Neal
Stephenson führt in seiner fabelhaften Romantrilogie "The Baroque
Cycle" die Aktualität einer Epoche vor
Im
Spätsommer 1683 rüstet sich das gigantische osmanische
Belagerungsheer
zum Sturm auf die Stadt. Es ist an der Zeit, dass auch der Rest von
Europa türkisch wird, und wenn Wien fiele, stünde einem
Vormarsch bis
an die Nordsee nicht viel im Wege. Wälle und Türme sind
unterminiert,
Tonnen von Schwarzpulver platziert, bald würde gesprengt. Der
Vagabund
Jack Shaftoe, der sich gerade als Musketier den Österreichern
verdingt
hat, um einen Vorwand zu erhalten, in die Nähe all der anstehenden
Plünderungen zu gelangen, erblickt kurz vor Beginn der Schlacht
Johann
Sobieski. Der König der Polen rammt sein Schwert in den Boden,
kniet
vor dem provisorischen Kreuz nieder und betet auf Latein einen
Rosenkranz, inbrünstig, lang. So etwas hat Jack noch nie gesehen,
denn
in London und Paris trägt der Adel keine schweren Breitschwerter,
sondern elegante Rapiere, und wenn sie in der Kirche knien, dann nur
für kürzeste Zeit und eher im Scherz. Jack Shaftoe, dessen
Name
Stephenson-Lesern aus dem
Cryptonomicon gut vertraut ist und
dessen ambivalentes Heldentum sehr an seinen Namensvetter Jack Bauer
(24) erinnert, schaut auf einen späten Kreuzritter, der in
heiligem
Zorn an der Spitze seiner Husaren die Türken hinwegfegen wird.
Das
Ferne, so nah
Mit
diesem polnischen Retter des Deutschen Reiches ragt eine Gestalt des
Mittelalters in eine Epoche hinein, deren komplementärer Rand 1714
die
Gründer einer Gesellschaft zum Bau einer Engine for Raising Water
by
Fire markieren, die Thomas Newcomens Entwicklung von Dampfmaschinen und
Pumpen finanzieren will, welche nicht nur den englischen Kohlenbergbau
revolutionieren werden.
The Baroque Cycle zoomt unerwartet
eine
Epoche ganz heran, bei der man unwillkürlich an üppige
Rubens-Frauen
und bayrische Zwiebeltürme denkt. Aber das so Ferne ist auch ganz
nah:
Die Protagonisten dieser Epoche lernen zwar noch Hexenverbrennungen,
Inquisition, Vierteilungen und Alchemie kennen, aber auch das moderne
Menschenrecht der Habeas Corpus-Akte, die Abschaffung der Monarchie und
die Entstehung des Parlamentarismus samt Nebenerscheinungen von der
Lobbyarbeit bis zur Parteipolitik, die Cartesianische Geometrie, die
Mechanik Newtons, Versicherungen, Terminkontrakte, Kaffeehäuser,
Rechenmaschinen, Banknoten, Welthandel, Technologieparks, Handgranaten
und
safer sex.
Der Barock, den Neal Stephensons Romane
Quicksilver,
Confusion
und
System of the World in
aller Opulenz inszenieren, hat mit Globalisierung,
Informationsgesellschaft, asymmetrischer Kriegsführung,
Verkehrsstockungen und Börsen-Haussen genauso so viel zu tun wie
mit
symmetrischen Parkanlagen, Absolutismus, großem Dekor,
Zentralbauten,
allegorischem Theater, weitschweifigem Zeremoniell, übereilten
Duellen,
Mätressenwirtschaft, Hofschranzen, aufwendigen Perücken und
einer
Vorliebe für Weiß und Gold.
Wenn wir so ganz beiläufig erfahren,
woher das Wort und der Sachverhalt Lobby stammt, dann könnte man
über
englische Parteien und ihre Klientel im frühen 18. Jahrhundert
hinaus
auch an jene Vermittler denken, die heutzutage in Berlin oder
Brüssel
antichambrieren. Der Roman vergegenwärtigt eine Epoche, die nicht
schon
deshalb einem halbbarbarischen Mittelalter angehört, weil sie ein
paar
Generationen vor den Goethes, Schillers, Kants und Humboldts liegt. Die
sogenannte Epochenschwelle zur Moderne, die in Kulturgeschichten gerne
"um" 1800 situiert wird, ließe sich mit gleichem Recht "um" 1700
platzieren.
Wieviel
muss man wissen, um einen Roman zu schreiben? Nicht viel, wenn
der Text nicht so sehr von der Welt erzählt, in der er spielt, als
von
den psychischen Innenräumen der Personen, die er entwirft. Die
Seelenlandschaften, die ein Werther in seinen Briefen kartographiert,
verrät zwar einiges über seine Stimmungen, aber
verhältnismäßig wenig
über die, sagen wir, Ökonomie oder Physik, Kameralistik oder
Geographie
seiner Zeit. Die weltumspannende Korrespondenz dagegen, die Stephenson
seine Wissenschaftler und Politiker, Abenteurer und Mätressen,
armenische Händler, intrigante Jesuiten, französische
Minister,
englische Lords und sehr kluge welfische Prinzessinnen führen
lässt,
entwirft die Ära in einer Lebendigkeit und Dichte, die nicht
allein auf
die Phantasie des Autors, sondern auch auf sein immenses
Materialstudium schließen lässt.
