Vehikel des inneren Friedens

Überschätzung des Politischen: Mit ihrem Engagement für das "moderne Staatsangehörigkeitsrecht" zeigen Bündnis90/Die Grünen, daß ausgerechnet sie der Macht des Staates vertrauen, während die Union auf die pluralen Kräfte der Gesellschaft setzt   Von Niels Werber

Bislang fiel es immer leicht, die Grünen zu wählen. Man konnte die Eltern damit ärgen, Umweltbewußtsein ausflaggen, die Apokalypse (Ozon-Loch, Super-Gau...) ein wenig aufhalten helfen, Solidarität mit Minoritäten aller Art demonstrieren oder einfach "dagegen" sein: gegen Kohl, gegen "das System", gegen den Golfkrieg...

Grün zu wählen, verschaffte auf die einfachste Weise der Welt das angenehme Bewußtsein, zu den fortschrittlichen und kritischen Kräften zu zählen. Die Grünen, die in der Opposition völlig fraglos - denn wer las denn schon wirklich Parteiprogramme - als "innovative Adresse" galten, müssen sich nach der verblüffenden Wahlniederlage in Hessen von Daniel Cohn-Bendit sagen lassen, daß sie diesen Stammplatz verloren haben: "Im Hinblick auf die Zukunft sind die Grünen leider nicht mehr erste Adresse".

Aber warum sind nach Trittins entschiedenem Einsatz für den Atomausstieg und dem entschlossenen Willen zur doppelten Integration der Ausländer ausgerechnet die grünen Stammwähler zu Hause geblieben? Warum haben die bislang so grünenfreundlichen Jungwähler lieber rot oder schwarz gewählt? Warum hat die schnell als ausländerfeindlich, konservativ oder gar völkisch diffamierte Kampagne der CDU gegen den "Doppelpaß" nicht erwartungsgemäß das grüne Wählerpotential mobilisiert, wie vor der Wahl selbst große Teile des CDU-Präsidiums zu befürchten schienen?

Dies könnte daran liegen, daß es für die älter und wohlhabender gewordenen Stammwähler der Grünen zwar bis 98 "sexy" war, "dagegen" oder für den Wechsel zu sein - aus "ästhetischen Gründen" versteht sich -, die jetzt nötige Unterstützung von Regierungspolitik aber unattraktiv erscheint. Die Grünen hatten gehofft, die WählerInnen würden ein "modernes Staatsangehörigkeitsrecht" als irreversiblen Schritt in die "Multikulturalität" honorieren - vergeblich. Jetzt darüber zu lamentieren, die WählerInnen seien konservativ geworden, wäre allerdings undankbar, denn schließlich wählen mittlerweile viele grün allein aus Tradition, aus Gründen der Kontinuität der Selbstbeschreibung. Unangenehm drängt sich die Frage auf, ob es darüber hinaus Gründe dafür gegeben hat, in Hessen nicht wie üblich grün zu wählen.

Regierung, Opposition - ein Unterschied?

In den Massenmedien wurde die Debatte auf die schlichte Alternative "für oder gegen den Doppelpaß" zugespitzt - und dies völlig zu Recht, denn die Unterschiede zwischen dem am 12. Januar verabschiedeten Papier "Integration und Toleranz" der CDU/CSU- Bundestagsfraktion, das unter der Federführung von Jürgen Rüttgers erarbeitet wurde, sowie der unter dem Titel "Demokratie braucht Integration" publizierten Verlautbarung der Bündnisgrünen und dem von Bundesinnenminister Otto Schily vorgestellten "Arbeitsentwurf für ein Gesetz zur Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts" vom 13. Januar sind ansonsten marginal.

So spricht sich beispielsweise das Rüttgers-Papier aus für eine erhebliche Ausweitung der Sprachprogramme für Ausländer, für eine möglichst frühe Zusammenführung der ausländischen Familien (Nachzug der Kinder und Ehepartner), für eine Stärkung der schulischen Ausbildung ausländischer Kinder und für einen Ausbau zweisprachiger Züge an weiterführenden Schulen, für eine bessere Qualifikation junger ausländischer Arbeitsuchender durch Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, für die Förderung ausländischer Existenzgründungen in Deutschland, für die Einstellung von Polizeibeamten ausländischer Herkunft, für islamischen Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, für eine Einbürgerungszusicherung für hier geborene Ausländerkinder, für einen Einbürgerungsanspruch langfristig hier lebender Ausländer nach zehn Jahren oder gegen Ghettoisierung.

Regierung, Opposition, where's the difference? Nun, die Union ist anders als die Koalition der Ansicht, die geplante "Halbierung der Ehebestandszeit von derzeit 4 auf künftig 2 Jahre würde das Problem von Scheinehen bzw. Scheinheiraten verschärfen". Aber reicht das für die Behauptung aus, die Union sei gegen die "Integration der auf Dauer bei uns lebenden ZuwandererInnen", sie mache "gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts mobil" und schüre vorsätzlich "ausländerfeindliche Stimmungen"? Und umgekehrt: die plakativ zur Schau getragene Befürchtung der Union, die Reform führe zu erheblicher Zuwanderung und überdies von Staatsbürgern zweifelhafter Loyalität, erscheint völlig unbegründet, denn Otto Schilys Gesetzesentwurf sieht vor, daß nur jene Ausländer eingebürgert werden können, die schon seit langem und "rechtmäßig" ihren Aufenthalt im Inland haben, die deutsche Sprache beherrschen und an ihrer "strikten Loyalität gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung" keinen Zweifel aufkommen lassen.

