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Woran K. scheitert

Eine Bochumer Tagung über "Strukturen der Gewalt"

Von Niels Werber

BOCHUM. In Franz Kafkas Roman Das Schloß (1922) hört die Hauptfigur K. nur mit größter Verachtung von einer Familie sprechen, die eine der angesehensten im Dorf gewesen, nun aber "ganz ausgeschaltet" ist. Die jüngste Tochter der Familie hatte vor Jahren ein unzüchtiges Angebot eines hohen Schloßbeamten abgelehnt, als "Strafe" folgte die effektive Isolierung der gesamten Familie durch das Dorf, nicht aus "Feindseligkeit", wie ein Opfer der Sippenhaft, Olga, erzählt, sondern aus "Pflicht". Den Wohlstand der Familie eignen sich andere an; von Verwandten "im geheimen" dürftig unterstützt, siechen die Eltern dahin; die ältere Tochter beschafft als Prostituierte von Knechten weniges Geld.

Anlaß dieser "Bestrafung" ist die Weigerung Amalias, dem Ruf ins Bett des Beamten sogleich zu folgen. Die Feme wird exekutiert ohne amtliche "Weisung" aus dem Schloß, ohne Verfahren. Nichts findet sich in den "Protokollen" der Schloßadministration; die Dorfgemeinschaft vollzieht die Bestrafung, ohne daß dazu eine Aufforderung nötig wäre, eben aus "Pflicht". Die Verantwortung für die Ausschaltung der Familie wird aber dem Schloß zugeschrieben, von dem "alles ausgeht"; die Dorfbewohner agieren ohne subjektiven bösen Willen, jeder handelt einfach so, wie die anderen auch. Am Ende ist die "unschuldige Familie" vernichtet: ihr Name "wurde nie mehr genannt".

Wer ist verantwortlich für diese Gewalt? Das Dorf straft ohne Weisung, beruft sich aber auf den Willen des Schlosses. Im Schloß dagegen wird alle Verantwortung abgewiesen, ein "Eingriff eines amtlichen Organs" habe nicht stattgefunden. Die Frage nach Schuld und Recht bestimmter Personen zielt ins Leere. Die Gewalt scheint unzurechenbar zu sein, aber wenn die Opfer unübersehbar sind, muß es da nicht Täter geben? Kafka schlägt eine überraschende Antwort vor: nicht einzelne Personen, sondern die Machtstruktur selbst sei nach den Ursachen zu befragen. Nicht ein böser Beamter habe seine Macht mißbraucht, sondern der "behördliche Apparat" fälle "ohne Mithilfe der Beamten" seine "Entscheidungen" ganz aus "sich selbst heraus". Die wirksame Gewalt gegen die namenlose Familie wäre ein Resultat der Emergenz des Schloßsystems. Der "Intentionalist" K., der einzelne Beamte für verantwortlich und daher für "böse" hält, scheitert mit seinen Beschreibungsversuchen an einem System, das "beliebige" Beamte für "beliebige" Zwecke einsetzt.

Kafkas Frage nach den Strukturen kollektiver Gewalt ging eine gleichnamige Tagung nach, zu der Bernhard Waldenfels und das von Mihran Dabag gegründete Institut für Diaspora- und Genozidforschung eingeladen haben. Der Historiker Hans Mommsen warnte vor der "Flucht in die Welt der einfachen Erklärungen", welche die Reduktion der Schuldfrage auf einzelne Personen und deren Intentionen erkennen lasse. Die Vorstellung, es habe im NS-System eine ununterbrochene Befehlskette vom Führer über seine Vasallen und Unterführer bis zum letzten Schergen gegeben, sei illusorisch, vielmehr sei die Massenvernichtung ein Phänomen der "kumulativen Radikalisierung", deren Gründe nicht in einem "Führerbefehl" zu suchen seien, sondern in der systemischen Struktur der damaligen Gesellschaft, vor allem auch im Plural rivalisierender Organisationen und Institutionen des NS-Staates, deren partikulare Interessen nur in der Utopie des Endziels fiktiv ausgeglichen werden konnten.

Während Daniel Goldhagen in seinem umstrittenen Buch die Gründe für die barbarische Gewalt gegen Juden in der emotionalen und ideologischen Lage der einzelnen Täter gefunden habe, deren Hassbereitschaft sie zu Hitlers willigen Vollstreckern machte, zeigte sich Mommsen überzeugt davon, daß die meisten unter anderen Umständen nie auffällig geworden wären. Die richtige Frage sei daher nicht die nach den Intentionen der Täter, sondern nach den Strukturen des Systems, das den Abbau jeder "moralischer und moralanaloger Hemmungen" der Täter und den "Amoklauf" der Vernichtung ermöglicht habe. Kafkas Roman, der den Blick von der persönlichen Schuld von Personen auf die namenlosen Beschlüsse der Bürokratie selbst zu richten empfiehlt, könnte als Kronzeuge dieser "funktionalistischen" Geschichtsschreibung angeführt werden.

