Ressentiment und Realität: Während viele Intellektuelle
einen schnellen militärischen Gegenschlag der USA
befürchteten, zeigt sich die Bush-Regierung bislang eher
besonnen. Dafür hat sie Gründe: Die alleinige Entscheidung
der Supermacht wird in einem postsouveränen Staatsdiskurs
abgemildert
von NIELS WERBER
Nachmittags am 11. September saß ich einer Regionalbahn und
las in der Tageszeitung eine Kritik an der optimistischen
Auffassung einer posthegemonialen, friedlichen,
deterritorialisierten, grenzenlosen Weltgesellschaft. Plötzlich
begannen im Abteil die Mobiles zu klingeln, und während ich noch
rätselte, worüber alle reden mögen, kamen meine Anrufe:
von
meinem Bruder, von einer Freundin und, drittens, von einem
Redakteur.
Die Medien machten ihre writing forces mobil. Der nun zu
schreibende Artikel würde den Essay vom Morgen quasi
ausschreiben können: Global agierende Terroristen haben inmitten
der USA zugeschlagen und demonstriert, dass nicht nur
Investment Banken und Rating Agenturen keinen Respekt mehr
vor Territorium und Grenze des Nationalstaates haben und das
deterritorialisierte "Atopia" (H. Willke) nicht die erhoffte
Weltgemeinschaft sein würde, sondern eine vom Clash of
Civilisations geteilte Welt, deren Grenzen nicht mehr geopolitisch,
sondern ethno-religiös zu verorten waren und mitten durch die
Staaten hindurchliefen.
Nachdem der Nahe Osten Jahrzehnte lang ohnmächtig zuschauen
musste, wie Cruise Missiles einschlugen und
Schlachtschiffgeschütze das Feuer eröffneten, schlug nun ein
terroristisches Netzwerk zurück, das auch in Hamburg und
Bochum Knoten unterhielt. Die Anschläge waren furchtbar,
grauenhaft, verabscheuenswert, aber, so flüsterte das
Ressentiment, musste das nicht einmal so kommen? Man schrieb
es nicht explizit, aber deutete es doch gern an, dass dieser
Anschlag nicht von "mittelalterlichen" Barbaren verübt worden ist;
dass es vielmehr "zivilisierte" Menschen (Akademiker mit Handy
und Homepage) mit Motiven gewesen sind, deren Wurzeln nicht
allein in ihrem religiös imprägnierten Fanatismus, sondern auch
in
der Nahostpolitik der USA zu finden wären. Hatte sich nicht die
global superpower einen eigenen, ebenso global operierenden,
aber schwer zu lokalisierenden "atopischen" Feind herangezogen,
der seine wohl organisierten Angriffe zeitgemäß Spekulationen
auf
Aktien-Crashs finanzierte?
Antiamerikanismus?
Ein Freund und Kollege, der Amerikanist ist und in New York
gelebt hat, sah in diesem reflexartigen Hinweis auf die politische
Vorgeschichte des Attentats, also auf die militärischen,
geheimdienstlichen, diplomatischen und ökonomischen
US-Interventionen in den islamischen Raum, einen teils
verdeckten, teils unbewussten Antiamerikanismus am Werk, der
im Attentat letztlich nur die Bestätigung seiner eigenen
Überzeugungen sehen wollte: dass nämlich die USA derart
imperialistisch, kapitalistisch und unbekümmert um Kultur und
Geschichte seien, dass sie zu solchen Angriffen geradezu
herausforderten. Ich fand diese Bemerkung zuerst ungerecht, da
der Blick auf die möglichen Ursachen und Motive der Ereignisse
weder den Anschlag rechtfertigen noch den USA das Recht auf
eine Antwort absprechen, sondern - wie ein Sachverständiger vor
Gericht - den Tatbestand wertneutral erhellen wollte. Und
tatsächlich schlug ja die Stunde der Experten: der Orientalisten,
Politologen, Religions- und Kulturwissenschaftler, Arabisten -
kurz: der geschmähten Geisteswissenschaften -, deren analytische
Distanz aber eher den Weg zu klugen Ratschlägen fand als zur
emphatischen Solidarität mit den USA. Was soll daran
antiamerikanisch sein? Beispielsweise die notorische Ermahnung,
die USA möchten nun aber nicht sofort das erlittene Unrecht mit
neuem Unrecht zu vergelten; Bush solle nicht aus der Hüfte
schießen und dem Drang widerstehen, den Sheriff des Global
Village zu markieren; die USA dürften dem offenbar typisch
amerikanischen Gedanken der Vergeltung nicht nachgeben etc.
