosigkeit ist ihr Bedeutungsverlust für die Gegenwart. Die "eigentümlich unverbindliche Verbindlichkeit der Werte" (Niklas Luhmann) ermöglicht es nahezu jedermann in jeder Situation sich auf Werte zu berufen, um so Zustimmung abzurufen. Da Werte "zeitlos" und "unverbindlich" sind, kann man an ihnen allen Zeitläuften zum Trotz festhalten, ohne deswegen als lernunfähig zu gelten. Die Rhetorik der Werte vermag nicht nur beinahe beliebige Entscheidungen als wertvoll auszugeben, sie suggeriert zudem eine Konstanz politischer Entscheidungsfindung, obwohl alle Parteien diese Beständigkeit im Alltag längst verloren haben. Von einem Programm, das jede politische Entscheidung einer Partei motivieren und orientieren würde, kann kaum die Rede sein, weshalb man um so lieber von Werten spricht, die nach Belieben als erreicht oder noch nicht erreicht bezeichnet werden können: die Steuerreform ist solidarisch und unsolidarisch, "grundsätzlich" gerecht und noch nicht gerecht genug, wie man will. Überprüfen lassen sich solche Befunde nicht, ohne wiederum auf Werte zurückzugreifen, an denen es glücklicherweise nicht mangelt.

Hinter der Kosmetik der Werte (Gleichheit, Solidarität, Freiheit) betreibt das Schröder-Blair-Papier eine Destruktion dauerhafter Programme zugunsten flexibler und schneller Reaktionen. Der kritische Verweis auf ein immer schon veraltetes Parteiprogramm, in dem hier oder dort etwas anderes gefordert werde, gilt ihnen als obsolet. "Ein moderner Staat muss Dienstleister sein", fordern die Youngster der SPD, Blair und Schröder erläutern die Konsequenzen: "Dienstleistungen kann man nicht auf Lager halten: Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht". Für Partei und Regierung in der "Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft" erfordert dies hohe "Flexibilität", schnelle "Anpassungsfähigkeit" und die Bereitschaft zum Wandel. "Rigidität" - und darunter fiele das dauerhafte Festhalten an Programmen - sei fehl am Platze. Im Zeitalter globaler Märkte und lichtschneller Kommunikation fordert Schröder von der Politik die gleiche Bereitschaft zur "kontinuierlichen Verbesserung" wie das Qualitätsmanagement von VW von der Autoproduktion. "Unter den Vorzeichen der Globalisierung verändert sich heute die ökonomische Basis in weit rasanterem Tempo als je zuvor. Der bahnbrechende Wandel, vor allem in den Informations- und Kommunikationstechniken, bestimmt nicht nur Weltwirtschaft und Welthandel. Er wirkt auch hinein in unseren wirtschaftlichen Alltag, in unsere Arbeits- und Sozialverhältnisse", stellte Schröder vor dem Plenum des Deutschen Bundestages am 16. Juni 1999 fest. Die Globalisierung wirkt auch hinein in den Alltag der Regierungspolitik, ihr Tempo lässt Programme so schnell veralten wie PC-Software.

Norbert Bolz zufolge wirkten in der Politik "Inhalte und Programme immer mehr als störende Trägheitsmomente", (in seinem eben erschienenen Buch Die Konformisten des Andersseins) gefragt sei dagegen "Opportunismus" als "Sinn für die günstige Gelegenheit", als "Anpassungsfähigkeit" an unvorhersehbare "Entwicklungen" in "Echtzeit". Schröder und Blair haben das längst erkannt und auf den "wahren Weg" verzichtet, der durch alle Fährnisse und Widerstände zu verfolgen wäre, um sich mit "Viabilität" zu begnügen (Bolz), der Kunst der Anpassung. Wie Bill Gates sehen Blair und Schröder in der "Arbeitslosigkeit" eine "Chance" neues und anderes zu lernen. Deshalb verspricht das "Sofortprogramm für Arbeit und Ausbildung" auch 100.000 Jugendlichen keinen Beruf, sondern "einen neuen Job", den man definitionsgemäß nur für kurze Zeit ausübt, um dann in einen anderen zu wechseln. Auf jeden neuen Job folgen neue "Bildungs- und Ausbildungsprogramme", welche die "Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit im späteren Leben" durch je zeitgemäße Reprogrammierung fördern. Das alte "Sicherheitsnetz aus Ansprüchen" soll so in ein "Sprungbrett" der Tüchtigen verwandelt werden. Die sich rasant verändernden Verhältnisse erfordern von jedem Leistungsträger die lebenslange Anpassung durch lebenslanges Lernen.

