Karl
Schlögel erzählt in seinem Buch über
"Zivilisationsgeschichte und Geopolitik" von Städten und
Kontinenten, Landkarten und Grenzen, Fahrplänen und
Datenströmen, Friedhöfen und Passagen
"Geschichte
spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum", beginnt der
Slawist und Kulturwissenschaftler Karl Schlögel sein
voluminöses Buch
Im Raume lesen wir die Zeit. Mit dem
Titel und dem ersten Satz ist das Forschungsprogramm hinreichend
umrissen. Es geht darum vorzuführen, dass Geschichten - von
Nationen und Städten, Kulturen und Künsten, Wirtschaftsformen
und Verkehrsmitteln oder Nachrichtentechniken - immer in einem ganz
spezifischen Raum spielen, dessen jeweilige Kontur an ihnen mitschreibt.
Der "Westen" der USA während des Treck im 19. Jahrhunderts, der
slawische "Osten" des nationalsozialistischen Deutschlands oder die
Flüsse oder Gebirge der "natürlichen Grenzen" der
Nationalstaaten sind selbstverständlich mehr als bloße
geographische Tatsachen; sie sind ideologisch hoch aufgeladene
Konstrukte. Die Evidenz, die der Rheingrenze um 1900 zukommt, verdankt
sie nicht allein der Länge oder Breite des Stromes, sondern
historischen Ereignissen: Im Reich Karls des Großen hätte
niemand die "Wacht am Rhein" besungen.
Der Raum ist nicht das neutrale Medium der Geschichte, sondern selbst
ein Protagonist. Man könnte von einer Dialektik der
Ereignissequenzen und ihrem räumlichen Milieu sprechen. So
versteht Schlögel den "russischen Raum" als "Reales", insofern
dieser ungeheure Raum tatsächlich von den Dauerfrostzonen
Sibiriens bis an die Palmenstrände am Schwarzen Meer reicht, und
zugleich als kulturelles "Phantasma", etwa als "Lebensraum" oder
"Kornkammer" deutscher Planungen oder als wahrer Bezwinger
französischer Gardekavallerie und deutscher Panzerverbände.
Allerdings ist das "Reale" des Menschen immer schon konstruiert, gerade
auch sein Raum, was Geographen wie Ernst Kapp oder Carl Ritter schon
seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wissen. Selbst die
nüchternsten und "objektivsten" Weisen, den Raum wissenschaftlich
zu erfassen, bilden nicht einfach das "Reale", sondern richten die
Wirklichkeit immer auch zu.
Vom
Raum zum Territorium
Das Wissen über den Raum ist immer auch Herrschaftswissen. Die
großen Raumnahmen wie die britische Kolonialisierung Indiens oder
die Ostfeldzüge der Wehrmacht wären ohne das Wissen der
Geographie undenkbar gewesen. Die großen kartographischen
Projekte verwandeln den Raum in ein Territorium, auf dem alles seinen
Platz hat und kontrolliert werden kann. Im Anschluss an Edward Said
schreibt Schlögel: "Die Anfertigung der Karten ist nicht einfach
ein passiver Vorgang, bloße Abbildung und Sammeln von Daten,
sondern es geht um deren Einordnung in eine kohärente,
administrative und disziplinierende Struktur." In den ethnisch
informativen Karten der 1920er und 30er Jahre findet er ein grausames
Beispiel für die politische Funktion der Geographie: Sie werden
verwendet, um die "Endlösung der Judenfrage" vorzubereiten und
durchzuführen.
Historische "Ereignisse haben einen Ort, an dem sie stattfinden". Auch
dieser zweite Satz der Einleitung klingt trivial. Das schlichte
Bekenntnis zur "Einheit von Ort, Zeit und Handlung" ist der
Dramentheorie von Aristoteles entnommen. Auf den zweiten Blick
verlieren diese einfachen Überzeugungen ihre
Selbstverständlichkeit, denn noch vor wenigen Jahren schienen die
Begriffe Geschichte, Zeit und Raum allesamt ihren Sinn verloren zu
haben. Francis Fukuyama verkündete das "Ende der Geschichte", und
Arnold Gehlens These vom Posthistoire erlebte eine Renaissance. Zeit im
emphatischen Sinne der Moderne, als Medium des Fortschritts oder doch
der epochalen Veränderung hatte ausgedient; was nun noch passieren
würde, wäre bloße Wiederholung.
Der Zeitlosigkeit der Postmoderne entsprach die Raumlosigkeit des
Global Village. Die elektronischen Medien hatten alles mit allem, jeden
mit jedermann vernetzt, so dass Entfernungen und Standorte ihre
Bedeutung einbüßten. Medientheoretiker und Soziologen wie
Virilio, Faßler, Willke, Bolz oder Luhmann sprachen von der
Auflösung, Bagatellisierung oder gar Vernichtung des Raums. Gegen
beide durchaus vernetzte Diskurse - "Ende der Geschichte",
"Verschwinden des Raums" - setzt Schlögel eine raumbewusste
Historiographie, die im Nacheinander geschichtlicher Sequenzen wie im
Nebeneinander ihrer "Schauplätze" gleichermaßen zu Hause ist.
Dagegen wäre nicht viel einzuwenden - außer dass diese
Überlegungen nicht gerade neu sind. Die allzu naiven Freunde des
Cyberspace und des Global Village sind auch hierzulande längst
abgewatscht worden, und der Raum wird nicht erst seit dem 11. September
gerade als Medium der politischen Geschichte wieder bluternst genommen.