Gebetsmühlenartig wurde der Wunsch wiederholt, die Raketen
mögen in ihren Silos und die Bomber in ihren Hangars bleiben. In
einem per E-Mail kursierenden Aufruf an Außenminister Fischer
fordern die Unterzeichner nicht allein kategorisch die
"Deeskalation" und den Verzicht auf eine "militärische
Scheinlösung", sondern sehen darüber hinaus "die Bedeutung
Europas gerade darin, in besonnener und deeskalierender Weise
auf die Politik der Regierung Bush Einfluss zu nehmen". Bush und
seiner Regierung traut man allerhand zu, keinesfalls jedoch
"besonnenes" Handeln. Dem Cowboy und seiner Gang müssen
erst die Europäer klar machen, dass die Welt nicht der Wilde
Westen und Lynchjustiz keine Lösung sei. Hinter den notorischen
Mahnungen zur Besonnenheit und Mäßigung verbirgt sich
vermutlich, wenn mein Freund Recht hat, die Überzeugung, dass
die Regierung Bush, könnte sie so, wie sie wollte, am liebsten -
und wieder mal ohne jedes Verständnis für Kultur und Geschichte
- mit harten Militärschlägen alles fundamentalistisch Islamische
aus der Weltgesellschaft herausbomben würde. Martialische
Features über das amerikanische Militär liefen täglich auf
beinahe
allen Kanälen, um die Einsatzbereitschaft einer Armee zu
demonstrieren, die im Kriegsfall dann doch wohl auch zuschlüge.
Die Moderatoren der deutschen Sender fragten so lüstern, so
hartnäckig, so erwartungsvoll, wann endlich und gegen wen denn
nun jedenfalls härteste Maßnahmen zu erwarten wären, dass
man
sich fragen darf, warum sie diese Militärschläge geradezu
herbeizusehnen schienen. Ich vermute fast deswegen, weil es das
Amerikabild des Sheriffs bestätigt hätte, der zwar nie ein
Gesetzbuch gelesen hat, aber robust mit Colt und Galgen für Law
and order zu sorgen pflegt.
Das Zögern des Militärs
Doch das flüsternde Ressentiment muss von der US-Politik
geradezu enttäuscht sein, die mehr als zwei Wochen nach den
Terroranschlägen noch immer keinen fernsehtauglichen
Großangriff à la Desert Storm gestartet hat, sondern alle
diplomatischen Optionen zu nutzen scheint, um eine breite Allianz
gegen den Terror zu formieren, und gemeinsam mit Polizeikräften
in aller Welt versucht, Beweise gegen Täter und Hintermänner
zusammenzutragen. Trotz des Missgriffs mit dem "Dead or
Alive"-Steckbrief, der zunächst alle Befürchtungen zu bestätigen
schien: Bush gibt, wenn er auch Gouverneur in Texas war und
Stiefel trägt, nicht den Cowboy; und seine politischen Berater und
Minister sind auch keine Gang - jeder Vergleich mit dem Western
gibt ein völlig falsches Deutungsmodell vor.
Die klischeehaften Erwartungen haben die Wirklichkeit der
US-Politik verfehlt, und auch in den USA selbst zeigt man sich
überrascht. "Why were the military forces so lame?", wundert sich
Joe Klein im gestern erschienenen New Yorker und hat die
Antwort parat: die Clinton-Administration habe dem Militär den
Willen zu harten Maßnahmen (inkl. Bodentruppen) geraubt: Der
Sheriff ist ohne Colt - da bleibt nur das multilaterale Verhandeln,
das aber womöglich das bessere Modell für die
Terrorismusbekämpfung sei als der bisher von den "Bushies"
praktizierte arrogante, einsame Dezisionismus.
