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Die Pflege der Unterschiede Nur Familienähnlichkeiten zwischen päpstlichen und parteipolitischen Inszenierungen: Die Autonomie von Politik und Religion in neuen Veröffentlichungen aus Niklas Luhmanns Nachlass 

Von Niels Werber 

Die Gesellschaftstheorie des 1998 verstorbenen Soziologen Niklas Luhmann wird mit Publikationen aus dem Nachlass fortgeführt. Nun sind erschienen Die Religion der Gesellschaft und Die Politik der Gesellschaft sowie Organisation und Entscheidung. Dem Tod, dieser ultimativen Stoppregel aller beobachtbaren Kommunikation, zum Trotz ist der lebenslange Bau an einer umfassenden Theorie des Sozialen abgeschlossen worden.

Diese Metapher der Theoriearchitektur und ihres Bauherrn souffliert, in den Studien über Politik und Religion so etwas wie einen Schlussstein zu sehen: Oben, an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide thront der Souverän und über ihm und folglich über allem: Gott. Und darüber, haben Kritiker gespottet, schwebe Luhmann selbst als der Beobachter des Ganzen, ja als sein Schöpfer, denn er habe schließlich immer betont, dass seine Beobachtungen Konstruktionen seien und folglich sein Werk. Ist der Systemtheoretiker als Superbeobachter "alles Sozialen" an die Stelle Gottes gerückt, der "alles sieht"? 

Es verhält sich natürlich ganz anders. Was man den Titeln dieser kleinen Auswahl von Publikationen ansehen kann, ist der Verzicht auf hierarchische Beschreibungen der Gesellschaft. Zwischen Wissenschaft, Recht, Kunst, Politik und Religion herrscht kein Verhältnis der Unter- oder Überordnung, sondern der wechselseitigen Beobachtung; allesamt sind sie Systeme der Gesellschaft. "Funktionale Differenzierung steigert wechselseitige Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Funktionssysteme miteinander, also zugleich; denn jedes Funktionssystem ist in der Erfüllung der eigenen Funktion autonom, aber zugleich davon abhängig, dass die anderen Funktionssysteme ihre jeweiligen Funktionen auf adäquatem Leistungsniveau erfüllen."

So produziert etwa die Wissenschaft Forschungsergebnisse, die von der Wirtschaft profitabel verwendet werden können. Aber weder entscheidet die Wirtschaft darüber, wann wissenschaftliche Erkenntnisse als wahr oder falsch zu gelten haben, sondern allein die Programme der Wissenschaft; noch führen Forschungen deshalb zu plausiblen Ergebnissen, weil sie von Unternehmen finanziert werden. Dennoch ist es typisch für die Innensicht dieser autonomen Leistungsbezirke, dass sie sich selbst für wichtiger halten als ihre Umwelt; die Politik finde sich bedeutender als die Wirtschaft, die Kunst essentieller als die Wissenschaft oder die Religion fundamentaler als das Recht - und umgekehrt. Und auch die Soziologie als Teil der Wissenschaft glaubt hier zu angemesseneren Beschreibungen zu gelangen als andere, wenn sie auf solche Rangordnungen verzichtet und von der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Sozialsysteme ausgeht - aber selbst dies ist natürlich nur eine wissenschaftliche Meinung, die ihre Plausibilitäten in der Soziologie findet und nicht unbedingt in Politik oder Religion, die unbekümmert um soziologische Forschungen auf ihre Weise mit der Selbstein- oder auch Selbstüberschätzung zurechtzukommen suchen, irgendwie für die ganze Gesellschaft verantwortlich zu sein.
Jahrhundertealte Bürokratien

Der Segen urbi et orbi lässt jedenfalls genauso wenig aus wie die Summe der Ministerien, die sich für so ziemlich alles: Innen und Außen, Umwelt und Kultur, Familie und Soziales, Verteidigung und Entwicklung etc. zuständig erklären. Dieser Eindruck gewisser Familienähnlichkeiten erhärtet sich noch, wenn man auf Strukturen achtet. Eine Antwort auf die Frage nach weiteren Gemeinsamkeiten von Religion und Politik könnte dann lauten: "Personenkult und Bürokratie!"