Trotz langer Literaturlisten zumal angelsächsischer Autoren in den
Fußnoten und gelegentlich nahezu seitenlanger Zitate gehören
die theoretischen Passagen zu den schwächsten des Buches. Was
Geopolitik war, ist und sein könnte, erfährt man nur
andeutungsweise, und das extensive Namedropping ersetzt nicht das
Fehlen einer ausgearbeiteten Perspektive.
Grenze
und Gewalt
Im Kern ist dieses Buch vielmehr eine Sammlung von Kolumnen: In etwa 50
kurzen, essayistischen Texten schreibt Schlögel über
Humboldts Forschungsreise, den Fall der Mauer, den 11. September, das
Bild eines Kartenzeichners von Vermeer, das Ghetto von Kowno und das
Tor von Birkenau, Marx' Analyse des Weltverkehrs, amerikanische
Autobahnen, Jeffersons Karte von Nord-Amerika, den Kessel von Sarajewo,
Prousts Schlafzimmer, Tatort Dallas, Fingerabdrücke,
Landkartenherstellung, Spione, Baedeker, Hotels, das Attentat vom 20.
Juli… Dabei gelingen ihm außergewöhnlich hübsche
Vignetten, etwa die spannende Geschichte von Sándor Radó
oder zur Politik der Karten. Auf eine "kompakte Theorie" kommt es
Schlögel weniger an als auf die Stimmigkeit der "Studien", von
denen man "kosten" soll wie bei einer Weinprobe.
Widersprüche
nimmt Schlögel in Kauf, solange sie nur gut schmecken. Mal
heißt es, die Briten hätten Indien in einem Akt
geographischer Gewalt vermessen und benannt, ohne sich um das Wissen
der Einheimischen zu scheren; dann wird behauptet, die britische Matrix
kolonialer Kartographie befinde sich in "vollständiger
Abhängigkeit" von den Indern. Mal gilt die Staatsgrenze als
Mittel, mit dem zumal imperiale und koloniale Staaten Stämmen oder
Völkern ein System des Ausschlusses und Einschlusses aufzwingen,
dann wird ausgerechnet die Grenze zwischen "den USA und Mexiko" als
"stimmige, akzeptierte Grenze" bezeichnet, "der niemand etwas
Gewalttätiges, Aufgesetztes und Erzwungenes zusprechen würde,
obwohl sie von keinem Fluss, keinen Meer, keinem Bergkamm gestützt
wird".
Allein die Zäune und Gräben, die zahlreichen bewaffneten
Patrouillen der US Border Control und die nächtlichen Versuche der
Mexikaner, die Grenzanlage zu überwinden, sollten als Hinweis
genügen, dass diese Grenze durchaus etwas "Gewalttätiges und
Erzwungenes" hat. Dass Mexiko einen Krieg verlieren musste, bevor es
diese Grenze akzeptierte, wird erst gar nicht erwähnt.
"Imperialismus", schreibt Schlögel kurz und prägnant, "ist
vom Kapitalismus produzierter globaler Raum." Mit der wichtigen Frage
von Hardt und Negri (in
Empire), ob sich die kapitalistische
Tendenz zum grenzenlosen Markt und die imperialistische Herstellung
voneinander abgegrenzter Handelszonen nicht ausschließen, setzt
er sich nicht auseinander.
Die
überrannte Stadt
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Karl
Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über
Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Carl Hanser Verlag,
München 2003, 567 Seiten, 24,90 Euro. |
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Manche
Widersprüche und eine gewisse Redundanz (wie oft wird nicht
angemerkt, dass Karten ein "Szenario der Gleichzeitigkeit" festhalten)
muss man hinnehmen, um Schlögels eigentliche Stärke zu
genießen: die dichte Beschreibung eines historischen Raums oder
einer gleichsam im Raum kondensierten Geschichte, etwa "Moskau 1937".
Dieses Mnemotop erschließt Schlögel aus Plänen,
Zeitungen, Tagebüchern und vor allem vor Ort als das gleichzeitige
Nebeneinander von "proletarisierten Bauern", die noch nie eine
Wasserleitung oder Kanalisation gesehen haben; von Metros und
Rolltreppen, Zeppelinen und Fallschirmspringern, Reklamen und Luna
Parks. "Moskau ist die Stadt der Hyperurbanisierung, die
überrannte und überflutete Stadt" voller gigantischer
Bauprojekte. Seine alten "verwinkelten Straßen, seine
Hinterhöfe, seine Kirchlein und den Ruß der
Öllämpchen" lässt es hinter sich, um "elektrisch" zu
werden. "Es nimmt den orthodoxen Bart ab" und geht ins
"Automatenrestaurant nach New Yorker Vorbild". Schlögel
erschließt die Spannung der Nähe zwischen dem
"märchenhaft-luxuriösen" Hotels und den "Erdhöhlen der
Umgebung", zwischen Opfern und Tätern, NKWD und Untergrund in den
Wohnsilos des neuen Menschen.
Derartige Passagen und sein Interesse am Raum als Ort des
gleichzeitigen Nebeneinanders rücken Schlögel in die
Nähe von Hans Ulrich Gumbrechts Inventar des Jahres 1926
(vgl. FR vom 21. 4. und 3. 7. 2001). Ihm ging es um eine
"Perspektive der historischen Gleichzeitigkeit", die von
"Sequentialität und Kausalität" möglichst abstrahiert,
um sich von der Koexistenz der Phänomene faszinieren zu lassen.
Auch Schlögel setzt seinen Schwerpunkt auf das Laterale und
Stereoskopische statt auf das Konsekutive und Lineare. Was davon in
seine Studien einfließt, macht sie interessant wegen der
Aufmerksamkeit für "die Gleichzeitigkeit der Erscheinungen vor
Ort". Mit Geopolitik hat dies nur zufällig zu tun.