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1926: Der Sportwagen, die Sonnenbrille 

Momente zwischen Nah- und Fernerinnerung. Hans Ulrich Gumbrecht im Gespräch 

Von Niels Werber 

"Wir wissen nicht, was wir mit unserem gewaltigen Wissen über die Vergangenheit anfangen sollen", weshalb wir ruhig unserer privater Faszination folgen können, lautet die einleitende These von Hans Ulrich Gumbrechts bereits in mehrere Sprachen übersetzten Buch 1926, das er soeben im Suhrkamp Haus vorstellte. Zudem erhebt sein synchroner Ansatz Einspruch gegen eine Geschichte der Akteure, gegen "jeden Anspruch auf subjektive und kollektive Handlungsfähigkeit". 

Dies ist nur konsequent, denn ein Panorama der Gleichzeitigkeit, wie Gumbrecht es entwirft, hat keinen Platz für geschichtsmächtige Subjekte, Nationen, Kollektiva, denn diese bedürfen als Medium ihres Handelns das Nacheinander, dem sich die Synchronie ja gerade verweigert. Was sollen wir also mit unserem Wissen anfangen? Die Antwort, die Karl Heinz Bohrer in einem Essay für diese Zeitung gegeben hat (16. 6. 2001), lautete, ein "historisches Fernverhältnis" aufzubauen, das den Verlauf der "kulturellen Identitätsbildung" erinnert, statt die deutsche Geschichte auf eine "Vorgeschichte des Dritten Reichs" und ihre Aufarbeitung zu verkürzen. Ohnedem werde es nie gelingen, ein nationale Zivilisation auszubilden. "Dabei wird auch deutlich", so Bohrer, "dass es sich um vertikale, nicht horizontale Zeitstrukturen handelt, die eine solche Identitätsbildung ermöglichen, das heißt also um Fernerinnerung." Gumbrechts Synchronie, die ausdrücklich keine Geschichte handelnder Kollektiva erzählen will, gerät hier in diametralen Gegensatz zu Bohrers Diachronie der "deutschen Nation". Müsste Bohrer ihn nicht der "Erinnerungslosigkeit" zeihen?

Man muss Gumbrecht dabei zuhören, wie er einen von vielen möglichen Pfaden durch die Entries seines lexikalisch aufgebauten Buches schlägt. Das in den alphabetisch angeordneten Dispositiven ausgebreitete Material, das zunächst einen disparaten Eindruck macht, lässt beim Verfolgen der Verweise (vom Bergsteigen zur Feuerbestattung, von der Feuerbestattung zum Stierkampf) Rekurrenzen erkennen, die dann den gewünschten Effekt des "Being in the world of 1926" erzeugen. Die Daten, erläutert Gumbrecht im Gespräch, werden dazu arrangiert wie die Kulisse eines gutgemachten Films. Er habe es angestrebt, in seinem Buch Evidenzen zu vermitteln, die mit dem Illusionseffekt einer perfekten Hollywood-Produktion konkurrieren. Sein Kollege Carlo Ginzburg, der sich eine reichhaltige Bebilderung gewünscht hatte, um das Jahr anschaulich zu machen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen, denn die selbstgewählte Vorgabe des Experimentes lautete: versuche, eine "historische Umwelt" allein mit den Möglichkeiten eines Textes heraufzubeschwören. Dem unverwüstlichen Wunsch nach Bildern sind jetzt Ausstellungen in Zürich und Basel nachgekommen, die 1926 als opulente Revue inszenieren. 

Gumbrecht sagt, ihm habe als - freilich unerreichbares - Vorbild Flauberts Wörterbuch der Gemeinplätze aus Bouvard et Pécuchet gedient, wo zusammengetragene Klischees und gängige Platitüden in das gesamte Wissen der Epoche blicken lassen. Man kann 1926 als eine mnemotechnische Übung ansehen, denn die zahlreichen Einträge stellen gleichsam die Einrichtungsgegenstände parat, mit denen das Haus der Geschichte möbliert wird. Beim Gang durch dieses Haus der Topoi stellt man sich dann vor, wie ein Filmstar im Sportwagen vor einem Hochhaus vorfährt, die Schutzbrille des Autofahrers abnimmt und die Haare glatt nach hinten kämmt, den Aufzug betritt um zur Dachterrasse hochzufahren, um dort Jazz vom Grammophon zu hören. Es geht um Orte und ihre Ausstattung. Das Ziel sei es, imaginieren zu können, wie gut alles zusammenpasst, die Stromlinienform der Autos und Frisuren oder die Bewegungsmuster von Fahrstühlen, Fließbändern und Tanz. Daher sind Gumbrecht die Personen nicht allzu wichtig, und wo sie genannt werden, wie etwa Josephine Baker oder Jack Dampsey, fungieren sie als Typen, als exemplarische Figuren des Jahres. 

