"Europäische Charta der Menschenrechte in der Stadt"
Von Niels Werber
In seinem einleitenden Essay zum Documenta 11 Katalog zählt Okwui
Enwezor einige Städte auf, die eine Schlüsselrolle in der postkolonialen
Auseinandersetzung mit dem hegemonialen wie globalen Westen gespielt
hätten: Seattle, Genua, New York. Ob nun Globalisierungsgegner, Anhänger
der Tobin-Steuer oder Terroristen gegen die von den USA geführte westliche
Dominanz vorgingen: Der Kampf finde in den Städten statt.
Die Straßenschlachten von Seattle im Jahre 1999 mögen der Anlass
gewesen
sein, eine "Europäische Charta der Menschenrechte in der Stadt"
auszuarbeiten, die am 18. Mai 2000 von einigen Dutzend Städten, unter
ihnen
Barcelona, Belfast, St. Denis, Venedig, verabschiedet wurde. Obwohl die
Ausschreitungen der Polizei in Genua und die Terrorattacken auf New York
und Washington erneut den Blick auf die Rolle der Stadt in der
Weltgesellschaft fokussierten, war bisher in Deutschland von dieser Charta
nicht die Rede. Für "Menschenrechte in der Stadt" scheint man sich
hierzulande nicht zu interessieren, keine einzige deutsche Stadt hat das
"Abkommen von Barcelona" unterzeichnet. Mit Unterstützung der
französischen Sektion von "attac" hat das Centrum. Jahrbuch für
Architektur
und Stadt den französischsprachigen Gründungstext übersetzen
lassen, er
wird in der neuen Ausgabe von Centrum (Verlag Das Beispiel, Darmstadt),
das im Oktober erscheinen wird, publiziert werden.
Die Charta ist vor dem Hintergrund der aktuellen Globalisierungs-Diskussion
von großem Interesse. Ihr neunseitiger, dichter Text ist von einem
tiefen
Misstrauen gegen den Universalismus der Menschenrechte und das
Völkerrecht geprägt. Die von der UNO beschlossenen 30 Artikel
sind zwar
durchweg so formuliert, dass "alle Menschen" in den Genuss der formulierten
Rechte kommen, doch beweist selbstverständlich jeder Blick in die
Zeitung
das Gegenteil. Die UNO sind nicht fähig, die von ihr garantierten
Rechte auch
durchzusetzen. Die europäischen Städte scheinen sich das zuzutrauen
- auf
ihrem Terrain jedenfalls. Da die "universellen" Rechte nicht "wirksam"
seien,
kommt "die Stadt ins Spiel". Alle ihre Bewohner, "unabhängig von ihrer
eigenen Staatsangehörigkeit", "ohne Ansehen von Herkunft, Hautfarbe,
Alter,
Geschlecht, sexueller Orientierung, Sprache, Glaube oder politischer
Einstellung, ethnischer, nationaler oder sozialer Herkunft oder der
Einkommensverhältnisse", kommen in den Genuss der "Menschenrechte
in
der Stadt".
Dies ist gewiss wünschenswert, doch strotzt die Charta von ungeklärten
Problemen. Zunächst einmal: Wer ist "Bewohner"? Alle Personen, so
die
Antwort, die in der "Stadt leben". Aber was bedeutet das? Leben im Sinne
des Einwohnermeldeamtes etwa? Oder im Sinne einer Anwesenheit auf dem
Territorium der Stadt? Welche Rechte genießen diejenigen, die die
Stadt
nicht bewohnen, sondern sie durchqueren, sich dort vorübergehend aufhalten
usw.? Konkret: Sind im Sinne des Schengener Abkommens widerrechtlich
eingereiste Personen "Bewohner" im Sinne der Charta und genießen
ihren
Schutz - oder sind sie keine Bewohner und können ausgewiesen werden?
An
einer Stelle ist von einer "zweijährigen Niederlassungszeit in der
Stadt" die
Rede, die verstreichen muss, um als "BürgerInn" zu gelten. "Bewohner"
sind
also noch keine "Bürger" - und dürfen nicht alle Rechte und Pflichten
wahrnehmen. Wenn man derart weiterfragt, dann enthält die Charta einen
ganzen Exklusionskatalog, weil sie eben nur für diejenigen gilt, die
sie
einschließt - und alle anderen nicht.
Die Problematik der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, für
die
Geltung ihrer Normen nicht sorgen zu können, haben die Verfasser der
Charta
zwar klar erkannt, aber auf dem Terrain der Städte auch nicht lösen
können.
Welche Rechte bei wem "wirksam" werden, wird weiterhin von den jeweiligen
Verhältnissen vor Ort und den involvierten Personen abhängen.
In der einen
Stadt erhält Kirchenasyl, der in der nächsten abgeschoben wird.
Je
universeller die Rechte, desto beliebiger ihre Umsetzung.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 17.09.2002 um 21:35:01 Uhr
Erscheinungsdatum 18.09.2002