So ist es eben

Wenige Zeitzonen weiter geht mit Geld und Beziehungen alles: Mikroökonomien im russischen Samara an der Wolga

Von Niels Werber

"Das haben kluge, reiche Leute für andere kluge, reiche Leute gebaut", kommentiert unser Begleiter Sascha das Hotel. Man geht von der Straße aus durch eine enge, auch als Pissoir dienende Einfahrt und ein Eisengittertor in einen großen Innenhof, in dem ein paar Ladas und Wolgas herumstehen. Vor einer unscheinbaren Holztür eines unscheinbaren Eckhauses mit bröckelnder Fassade sitzen immer drei alte Frauen bewegungslos auf einer Bank. Hinter der Tür wacht ein bewaffneter Pförtner. Wer durchgelassen wird, erreicht durch zwei dunkle Korridore unser Hotel.

Es hat gehobenen Weststandard, entsprechende Westpreise und sprachgewandtes Personal und ist wie ein Fremdkörper in das leicht verfallende Hinterhauskonglomerat hereingebaut worden. Sehr reiche, sogenannte neue Russen und Westeuropäer wohnen hier. Kein Schild, keine Werbetafel weist auf dieses Hotel hin. Es operiert im stealth mode. Dies gewährleistet die Sicherheit der Gäste. Auch unser Restaurant fällt nicht gerade auf. Keine Werbung, keine Fenster, kein Namen: eine schwere Stahltür zur Straße ist alles, was man von ihm sieht.

Durch eine videoüberwachte Treppe kommt man in einen luxuriös ausgebauten, klimatisierten Keller, in dem ein Dutzend Mitglieder der Oper von Samara den Abend musikalisch gestalten. Wir werden von Supermodels bedient, der georgische Weißwein kostet 1200 Rubel die Flasche, etwa 40 Euro. Auch dieses Restaurant ist eine getarnte Exklave in einer Millionenstadt, in der ein Universitätsprofessor 5 000 Rubel im Monat verdient und ein Rentner froh sein kann, wenn er mit 500 auskommen darf. Wer seinen Reichtum nicht verbergen will, wie viele brutalkapitalistische Neurussen und die von ihnen reich geschenkte höhere Beamtenkaste, muß die protzigen Phantasievillen an der Wolga von einer Armee von Objektschützern bewachen lassen, die ihre Camouflage-Uniformen nicht zur Tarnung tragen, sondern um aufzufallen und abzuschrecken.

Kontinentalklima, 40 Grad Celsius, wir schlendern im Schatten der Linden die Promenade stromaufwärts. Alle Russen tragen gefälschte Shorts von Nike oder Adidas, ärmellose T-Shirts oder ganz aufknöpfte kurzärmelige Hemden, dazu Badelatschen. Dies ist vernünftig, den meine Leinenhosen kleben an den Beinen, und sympathisch, denn offensichtlich trägt niemand Waffen. Die Frauen verbergen nichts. Dafür haben alle eine 1,5-Liter-Einwegplastikflasche mit Orangenlimonade oder so bei sich. Am unendlichen Sandstrand der hier weit und breit brückenlosen Wolga liegen Tausende in der Sonne, schauen auf das bewaldete Ufer gegenüber und stellen sich zum Abkühlen alle Viertelstunde ins Wasser.