Gefragt nach der Bedeutung des New Historicism für sein Buch, bekräftigt Gumbrecht, nicht "mit den Toten reden" zu wollen wie Stephen Greenblatt, sondern "sich an den Oberflächen zu reiben". Hinter diese Oberflächen zu schauen, vermeidet Gumbrecht, es gehe ihm nicht um eine Hermeneutik des (Besser-)Verstehens, sondern um die Vergegenwärtigung. Er wolle 1926 so sprechen lassen, wie Flaubert Madame Bovary träumen lässt. Der Eintrag "Bergsteigen" beginnt mit Hart Crane, der in seinem Gedicht North Labrador auf die Frage "Hast du ... keine Erinnerungen?" sich selbst die Antwort gibt, in dieser Kälte gebe es keine. Lange verschollene Forscher liegen neben abgestürzten Bergsteigern und ekstatischen Paaren in Gletscherspalten. Im ewigen Eis der Alpen herrscht absolute Synchronie. 
Distanz als Voraussetzung

Gumbrecht stimmt zu, dass wohl kaum ein Leser ernsthaft annehmen wird, sich im Jahr 1926 zu befinden. Obwohl er es in 1926 ausdrücklich anstrebt, dem Leser eine Erfahrung zu verschaffen, deren Unmittelbarkeit keine Distanz verhindern sollte, gesteht er nun nicht nur jedem Rezipienten diese Distanz zu, sondern befördert sie sogar zur Rezeptionsvoraussetzung. Das Bewusstsein, dass wir uns heute nicht im Jahre 1926 befinden, ermögliche gerade eine Lektüre, an deren besten Stellen es wie im perfekten Ausstattungsfilm zu "epiphanic moments" komme, einem durch Rekurrenz erzeugtem Gefühl von Evidenz. Es ist genau dieses Aufblitzen des Eindrucks einer stimmig vergegenwärtigten Vergangenheit, das entgegen dem ersten Eindruck Gumbrecht mit Bohrer verbindet. 

Bohrer hebt in seinem Essay über die notorische Erinnerungslosigkeit der gesellschaftskritischen Intelligenz die "epiphane Struktur aller Vergegenwärtigung von Vergangenen" hervor, allerdings primär als Kennzeichen der modernen Literatur. Was die historische Erinnerung indes mit der exemplarisch an Proust entwickelten poetischen Erinnerung teile, sei ein "Inbeziehungsetzen der Gegenwärtigkeit des Erinnernden und des Erinnerten". Genau darauf kommt es auch Gumbrecht an, wenn er von der "representification" des Jahres 1926 spricht. Allerdings hält er diese nicht für das Ergebnis einer hermeneutischen Leistung, wie Bohrer, sondern für einen Effekt des klug arrangierten Materials, das seit Jahrzehnten niemand gelesen habe. Allein die Beobachtung der Verstaubtheit der Akten indiziert schon die temporale Distanz zum (Syn-)Chronologen wie auch das Vergnügen, sich in lange unberührten Quellen zu verlieren. Viele diachrone Linien verbinden das Chronotop 1926 mit dem Autor und seinen Lesern. Und wie ein Biotop ist auch das Chronotop nicht ohne eine Umwelt.

