Mechanik des Denkens

                        In der Physik ist es klar: Eine "Aktion" bewirkt eine
                        vorherberechenbare "Reaktion". Und in der Politik? Da reden
                        alle nur noch von der "Interaktion". Ein gelehrter Essay von
                        Jean Starobinski

                                        von NIELS WERBER

                        Aktion bedeutet so ziemlich dasselbe wie Reaktion. Windsurfen
                        bedeutet für viele, aktiv zu sein, für andere ist es reaktionär. Ein
                        Aktionsbündnis begründet seine Maßnahmen als Reaktion auf
                        die Lage am Arbeitsmarkt, und revolutionäre Aktionen
                        rechtfertigen sich als Reaktion auf politische Unterdrückung.
                        Jede Gewalt begreift sich als Reaktion auf Aktionen, denen es
                        freisteht, sich als präventive Reaktion auf drohende Gewalt zu
                        beschreiben. Physik, Chemie, Politologie, Psychologie,
                        Philosophie, Medizin usf. - beinahe jede akademische Disziplin
                        verwendet heutzutage die Begriffe Aktion/Reaktion und ihre
                        zahlreichen Derivate, vom Abreagieren bis zur Reaktionszeit,
                        vom Aktionismus bis zum Reaktionär, und diese Beliebtheit trägt
                        zur Schärfung der Bedeutung nicht gerade bei. Zumal als Begriffe
                        des Politischen bleiben die Termini vage.

                        Wer als Politiker schnell reagiert, gilt beileibe nicht als
                        Reaktionär, sondern als "Macher", als Aktionist also, aber
                        umgekehrt können Aktionäre Reaktionäre sein. Was aber
                        Reaktionäre sind, changiert. Im Horst-Wessel-Lied wird die
                        "Reaktion" als Mörder der "Kameraden" beschimpft, Marx nennt
                        die deutschen Sozialdemokraten "Reaktionäre", während die
                        großen Kapitalisten es "objektiv" nicht seien, aber anderseits, so
                        Engels, sei die "naturwüchsige Reaktion gegen die schreienden
                        sozialen Ungleichheiten" der Bauern im Bauernkrieg ein
                        "Ausdruck des revolutionären Instinkts" und finde "darin ihre
                        Rechtfertigung".

                        Die Bedeutung dieser Begriffe ist so beliebig, dass Fontane im
                        "Stechlin" schreiben kann, "eine große Revolution schien sich
                        anbahnen zu wollen. Oder, wenn Sie wollen, ,Reaktion'. Man hat
                        vor solchen Wörtern nicht zu erschrecken. Wörter sind
                        Kinderklappern." Was einmal, physiologisch gesprochen, einen
                        eindeutigen Sinn hatte - nämlich den einer kausalen und zeitlichen
                        Beziehung: auf eine Aktion folgt eine gleichgroße Reaktion -, hat
                        alle Klarheit verloren, sodass Aktion Reaktion und, wenn Sie
                        wollen, Reaktion Revolution zu bedeuten vermag oder
                        umgekehrt.

                        Wenn Jean Starobinski vorschlägt, dieses Durcheinander nicht
                        nur begriffsgeschichtlich zu ordnen, sondern aus den Analysen
                        der "historischen Semantik" Rückschlüsse auf "unsere
                        gegenwärtige Lage" und die "Geschichte der Gesellschaft" zu
                        ziehen, dann möchte man dankbar zustimmen. Er verspricht uns,
                        die "Abenteuer eines Begriffspaares", wie er mit Balzac
                        formuliert, als einen "Prozess der Polysemisation" zu erzählen.
                        Dies weckt die Erwartung, aller Anfang sei eindeutig. Tatsächlich
                        scheint das Begriffspaar in der "so genannten klassischen
                        Mechanik" Newtons die schlichte Bedeutung zu haben, dass
                        "Wirkung und Gegenwirkung stets gleich" sind. Die Aktion einer
                        Summe von Kräften bewirkt eine nach den Gesetzen der Physik
                        vorherberechenbare Reaktion, handele es sich um den Rückstoß
                        einer Kanone oder das Bandenspiel beim Billard.