Sie liegt augenscheinlich auf der Hand. Die Inszenierungen des Papstes in Großereignissen mit massenmedialer Simultanverwertung wie jüngst beim Weltjugendtag der Katholiken in Rom scheint denselben Regeln zu gehorchen und dieselben Zwecke zu verfolgen wie die Nominierungsparties der demokratischen und republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA. Und während so die Führungspersönlichkeiten in Kirche und Parteien für Zustimmung und Begeisterung unter ihrer Klientel sorgen und sie gegen die Versuchungen der Konkurrenz (andere Parteien, andere Weltreligionen) immunisieren, wird allüberall in den Amtstuben unauffällig, aber wirkungsmächtig das für ihre Angestellten Wesentliche entschieden und alles andere verwaltet.

Das Gewicht der Außendarstellung in den Medien verbirgt die Kontinuität in diesen Verwaltungen, deren Beamte ihr Geschäft in aller Ruhe betreiben können, weil sie lebenslang beschäftigt sind und daher nicht einfach auf Linie gebracht oder ausgetauscht werden können, wenn die Führung wechselt oder einen Neuanfang (Reform) verspricht. Mit Blick auf die jahrhundertealten Bürokratien in Kirche und Staat könnte man meinen, die Kontinuität sei so groß, dass die dramatischen Wechsel (Konzile, Wahlsiege, Austausch der Führung etc.) ihre Wirkung nur auf der Oberfläche entfalten. Aus dieser Perspektive auf die Phänomene fallen die Unterschiede zwischen Religion und Politik kaum ins Gewicht, denn allzu sehr ähneln sich ihre bürokratische Organisation und der Repräsentationsstil ihrer Führer. Der historische Verweis auf die häufigen Versuche, politische Führung religiös zu fundieren oder als geistiges Oberhaupt politische Macht auszuüben (Kaiser und Papst), könnte die Evidenzen dieses Blicks auf derartige Analogien noch suggestiver erscheinen lassen. Warum also hat Luhmann zwei separate Studien über Politik und Religion verfasst statt einer einzigen, die im Gefolge einer großen Tradition etwa "Kirche und Staat" heißen könnte?

Mit der Lektüre der drei postumen Werke im Rücken, ließen sich die Gemeinsamkeiten wie folgt rekonstruieren (auf die verwendeten Unterscheidungen zurückführen) und dekonstruieren (die Kontingenz der verwendeten Unterscheidungen nachweisen): Der oben vermittelte Eindruck der Kongruenz wird von der Systemtheorie keinesfalls bestritten, aber er wird auf andere Begriffe zurückgeführt. Denn wir haben bislang nicht etwa die Funktionssysteme Politik und Religion beobachtet, sondern ihre Organisationen. Politische Organisationen wie Parteien, Parlamente, Behörden, Kronräte, Staaten und religiöse Organisationen wie Orden, Sekten, Kirchen haben gemeinsam - dass sie Organisationen sind. Und dies bedeutet für Luhmann und seine Schüler, dass sie Mitglieder und Nichtmitglieder unterscheiden und dass sie "operativ aus der Kommunikation von Entscheidungen besteht".

Anders als in den Sozialsystemen Religion und Politik kann also in Organisationen nicht jeder mitmachen: Man muss etwa Staatsbürger sein, man kann nicht katholisch und evangelisch sein, man kann nicht für die CDU und für die SPD im Parlament sitzen etc. Da Organisationen entscheiden - für den Euro, gegen den Euro, Bewilligung oder Nichtbewilligung des Urlaubsantrags, Selig- oder Heiligsprechung, Exkommunikation oder Parteiausschluss, Handeln oder Aussitzen -, muss es Strukturen geben, die ermöglichen, dass "die Kommunikation eines Mitglieds immer auch Prämisse für das Verhalten anderer" ist. Deshalb "fließen" Entscheidungen; Entscheidungen bauen auf Entscheidungen auf und werden selbst zu Prämissen für weiteres Entscheiden. Dafür benötigt man Organisationen, welche dafür sorgen, dass "Operation an Operation" anschließt, zum Beispiel Behörden, Firmen, Vereine, Armeen, Terrorkommandos.