All das passt zum Poesie-Konzept des Barock, das sich den
poeta
doctus
als Gelehrten vorstellt, der Wissensbestände erkundet und clever
arrangiert - statt als Genie, das seine eigenen Welten kreiert. Was wir
über die Türken vor Wien und die Holländer in Fernost,
über Silberminen
im Harz und Gold aus Guinea, über die Höfe von Versailles und
Hannover,
die Werkstätten von Hooke und Huygens, den Streit zwischen Leibniz
und
Newton, den Holzexport Neuenglands und den von Sklaven nach Westindien,
die Abszesse Louis XIV. und die Exzesse seines Bruders, die
Quecksilberkuren des Adels oder über Blasensteinoperationen ohne
Betäubung lesen, stimmt auf den ersten und, nach stichprobenhafter
Durchsicht von Biographien, Geschichten, Enzyklopädien und einiger
ausgewiesener Quellen wie Hobbes'
Leviathan oder Defoes
Plan
of English Commerce, auch auf den zweiten Blick alles samt und
sonders.
Stephenson möbliert nicht einfach nur den Raum, in dem die
Handlung
spielt, sondern macht das Wissen selbst zum Teil der Geschichte. Ohne
zu erfahren, wie aus Urin Phosphor wird, aus Amsterdam ein
Warenterminmarkt, aus den Herzögen von Hannover das
Königshaus des
britischen Empire oder aus der Suche nach dem Stein der Weisen die
Suche nach den Gesetzen der Natur, wären die Handlungen und Motive
der
Protagonisten nicht nur unverständlich, sondern auch langweilig.
Dagegen wäre die komplexe historische Problematik der Umstellung
des
englischen Münzsystems von Pfund Sterling auf Guineas selbst dann
eine
spannende Geschichte, ohne dass Sir Isaac Newton sein Amt im Tower dazu
missbrauchen würde, nach dem Salomonischen Gold zu suchen, um die
Natur
alchemistisch zu beherrschen...
Newton
- ein Alchemist? Man will es fast glauben, weil sonst alles so genau
recherchiert und so stimmig inszeniert zu sein scheint. Die
beeindruckenden historischen Kenntnisse und die gleichsam
neuhistorische Detailliertheit der Darstellung bewirkt, dass man
gelegentlich rätseln darf, was denn nun stimmt und was nicht.
Newton
als Master of the Mind? Stimmt. Homosexuell? Vermutlich. Gestorben und
wiedergeboren durch ein geheimes Elixier? Das wäre dann doch zu
arg.
In
Diamond Age
(1995) führt das Märchen der Prinzessin Nell auf Schloss
Turing vor,
wie man kinderleicht mit Nullen und Einsen kommuniziert. Ein
Spionage-Angriff auf einen Laptop oder das Kappen von Breitbandkabeln
verdeutlicht im
Cryptonomicon (1999), was Medientheoretiker
bisweilen vergessen: dass die Welt der Computer-Schaltkreise immer noch
eine analoge ist. Stephenson beherrscht es meisterlich, auch
komplizierteres oder entlegenderes Wissen äußerst
unterhaltsam zu
vermitteln. In
Quicksilver lernt man soviel über Leibniz'
digitale Codes und Steganographie, um die Stickarbeit der Doppelagentin
Eliza als nachrichtentechnisches Meisterstück zu bewundern.
Erinnert
man sich, dass auch
Snow Crash (1992), jener Bestseller, der
Stephenson berühmt machte, nur zur einen Hälfte in der
real
world
der Pizzaboten und Privatarmeen spielt, zur anderen dagegen im
Multiversum der Avatare und Computerviren, dann ist ein roter Faden im
voluminösen Gesamtwerk des Autors benannt: Es geht um das, was die
Angelsachsen
communications nennen, um den Zusammenhang von
Nachrichten- und Verkehrsmitteln, Kommunikation und Logistik, Codierung
und Technik zu bezeichnen.
Wettkampf
der Botschaften
The Baroque Cycle handelt vom Wettkampf um die Führung auf
diesem Feld der schn
ellen
Schiffe, verschlüsselten Botschaften und präzisen
Navigationsinstrumenten. Stephenson hat den geheimen Krieg des 20.
Jahrhunderts um Verschlüsselung und Decodierung, Radarortung und
Funkpeilung auf die geopolitischen und nachrichtentechnischen
Verhältnisse des Barock zurückprojiziert. Die Protagonisten,
die im
Cryptonomicon Geheimaufträge durchführen,
Verschlüsselungsprogramme
erfinden, Computer bauen oder auch ungewöhnlichen Sexualpraktiken
nachgehen, tragen im Baroque Cycle die gleichen Namen: Shaftoe,
Waterhouse, Hacklheber, Comstock.
1714 prägt Daniel
Waterhouse binäre Codes in Metallplättchen, die von einer von
Leibniz
projektierten logic mill prozessiert werden sollen. 230 Jahre
später
hilft ein anderer Waterhouse beim Bau des ersten amerikanischen
Computers. Mathematik und Ingenieurskunst scheint den einen Familien so
im Blut zu liegen wie den anderen das Bank- und Geldgeschäft. Die
Überzeugung, dass Familien Geschichte machen, färbt einen
weiteren
Faden rot, der nicht nur an zwei oder drei Generationen entlang durch
das Cryptonomicon oder den Baroque Cycle führt, sondern der hoffen
lässt, die Lücke zwischen den Abenteuern der beiden
Shaftoe-Boys, die
1714 vor dem Henker in die amerikanischen Kolonien flüchten, und
den
Erlebnissen des US-Marines Sergeant Bob Shaftoe im WKII werde dereinst
noch geschlossen. Kein Verwandter gleichen Namens, sondern in beiden
Romanen offenbar derselbe ist der mysteriöse Enoch Root. Im WKII
des
Cryptonomicon spielt er einen Leutnant der US-Army, als Alchimist
geistert er durch den im Baroque Cycle. Als deus ex machina stets dann
zur Stelle, wenn der Autor ihn zur Rettung seiner Protagonisten
benötigt.