Anpassung an den Wandel

Das Ideal des Menschen entspricht so genau dem seiner liebsten Maschine, dem selbstlernenden Computer, dessen kontinuierliche Neujustierung auf die veränderten Anforderungen allein rechtfertigt, dass er nicht durch ein neues Modell ausgetauscht wird. Der Arbeiter der Zukunft findet hier sein Vorbild. "Anpassung an den Wandel ist nie einfach, und der Wandel scheint sich schneller zu vollziehen als je zuvor, nicht zuletzt aufgrund der Auswirkungen neuer Technologien." Rasch muß alles allem angepasst werden. Zu tun, was getan werden muss, wird zur opportunistischen Pflicht. "Wir erwarten, daß jeder die ihm gebotenen Chancen annimmt". Wer hier nicht mitspielt, erhält seine letzte Chance im eigens zu schaffenden "Sektor mit niedrigen Löhnen". Wehe dem, der hier kein Sprungbrett zu finden vermag. Auch die Reform des "Steuer- und Sozialleistungssystems" wird dafür sorgen, daß "sich Arbeit für den einzelnen und die Familie lohnt". Dieses Versprechen lässt sich auch durch die Senkung der Sozialleistungen einhalten, Eichels Sparpaket scheint mit diesen Ankündigungen bereits ernst zu machen. Konsequent fordern die "Zukunftsentwürfe" Blairs und Schröders die unablässige Neuprogrammierung und "Modernisierung" auch von sich selbst. "Wir stellen unsere Ideen als einen Entwurf vor, nicht als abgeschlossenes Programm." Ein "Netzwerk von Fachleuten, Vor-Denkern, politischen Foren und Diskussionsrunden" werde "das Konzept der Neuen Mitte und des Dritten Weges ständig weiter entwickeln" und neu anpassen.

Die ewige Programm-Diskussion in der SPD bestätigt den Weg ihres Vorsitzenden. Schröders Gegner werden diesen programmatischen Verzicht auf Programme Opportunismus nennen, seine Freunde werden von Pragmatismus sprechen. In beiden Fällen ist eine Politik gemeint, die nur noch in der Gegenwart operiert, Gelegenheiten ergreift und sich in ihren täglichen Reaktionen den veränderten Bedingungen anpasst. Globalisierung und Beschleunigung, deren Kontrolle Schröder nicht mehr für möglich hält, lassen gar nichts anderes mehr zu als Entscheidungen im kleinsten Zeithorizont. "Versprechen", die vier Jahre lang gelten könnten, oder Programme, die über mehrere Jahre durchgehalten würden, haben in einer kurzfristig und flexibel reagierenden Politik keinen Platz mehr. "Gerade aus Modernität und Realitätsgerechtigkeit", so Bolz, "hat Politik heute keine Visionen und Programme mehr". Die Schrödersche Politik könnte eine solche Politik sein, die das tägliche Update zur Regel macht. Ihre Benutzerfreundlichkeit wird über ihren Erfolg entscheiden.

Zum Thema erschienen auf diesen Seiten zuletzt Beiträge von Michael Rutschky (24. 8.) und Norbert Bolz (26.8.)

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 1999
Dokument erstellt am 03.09.1999 um 20.46 Uhr
Erscheinungsdatum 04.09.1999