Das Schloß beschreibt aber nicht allein "objektivistisch" die Funktionsweise eines modernen Machtsystems, sondern gibt auch den Opfern eine Stimme. Was aus der Sicht der behördlichen Apparate bloß ein anonymer "Fall" ist, gewinnt aus der Perspektive Olgas den Charakter einer einzigartigen Familiengeschichte. Der Funktionalismus ignoriert zugunsten einer Beschreibung des Systems die individuelle Erfahrung seiner Opfer, deren Einzigartigkeit sich allerdings dann, wenn sie in "Erinnerungserzählungen" (Dabag) mitgeteilt wird, sich vorgeprägter narrativer Muster bedient, wie am Beispiel von Aufzeichnungen armenischer Überlebender (Kristin Platt), aber auch am Literaturprojekt des Buchenwald-Insassen Jorge Semprun (Stefan Hesper) deutlich wurde. Auf der Bochumer Tagung trafen beide Positionen aufeinander, und es schien, als ob sich diese Konfrontation daran ausrichtete, ob das allgemeine "Tätersystem" oder die singuläre "Opfererfahrung" die primäre Referenz der Analyse darstellte.

So wurde dem stringenten Vortrag von Ulrich Bröckling (Freiburg) über die historisch wechselnden Formen der militärischen Erzeugung von Gewaltbereitschaft, die von der Mechanik des körperlichen Drills über die patriotische Mobilisierung der Leidenschaften bis zum kybernetischen Typus des High-Tech-Kriegers verfolgt wurde, vor allem entgegen gehalten, daß der "Objektivismus" der Gehorsamsproduktion jeder Hinweis auf die "Individualität" der Motive und Erfahrungen der Soldaten entbehre. Wie aber soll man die distanzierte Beschreibung der Mechanismen der Gewaltproduktion unterlaufen, deren Funktionalismus man vorgeworfen hat, er entschulde die eigentlich Verantwortlichen? Bernhard Waldenfels bestimmte Gewalt als Verletzung, die "jemandem etwas antut". Gewalt sei ein Appell, der einen Adressaten habe, ein Dativ, der jemanden anspreche. Dieser Jemand werde aber von der Gewalt in "etwas" verwandelt, in eine Sache, die man dann "zerstören" kann. Wer dem Anderen dagegen als Jemand ins Anlitz schaue, vermöge sich des ethischen Appells nicht zu entziehen, ihn nicht zu verletzten, es sei denn, der Täter sei "moralisch blind" oder ein Teufel.

Dieser Überlegung des frühen Levinas folgte explizit Antje Kapust (Bochum), die auf die seit der Antike immer wiederkehrenden Mechanismen aufmerksam machte, den Anderen aus einem verletzlichen Menschen in ein Tier, einen Feind, eine Ware, einen Gegenstand zu verwandeln, so daß der Andere übersehen und die Gewalt ausgeübt werden könne. Zahllose Traumatisierungen weisen darauf hin, daß Täter zwar den leidenden Menschen ausblenden, aber trotz mannigfaltiger Strategien der Pervertierung des Anderen in eine Sache sein Anlitz nicht vollständig übersehen haben. Diese Überzeugung legt es nahe, "objektivistische" Ansätze, welche soziale Möglichkeitsbedingungen der Gewalt untersuchen, als Theorien zu kritisieren, welche die Opfern nicht als Individuen behandeln, sondern als Fall, an dem nicht das Singuläre, sondern gerade das Generalisierbare von Belang ist.

Uwe Dreisholtkamp trat allen Verallgemeinerungen mit der Überzeugung entgegen, daß die Einzigartigkeit jeder Gewaltsamkeit sich der Singularität des Anderen verdanke, dessen Anspruch verletzt werde. Das Opfer etwa nur statistisch zu erfassen, sei dem Opfer als Selbstbeschreibung völlig unzumutbar. Vielmehr sei, so Waldenfels, die Erfahrung jeder Verletzung zur Sprache zu bringen. Der Appell der Gewalt richte sich auch an den Zuschauer, der immer involviert sei, da er Hilfe leisten oder dies unterlassen könne. Der systemtheoretische Beobachter dagegen als unbeteiligter Beobachter von Beobachtungen entziehe sich dieser Teilnahme. Er würde gleichsam immer nur die Schloßbehörden beschreiben, statt das Leid Amalias zur Sprache zu bringen. So sehr aber die Phänomenologie der Singularität der Erfahrung von Gewalt nahe zu kommen beansprucht, so sehr sind auch der "Andere" und die Bestimmung von Gewalt als Verletzung des "Anspruchs des Anderen" Generalisierungen.

Angesichts der Weite dieser Formel scheint alles Gewalt zu sein, die Auskunft darüber, was denn Nicht-Gewalt sei, wurde nicht erteilt. Die Betonung, daß auch die legitime Durchsetzung von Rechtsansprüchen Gewalt enthalte, bestätigt den in der Diskussion mehrfach geäußerten Inflationsverdacht. Dem abstrakten Funktionalismus und der erfahrungshungrigen Phänomenologie Raum gegeben zu haben, wechselseitig ihre blinden Flecken aufzuhellen, ist das Hauptverdienst des Kongesses.

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Copyright &COPY Frankfurter Rundschau 1998
Dokument erstellt am 08.07.1998 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 09.07.1998

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