Aus einem klimatisierten Mercedes-Geländewagen steigt ein quadratischer Überschwerer und schlägt sofort zu. Zu hören ist nichts als das leise Klingen der Goldketten. Zwei Mädchen warten mit lüstern aufgerissenen Augen auf den nächsten Schlag. Daraus wird nichts, es ist wohl zu heiß, und alle haben ohnehin etwas anderes vor. Auch wir haben nun den "Boden" erreicht, den Straßenausschank der heimischen Brauerei. Alte Frauen verkaufen hier leere 1,5-Liter-Einwegplastikflaschen, die sie am Strand und in den Straßen aufgesammelt und gespült haben. Hunderte leerer Flaschen wechseln gegen ein paar Kopeken den Besitzer. Eine lange Schlange vor dem Hausausschank wartet darauf, für wenige Rubel drei Liter Bier für den Nachmittag am Strand zu kaufen. "Bier vom Boden" heißt diese preiswerte Quelle im Volksmund. Am Strand werden die leeren Flaschen dann weggeworfen und sofort von alten Frauen aufgesammelt, die damit mehr verdienen, als sie an Rente beziehen. Man könnte diese Mikroökonomie nachhaltig nennen, der Strand jedenfalls ist sehr sauber. Auch auf den Straßen liegt kein Müll. Dafür kann man Plastiktüten dritter Hand an Marktständen kaufen. Wir trinken unser "Baltyska 3" aus und legen uns an den Strand. Ein Mädchen lacht, weil wir nicht russisch sprechen, obwohl in einem Umkreis von tausend Kilometer nichts als Russland ist, vielleicht aber auch, weil wir überhaupt sprechen, statt meditierend auf die Wolga zu schauen.

Georgischer Cognac

Es ist erstaunlich ruhig an diesem langen, dicht bevölkertem Strand. Wir passen uns an und dämmern einem Abend in einer klimatisierten Enklave entgegen. Nachts gehen wir an stand-by-discos vorbei zurück zum Hotel. Alle 50 Meter dröhnt Musik aus einem Pavillon, und die flanierenden Gruppen tanzen auf dem Gehsteig ein paar Lieder mit, um dann zum nächsten Zelt zu ziehen. Der Sommer hier ist kurz. Die Buden, Zelte, Kioske und Ausschänke an den Promenaden haben durchgehend geöffnet.

Fünf Stunden nonstop: Vorträge und Diskussion in der Akademie, dann gibt es georgischen Cognac beim Professor für deutsche Kultur, kein Mittagessen. Bevor wir das nachholen, soll etwas auf die Post gegeben werden. Eine junge Diplom-Germanistin begleitet uns als Dolmetscherin, um dabei zu helfen, das gelbe Normpaket der Deutschen Post AG loszuwerden. Von der Hauptpost werden wir zu einem Amt für Paketpost geschickt. Die russischen Behörden sind außerordentlich spezialisiert, und man könnte unter anderen Umständen fast von Arbeitsteilung sprechen ... Dort angekommen, fallen Schalter und Beamte kaum auf angesichts der Frauen, die an schmalen Tischen stehen und mit Nadel und Faden Säcke zunähen.

Nein, wir sind nicht in ein Besserungsheim geraten, in dem strenge, uniformierte Aufseherinnen verlorenen Mädchen nützliche Kenntnisse vermitteln, sondern stehen tatsächlich in der Schalterhalle der Paketpost. Auch das deutsche Standardpaket, erfährt unsere Begleiterin nach einiger Zeit, muss erst noch eingenäht werden. Warum? Vorschrift! Wer hier fragt, bleibt dennoch dumm. Die russische Germanistin erhält einen Stoffsack, Nadel und Faden. Sie wechselt sich mit dem Kollegen ab. Zwei Nähte, Kreuzstich, jede gut zehn Zentimeter lang. Ich rauche auf der Straße Schwarzmarkt-Zigaretten und schaue auf die zum nahen Strand strömende Bevölkerung Samaras.

Inzwischen haben der Professor und die Diplom-Germanistin das Paket eingenäht und versuchen nun zu erfahren, nach welcher Vorschrift es adressiert werden muss. Die Beamtinnen hüten dies jedoch als geheimes Amtwissen, aber ein Kunde übt Verrat, sodass die russische Helferin die kyrillischen Zeilen in der richtigen Reihenfolge auf die Baumwolle schreiben kann. Mit dem Stolz, der aus harter Arbeit resultiert, und dem Gefühl, es dennoch geschafft zu haben, wird das Paket der Beamtin präsentiert - die eine Beförderung durch die russische Post prompt und kategorisch ablehnt. Es sei nicht der Vorschrift entsprechend eingenäht. Wir lachen, gehen ein Bier trinken, es ist nun früher Abend, und bestaunen diese schiere Massenvernichtung von Arbeitszeit durch die Bürokratie. Die Kollegin erzählt, sie müsse ihr Visum für Deutschland an einem ganz bestimmten Tag des Jahres in einer ein paar hundert Kilometer entfernten Stadt abholen, wenn sie diesen einzigen Termin versäume, verfalle es. Sie wird einen Tag vorher anreisen und übernachten, um es dann den ganzen Tag lang zu versuchen. "Daran kann man nichts machen." So ist es eben.