Dass die Erfindung der Schrift bei der Evolution solcher Organisationen eine große Rolle gespielt hat, liegt auf der Hand: Nahezu überall werden Entscheidungen in Form von "Akten" prozessiert, welche die entschiedene Sache getreu festhalten, sich zeitlich im Fluss der Entscheidungen exakt positionieren lassen und die Verantwortung für die Entscheidung genau zuweisen. Wo dies missachtet wird (informelles Entscheiden, Aktenvernichtung etc.), finden Ermittlungen statt. 

Kirche und Staat sind Organisationen. Dies unterscheidet sie von der Religion und der Politik der Gesellschaft. Man kann aus der Kirche austreten und dennoch religiös kommunizieren; man kann staatenlos sein und trotzdem an politischer Kommunikation teilnehmen. Religion und Politik als umfassende Systeme spezifisch religiöser und politischer Kommunikation fallen also ganz offensichtlich nicht mit ihren Organisationen zusammen.

Über diese Tatsache sollte allein schon der Plural von Organisationen in den Funktionssystemen belehren, dennoch glauben gerade Institutionen wie Kirche und Staat notorisch an ihre Identität mit Religion und Politik. Formeln wie die der "Repräsentation" sollten diese Einheit plausibel machen, und noch heute scheinen politische Organisationen (Ministerien, Ämter, Institutionen) anzunehmen, sie könnten nicht nur sich selbst (den internen Fluss der Entscheidungen), sondern auch ihre Umwelt organisieren - beispielsweise die Wirtschaft, die Kultur oder auch die Medien.

Die Vorstellung, der Staat könne die gesamte Gesellschaft sozusagen »total« gestalten, gehört zum Dümmsten, was Ernst Jünger oder Carl Schmitt je ausgeheckt haben; der Versuch von Organisationen, die Führung über die Funktionssysteme der Gesellschaft zu erringen, hat überall zu schrecklichen Konsequenzen geführt und war immer zum Scheitern verurteilt. Dennoch sind diese Träume noch lange nicht abgeschrieben, und statt auf Einsicht in die Differenzierungsformen der modernen Gesellschaft stößt man auf zahllose Wünsche, der Staat, die EU, die UNO möge intervenieren. Dagegen finden Hinweise eines Wirtschaftministers, dass "Wirtschaft in der Wirtschaft stattfinde", nur wenig Anklang, selbst wenn sie Soziologen wie eine Selbstverständlichkeit klingen.

Die Wirtschaftspolitik verfällt denn auch bei Luhmann beißendem Spott: "Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz scheint das Reden von der Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschland, Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, dass etwas getan wird und nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber lösen", obwohl genau dies "die immer noch beste Lösung ist, an die man derzeit denken kann." Als Grund dafür wird auf die "selbstreferentielle Geschlossenheit der Wirtschaft" verwiesen, die aus eigenen - nicht aus politischen - Gründen Standorte wechselt oder Arbeitsplätze schafft und all dies keinesfalls in kausaler Abhängigkeit von politischen Entscheidungen.
Illusion gegenseitiger Kontrolle 

Die "Differenzen, die die Wirtschaft erzeugt und hinterlässt, können politisch nicht zur Wahl gestellt werden". Man kann Parteien in die Regierung oder Opposition wählen, aber nicht etwa ökonomischen Erfolg oder technischen Fortschritt. Dass die Parteien den Eindruck vermitteln, dies gehe dennoch, liegt weniger an ausgeklügelten Manipulationsstrategien als am chronischen Leiden an einer "Kontrollillusion", die besagt, man könne die Folgen politischer Entscheidungen auch außerhalb der Reichweite politischer Organisationen kontrollieren. Aber genau dadurch, dass die Politik unentwegt Kausalitäten erzeugt (Abgase zerstören Ozonschicht, Jugendarbeitslosigkeit erzeugt rechte Gewalt, der Euro eint Europa ...), sorgt sie dafür, "dass sie immer etwas zu tun hat". Wenn dann zufällig die erwarteten Folgen eintreten, kann die Politik sich dies als Erfolg zurechnen, obschon die Gründe dafür in einem Bereich liegen, in den die Politik niemals einzugreifen vermag: in ihrer Systemumwelt. 