Die nur in "epiphanischen" Momenten zu überbrückende Distanz, so Gumbrecht, impliziere auch, dass jeder Leser wisse, was auf 1926 folgte: 1933 zum Beispiel. Dies ist gegen die Vorwürfe gewendet, er habe wenig politisches Gespür bewiesen, als er aus Adolf Hitlers Mein Kampf zitiert und dessen "Scharfblick" Kafka oder Stresemann an die Seite gestellt hat. Auch die Lust an der Provokation durch solche Konstellationen mag eine Rolle gespielt haben, bekennt er, aber der Grund, Hitler 1926 zunächst einmal so zu vergegenwärtigen, als gebe es kein 1933 und 1945, sei ein anderer gewesen: 1926, nach dem gescheiterten Marsch auf die Feldherrnhalle und der Festungshaft, habe Hitler am Boden gelegen, seine ehemaligen Sponsoren und Gefährten wie etwa Ludendorff hätten ihn aufgegeben. Mein Kampf könne als das Produkt dieses Rückschlags gelten, von dem zu der Zeit niemand habe sagen können, dass er kein endgültiger sein würde. Es gab also 1926 sicher andere Entwicklungslinien als die zum Dritten Reich. Hitlers, wie Gumbrecht meint, scharfsichtige Analyse des Streiks als Verflüssigung verkrusteter ökonomischer Strukturen darf also durchaus im Kontext jener Möglichkeiten und Alternativen gelesen werden, die im Jahr 1926 im Angebot waren. 

Dieser Möglichkeitshorizont des Jahres 1926 suggeriert allerdings, die Zukunft dieser Vergangenheit hätte andere Wege einschlagen können. Gerade Gumbrecht gelingt also mit seinem Buch womöglich, was Bohrer nur einer Nationalgeschichte zutraut, die den "kulturellen Zusammenhang" der Deutschen zwischen weiter Ferne und aktueller Nähe wahrt und erinnert - nämlich eine deutsche Geschichte zu schreiben, die mehr ist als eine bloße Vorgeschichte des Dritten Reiches. 

1926 bietet einige Faustregeln an, wie man heute Geschichte schreiben könne, die des Jahres 1789 etwa oder 1492. Was aber passiert - so mein Szenario - würde man das Experiment einer synchronen Geschichtsschreibung generalisieren, um etwa eine Geschichte des Jahres 2001 zu schreiben? Denn dann stieße man auf Akronyme und Symbole, die in Kontexten vorkommen, die modisch, cool, frech oder populär sind. Roter Stern, Uzi und RAF tauchen derart in Büchern, Modestrecken und Filmen, auf Plattencovern, T-Shirts und Tätowierungen auf, dass man kaum zu ahnen vermag, worum es sich handelt: um Zitate einer terroristischen Vereinigung. Die methodische Beschränkung auf die Synchronie würde also, so meine These, einer historischen Entkernung Vorschub leisten. Die zahlreichen Morde und Gewalttaten würden im popkulturellen Kontext nicht miterinnert werden. 

Auf die Frage, ob die synchrone Geschichte des Jahres 1926 nicht eine ähnliche Dehistorisierung riskiert, antwortet Gumbrecht sehr persönlich, mit einer familiären Anekdote. Sein Sohn, Inhaber eines amerikanischen und eines deutschen Passes, wollte Pilot werden und entschied sich - statt für eine Bewerbung bei der Air Force - für die Luftwaffe. Sein Vater aber wollte ihn überreden, in der US Air Force zu dienen, und ließ sich zur Bemerkung hinreißen, er könne auf den Flugzeugen, die sein Sohn fliegen wolle, immer nur das Hakenkreuz sehen. Die Bundeswehr wird in eine Kontinuität gestellt, die offenbar dem in Stanford groß gewordenen Sohn so nicht mehr einleuchtet. Die Rücksichten des Vaters auf die deutsche Vergangenheit im Umgang mit seinen amerikanischen Freunden und Bekannten, konterte der Sohn lässig mit einem "don't overdo it". Obwohl er sich an seine Bemerkung immer erinnern werde, so Gumbrecht, diene er heute dennoch als Leutnant in einer deutschen Kampfstaffel. Vielleicht lässt sich aus dieser Familiengeschichte mehr lernen als aus der Nationalgeschichte, denn offenbar kann man eine "Fernerinnerung" an die Kontinuität deutscher Geschichte bewahren, ohne deshalb das persönliche "Nahverhältnis" davon dominieren zu lassen. Dass auf deutschen Kampfflugzeugen einst Hakenkreuze prangten, muss man wissen, doch folgt daraus nicht, dass sie heute auf den Flügeln sozusagen fehlen und geradezu in der persönlichen Wahrnehmung ergänzt werden müssen. Es gibt beglückendere Epiphanien.

Zur Ausstellung "Revue 1926" des Museums für Gestaltung in Zürich ist ein schöner Katalog mit einem Essay von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
 
 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001 
Dokument erstellt am 02.07.2001 um 21:40:38 Uhr
Erscheinungsdatum 03.07.2001 
 
 

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