Wer es trotzdem schneller und flexibel will, muss zahlen. Wer die russische Bürokratie kennt, wird sich über Bestechung nicht wundern. Einerseits kann einem eine Postlerin, ein Polizist, ein Passbeamter oder ein Milizsoldat jederzeit den Tag versauen, andererseits lässt sich auch vieles "regeln". Zum Beispiel kann man sich für tausend Dollar von der Wehrpflicht freikaufen, womit man drei Jahre spart, in denen man lieber etwas verdient; man kann Baugenehmigungen kaufen, um endlich die eigene Datscha auf dem Land oder ein Hochhaus in der Altstadt zu bauen; man kann Gutachten kaufen, die bestätigen, dass das Wasser, was aus einer Potemkinschen Kläranlage herausfließt, den Vorschriften entspricht.

Dieselbe Bürokratie verwandelt sich aus einer Zeitvernichtungsmaschine in ein Dienstleistungsunternehmen, wenn man nur zahlt. Zügige Abwicklung und hohe Erwartungssicherheit sind käuflich. Für alle, die mittellos sind (oder begriffsstutzig wie wir auf der Post), bleibt behördliches Entscheiden vollkommen kontingent. "Man kann nichts machen", lautet unisono der Kommentar unserer russischen Freunde. Niemand erwartet, dass sich diese Verhältnisse, die schon Dostojewski beschrieben hat, jemals ändern werden. Aber wer will denn schon Pakete mit der Post verschicken? Es gibt doch Freunde, die sie mitnehmen können. Vertraute und Verwandte ersetzen hier Post, Polizei, Versicherungen und Rentenanstalt. So entstehen kleine, sympathische Netzwerke wechselseitiger Unterstützung. Wenn sie gewachsen sind, nennt man sie: Mafia.

Der Stern ist ein moderner Unterhaltungskomplex mit Kinos, Bars, Restaurants, Billardsaal und Diskothek. Der Standard ist hoch. Auch unser Hotel und das Kellerrestaurant bieten ein gleichmäßig hohes Niveau von der Inneneinrichtung bis zu den Sanitäreinrichtungen. Es geht also, Russland kann alles bauen und sehr gut bauen, wenn es nur will. Aber warum sehen russische Offizierswohnheime oder Etagenwohnungen so ungeheuerlich anders aus? Wir erfahren, dass dieser seltene Weststandard auf spezielle russische Qualitätskontrollen zurückzuführen ist. Die Arbeitskolonnen der Baustellen büßen jeden Fehler mit leiblichen Strafen - und zwar als Kollektiv, Mann für Mann. Der Schlägertrupp ersetzt dem privaten Bauträger das völlig fehlende Garantierecht. Neben einem Architekturbüro wird die Mafia gleich mitengagiert. Dann werde "sehr gut gearbeitet".

Auf den Baustellen in Wolganähe, wo traditionelle Holzhäuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert durch moderne Apartmenttürme ersetzt werden, herrscht auch samstags, ja auch sonntags reger Betrieb. Gewerkschaften und Demonstrationen sind in Samara gerade verboten worden. Etwas, was schlimmer ist als Sonntagsarbeit bei vierzig Grad, will man lieber vermeiden. Man muss eben tun, was man tun muss, danach stellt man sich mit einer beruhigend großen Bierflasche in die Wolga und meditiert, beispielsweise über die Frage, ob jemals eine Brücke das Westufer erreichen wird. Wir verlassen das Land mit dem Flugzeug. Obwohl wir viele Formulare falsch ausgefüllt haben, werden wir vom Zoll einfach durchgewunken. Es sind Freunde von Freunden.

 
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Dokument erstellt am 09.08.2002 um 21:42:26 Uhr
Erscheinungsdatum 10.08.2002