                        Dieses für uns selbstverständliche Verhältnis ist alles andere als
                        das - denn der alte Gegenbegriff der actio war die passio. Von
                        Natur aus, so die antike Überzeugung, gab es handelnde und
                        empfangende, aktive und leidende Dinge, etwa Männer und
                        Frauen oder Form und Materie. Diese Vorstellung wird von der
                        Mechanik abgelöst. Auch Frauen können töpfern, schießen und
                        Billard spielen. Dieser für die Begriffsgeschichte hoch
                        interessante Umbruch kommt nur in den Blick, wenn man
                        Begriffspaare untersucht und auf den Austausch der
                        Gegenbegriffe achtet. "Aktion ist nie ohne Reaktion", beweisen
                        die Physiker und wiederholen die Philosophen. Man könnte nach
                        einer Skizze des naturwissenschaftlichen Kontextes nun der
                        relevanten Frage nachgehen, wie das Begriffspaar in den
                        politischen Sprachgebrauch emigriert und ideologische Qualitäten
                        erhält.

                        Bevor Starobinski dies tut, faltet er allerdings auf zweihundert
                        langen Seiten sein Wissen über allerlei bekannte und unbekannte
                        Naturwissenschaftler aus. Begriffsgeschichte kann auch
                        langweilig sein. Spannend wird es dann, wenn das Paar ein
                        Paradigma verlässt und sich woanders niederlässt, etwa in der
                        moralischen Natur des Menschen. Die Aufklärung entdeckt
                        geistige Reaktionen auf physische Ursachen und umgekehrt. So
                        behauptet etwa Rousseau, dass der Körper des Menschen auf
                        seine Moral reagiere und damit das Sittliche "bis in die
                        Gesichtszüge hinein" präge. Noch "Das Bildnis des Dorian Gray"
                        funktioniert auf der Grundlage dieser anthropologischen
                        Verschaltung.

                        Derartige Migrationen machen das Abenteuerliche des
                        Begriffspaares aus, doch Starobinski begegnet gerade diesen
                        "Umwegen und illegitimen Abwegen" mit Ressentiment. Viele, so
                        warnt er, verwenden diese Begriffe nur, um den "Eindruck der
                        Wissenschaftlichkeit" zu erzeugen, das "Publikum zu verführen"
                        und "allen Widerspruch" einzuschüchtern - dies täten auch nicht
                        "wirkliche Gelehrte", sondern "Räuber" und "Betrüger".
                        Seltsamerweise endet dieser Durchlauf mit der Feststellung, dass
                        das Begriffspaar wiederum alle alten Antagonismen zu
                        reformulieren erlaubt: "Himmel und Erde, männlich und weiblich,
                        Geist und Materie . . ." und als "ontologische Gegensätze zu
                        bestätigen" vermag, ganz als ob die Mechanik nicht gerade damit
                        Schluss gemacht habe, als sie das Paar actio/passio aufgab.

                        Das letzte Kapitel der Studie über "Fortschritt und Reaktion"
                        untersucht dann endlich den Transfer der Begriffe in den
                        politischen Diskurs. Newtons Planetensystem wird "vulgarisiert"
                        zur "Behauptung eines universellen Gleichgewichts" der Kräfte,
                        die Metapher erfreut sich noch heute großer Beliebtheit, von der
                        balance of power bis zur neorealistischen Theorie der
                        Gegenmachtbildung. Nach dem dritten Gesetz der newtonschen
                        Mechanik wird nun behauptet, dass jede politische Aktion zu
                        einer entsprechenden Reaktion führe. Man kann also die sozialen
                        "Kräfte" in "Gleichungen" überführen, um dann, wie Rousseau
                        schreibt, "die Aktion und Reaktion des besonderen Interesses
                        der bürgerlichen Gesellschaft zu berechnen und die Ereignisse
                        vorherzusehen". Volney stellt dann 1795 fest, dass "die politische
                        Gesetzgebung nichts anderes ist als die Anwendung der
                        Naturgesetze".