Die Forderung der CDU, daß der deutsche Paß erst am Ende eines Integrationsprozesses stehen dürfe, erfährt hier vorab volle Berücksichtung. "Inländer und Ausländer trennt in erster Linie der Paß", stellt das Innenministerium fest, weshalb sich wohl ohne zu übertreiben sagen läßt, daß die "Ausländer", die Schily per Gesetz zu "Inländern" machen will, bereits integriert sind. Sie benötigen nur noch einen Paß, zu dem sie nun leichter kommen sollen als vorher, weil "Mehrstaatigkeit hingenommen wird". Zur Polarisierung zwischen Regierung und Opposition taugt allein die Frage der doppelten Staatsangehörigkeit. Dafür oder dagegen?

Integration - in Staat oder Gesellschaft

Die Bündnisgrünen zeigen sich überzeugt, daß Deutschland endlich "ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht" erhalte, "das sich nach jahrzehntelangem Einzelgängertum an die Systeme in den wichtigsten Demokratien Europas und in Übersee angleicht." Die Reform holt wieder einmal eine Verspätung gegenüber den "wichtigsten" Demokratien der Welt auf. Erklärtes "Ziel dieses neuen Rechts ist die Integration der Menschen ausländischer Herkunft in die Gesellschaft." Bei den Kriterien für die Einbürgerung fällt auf, daß auf inhaltliche Kriterien, die mit dem Konzept der "Staatsbürgerschaft" einhergehen, weitgehend zugunsten des rein formalen Kriteriums der Aufenthaltsdauer verzichtet wird. Obwohl die Grünen vom "Staatsbürgerschaftsrecht" und einem "Staatsbürgerschaftsgesetz" sprechen und damit an Reichweite und Gehalt der englischen und französichen Begriffe citizen und citoyen anschließen wollen, wird tatsächlich ein "Staatsangehörigkeitsrecht" formuliert, das seiner rechtlichen Substanz nach allein das Verhältnis einer Person zum Staat regelt, keinesfalls aber ihre "Integration in die Gesellschaft".

Doch gerade von dieser Unterstellung, daß die Staatsangehörigkeit eine Person auch in die Gesellschaft einfügt, geht die grüne Programmatik aus, und deshalb sei "die doppelte Staatsbürgerschaft das notwendige Vehikel zur Schaffung des inneren Friedens der Gesellschaft durch Integration." Diese Überzeugung, daß die formale Inklusion in den Staat das Problem der substantiellen Integration in die Gesellschaft löst, offenbart einen erstaunlichen Glauben der Grünen an die Allmacht des Staates.

Rudolf Stichweh hat in der jüngsten Nummer des Berliner Journals für Soziologie (4/98) auf diese "Überschätzung der Politik" hingewiesen. Der Staat habe längst seine Kraft verloren, allein durch die Vergabe von Rechten an die Bewohner seines Territoriums Bindungseffekte zu erzielen. Personen würden vielmehr von diversen "Funktionssystemen der modernen Gesellschaft" und ihren Organisationen inkludiert - und genau dieses plurale Modell der Integration in die Gesellschaft scheint das Rüttgers-Papier zu prägen. Mitbürger ausländischer Herkunft würden nicht durch einen deutschen Paß, noch durch einen "Doppelpaß" in die hiesige Gesellschaft eingebunden, sondern genauso wie alle anderen auch: durch das Durchlaufen vielfacher Karrieren in Schulen und Bildungseinrichtungen, an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, beim Ableisten des Wehr- und Zivildienstes, als Mitglied in Vereinen, Parteien und Kirchengemeinden, als Bürger in Nachbarschaften und Gemeinden, als Empfänger wohlerworbener Ansprüche an Versicherungen etc. All diese Karrieren folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten, auf die der Staat nur geringen Einfluß ausüben kann.

Daß ausgerechnet die Grünen der Macht des Staates vertrauen, während die Union auf die pluralen Kräfte der Gesellschaft setzt, mag auch daran liegen, daß die einen Machthaber geworden sind, während die anderen sich jäh mit einem begrenzten Einfluß auf politische Entscheidungen begnügen müssen. Aber ganz abgesehen davon, daß ein dezidierter Etatismus gerade grüne Wähler eher verschrecken wird, regiert die Koalition faktisch zwar den Staat, nicht aber die Gesellschaft. Die CDU weiß dies bereits, die Grünen müssen es noch lernen.

taz Nr. 5775 vom 2.3.1999 Seite 15 Kultur 277 Zeilen
TAZ-Bericht Niels Werber
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