Man bemerkt: Obwohl die Systemtheorie gewöhnlich als rein deskriptive Soziologie auftritt, die im Gegensatz zu ihren »kritischen« Alternativen keine Ratschläge geben will, lässt sich aus Luhmanns Publikationen so etwas wie ein Pathos der Autonomie und ein entsprechendes »Interventionsverbot« herauslesen. Da beschreibt er etwa die Tendenz der Politik, Entscheidungen an die Gerichte weiterzugeben, in einer Weise, die sein Unbehagen darüber deutlich macht; mit ähnlich gelagertem Missfallen beobachtet er die Reduktion der Religion auf "gewisse Leistungen, etwa bei den rites de passages des Familienlebens", welche auch von allem religiösen Sinn befreit "gern in Anspruch genommen werden". Aber die Aufaddierung von Religionsunterricht und Steuerbegünstigungen, Taufe und Konfirmation, Heiligabend und Beerdigung gibt "in keiner Weise ein angemessenes Bild von der Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft; denn diese Beschreibungen legen ja jeweils die Systemreferenz anderer Funktionssysteme zugrunde und nicht die der Religion".

Wir müssen also unterscheiden: »draw a distinction« und »a difference which makes a difference« zitiert Luhmann immer wieder G. S. Brown und G. Bateson. Aber woran erkennt man die Unterschiede zwischen Funktionssystemen und Organisationen? Oft genug jedenfalls nicht am Offensichtlichen. Wer eine Kirche betritt, um ein Beispiel André Kieserlings zu verwenden (Kommunikation unter Anwesenden, Suhrkamp 2000), muss nicht unbedingt an religiöser Kommunikation teilnehmen; es könnte sich auch um einen Kunsthistoriker handeln, der mit größter Devotion nicht auf Maria schaut, sondern auf ihre Abbildung durch Tintoretto. Der Vorschlag der Systemtheorie lautet: Man unterscheidet ihre Kommunikation an unterschiedlichen Funktionen und Codierungen.

Religion und Politik sind Funktionssysteme der Gesellschaft, die spezifische Probleme der Gesellschaft lösen. Das Medium, in dem dies stattfindet, ist die Kommunikation, die funktionsspezifisch codiert wird. Auf dieser Abstraktionslage werden dann Politik und Religion vergleichbar: Man kann fragen, wie Kommunikation in Form gebracht wird, um dieses oder jenes Problem zu lösen. Sieht man zum Beispiel in der Versorgung der Bevölkerung im Alter ein Problem der Gesellschaft, dann können so verschiedene Einrichtungen wie die Rentenversicherung, der Aktienfond, die Zeugung möglichst vieler Kinder oder das rituelle Verspeisen der Ältesten als auf dieses Problem bezogene Äquivalente erscheinen. Die Frage nach der Funktion macht Sachverhalte vergleichbar, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: etwa das Aktiendepot mit dem Topf der Kannibalen. Die Gesamtheit einer auf Problemlösung für die Gesellschaft gerichtete, spezifisch codierte Kommunikationen machen ein Funktionssystem aus; im Falle der Politik etwa all jene Kommunikationen, die das Problem kollektiv bindender Entscheidungen lösen, deren Bindung angenommen wird, obwohl jede Entscheidung erkennen lässt, dass (etwa von einer anderen Regierung) auch anders entschieden werden könnte.

Die Religion dagegen ist "zuständig für das Konstitutionsproblem von Sinn", das gelöst wird, indem das Diesseits aufs Jenseits bezogen wird, obwohl Kommunikation immer nur in der Immanenz der Welt operieren kann und die Transzendenz für alles Irdische ewig unerreichbar bleiben wird. Dies klingt schon abstrakt genug; aber man muss auch noch hinzufügen, dass die Systemtheorie unter "Sinn" und "Entscheidung" etwas ganz anderes versteht als der alltagssprachliche Umgang. Man versteht, dass mehrere Monographien nötig sind, um derartiges zu plausibilisieren. Dass Luhmann dies - oft mit überraschenden Beispielen, viel Witz und erstaunlicher Konkretion - gelingt, macht sein Werk über die Grenzen der Soziologie hinaus bedeutend.

Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft und Die Politik der Gesellschaft. Hrsg. v. André Kieserling, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 362 bzw. 445 Seiten, 42 bzw. 48 DM.

Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden 2000, 478 Seiten, 68 DM.
 
 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2000 
Dokument erstellt am 29.08.2000 um 21:04:37 Uhr
Erscheinungsdatum 30.08.2000 
 
 

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