                        Die Französische Revolution und ihr Forschrittskonzept geben
                        dem zuvor politisch völlig "neutralen" Begriff der Reaktion eine
                        feste pejorative Bedeutung: Reaktionär ist fortschrittsfeindlich,
                        konterrevolutionär. Konservative Theoretiker wie de Maistre
                        übernehmen das Konzept der politischen Physik und sagen eine
                        "Reaktion" auf die Revolution voraus, die "der Aktion gleich
                        werden muss". Heinrich Heine berichtet, "unter der Partei der
                        Vergangenheit" seien die "guten Christen" über bestimmte
                        "Gräuel" der Revolutionäre nicht einmal "ungehalten" gewesen,
                        "ja sie wünschten noch schlimmere Gräuel, damit sich das Maß
                        fülle und die Konterrevolution desto schneller als notwendige
                        Reaktion stattfinde". Dies befürchten freilich auch die
                        republikanischen Mechaniker und überlegen, wie sie den zu
                        erwartenden Reaktionen gegen den Fortschritt zuvorkommen
                        könnten. Benjamin Constant betreut die Intellektuellen mit der
                        Aufgabe, "die öffentliche Meinung durch Aufklärung" dazu zu
                        bewegen, sich den "Reaktionen zu widersetzen", damit die
                        furchtbare Kette von "Aktion zu Reaktion, von Rache zu Rache"
                        aufhöre und der Fortschritt siege. Die Frage lautet bald "nicht
                        mehr: Gibt es einen Fortschritt der Menschheit?", sondern:
                        "Welches ist der wirkliche Fortschritt?"

                        Eine endgültige Antwort haben wir bisher nicht gehört, und es
                        zählt zum politischen Handwerkszeug, die Fortschrittskonzepte
                        der anderen Parteien als Rückschritt zu diffamieren. Es sind die
                        Liberalen des Justemilieu, die diesen extremistischen politischen
                        Dualismus zu unterlaufen trachten, um das Staatsschiff zwischen
                        der Szylla der Revolution und der Charybdis der Reaktion auf
                        mittlerer Fahrt hindurchzusteuern. Ihr Programm heißt bis heute
                        Reform. Aus dieser liberalen Mechanik, wonach "zwei einander
                        entgegengesetzte Kräfte eine mittlere Richtung ergeben" (Charles
                        de Rémusat, 1847), haben hundert Jahre später die westlichen
                        Demokratien ihr Staatswesen aufgebaut, einen Leviathan, der
                        von einem Geflecht von "Aktionen und Reaktionen" ewig auf
                        "mittlerer Richtung" gehalten wird, was kein Steuermann und
                        keine Reform zu ändern vermag. Man könnte sagen, die Politik
                        sei im Wortsinne inter-aktiv geworden. Denn wenn sich nicht
                        allzu viel ändert und "Ursachen und Wirkungen" kaum noch zu
                        unterscheiden sind, dann spricht man heute von "Interaktion", da
                        "dieses Wort den Vorzug hat, von der Pflicht zu befreien, der
                        Kausalbeziehung eine Richtung anweisen zu müssen". Hier trifft
                        Starobinski ins Schwarze.

                        Jean Starobinski: "Aktion und ReAktion. Leben und
                        Abenteuer eines Begriffspaares". Aus dem Franz. v. Horst
                        Günther. Hanser Verlag, München 2001, 438 Seiten, 58 DM
                        (29,65 )

                        taz Nr. 6474 vom 19.6.2001, Seite 18, 289 Kommentar, NIELS
                        WERBER, Rezension