Mut zur Ambivalenz
Überraschend ist, dass die Bush-Regierung multipolar agiert statt
unilateral, dass sie ihre Positionen eher ambivalent und
verhandelbar formuliert, statt mit einer markigen, eindeutigen
Sprache Alliierte zu verschrecken oder zu bevormunden; und dass
sie einen eher postsouveränen Weg eingeschlagen hat, der zu
Lagebestimmungen und Entscheidungen durch Verhandlungen,
Meinungsumfragen und Prozeduren gelangt, statt die Komplexität
der Situation dezisionistisch - also durch souveränes Entscheiden
-
zu umgehen. Während Clinton ohne Zögern Cruise Missiles
starten ließ, um die Anschläge auf die US-Botschaften zu rächen,
es dann aber bei dieser Geste der Entschlossenheit beließ, stellt
Bush sein Land und seine Verbündeten auf eine lange und
schwierige Operation ein. An deren Ende werde aber mehr als
eine zerbombte sudanesische Fabrik stehen, sondern "closework".
Und dafür stehen die Chancen nicht schlecht: In die Planungen
werden nicht nur Nato und alliierte Golfstaaten einbezogen,
sondern möglichst alle Staaten vor Ort inklusive Russland und
China samt ihren nachrichtendienstlichen und logistischen
Möglichkeiten. Die geplanten Maßnahmen selbst stehen nicht fest,
sondern können dank der weiten Zeithorizonte und der flexiblen
US-Rhetorik ständig der veränderten Lage neu angepasst werden.
Man denkt bereits über Strategien nach, wie man die Region nach
möglichen Maßnahmen restabilisieren könnte, man ist anscheinend
bereit, dabei aus den russischen Fehlern wie aus den eigenen zu
lernen. Kurz: Die USA agieren bislang nicht als Supermacht:
allein, einsam entscheidend und mit allein selig machender Sicht
auf die Dinge, sondern kooperativ, lernbereit, flexibel,
facettenreich - und dennoch ohne Zweifel an ihrer
Entschlossenheit und Stärke aufkommen zu lassen.
Erste Erfolge dieser Politik haben sich schon eingestellt.
Mannschaften und Offiziere der Taliban desertieren in Erwartung
amerikanischer Angriffe, die Nordallianz rückt vor, notorische
"rogue states" sprechen sich eindeutig gegen den Terrorismus aus,
der Druck auf Israel und die palästinensische Autonomie, zu einer
Verhandlungslösung zu gelangen, ist enorm gestiegen, und der
Ölpreis ist dank einer freundlichen Opec sogar gesunken. Es ist
fraglich, ob Bush mit Stealth-Bombern und Raketen ("the
application of overwhelming force without risk and without
precision", wie ein Militärberater es nennt) so schnell so
erfolgreich gewesen wäre.
Komplexere Fronten
Die militärische Form dieser "postsouveränen" Politik wäre,
so
Deleuze und Guattari in den "Tausend Plateaus", nicht die
"Schlacht" zwischen den regulären Armeen feindlicher Staaten,
sondern ein Kampf, der von "Anti-Guerilla-Einheiten" gegen einen
"vielgestaltigen, beweglichen und allgegenwärtigen Feind" geführt
wird. Der einstige führende Nato-General Wesley Clark nennt als
Beispiel dieser neuen Kriegsführung die Operation Just Cause, in
deren Verlauf amerikanische Kommandos den Drogengeneral
Noriega mitten in Panama gefangen genommen und entführt
haben. Für den "War against terror" sei dies das Modell - und
nicht die Entfaltung unglaublicher Feuerkraft aus der Distanz im
Desert Storm. Diese Anti-Guerilla-Taktiken müssten eingebunden
werden in eine politische Strategie, die sich der ungeheuren
Komplexität der Lage stellt. Die Öffentlichkeit, so schlussfolgert
Joe Klein, müsse sich daher auf einen Konflikt einstellen, der nicht
schnell zu einer definitiven Lösung führen wird.
taz Nr. 6564 vom 2.10.2001, Seite 15, 344 ZeilenTAZ-Bericht, NIELS WERBER