Vom Nein der Frau

Steuerung und Kontingenz in der Liebe der Literatur

von Niels Werber

“To talk of controlling love is nonsensical”.

George Robert Gissing: The Emancipated, London 1890, S. 569.

I. Die Freiheit der Frau als Kontingenz der Entscheidung

Pierre Daniel Huet ist Franzose, und es kann nicht überraschen, daß er in seinem 1670 publizierten Traité de l’Origine des Romans der französischen Literatur die Palme verleiht, im Vergleich mit allen anderen Nationen der Antike und der Moderne die schönsten Romane hervorgebracht zu haben.[1] Er schreibt:

Il est vray qu’il y a sujet de s’estonner qu’ayant cedé aux autres le prix de la Poësie Epique & de l’Histoire, nous ayons emporté celui-cy avec tant de hauteur, que leurs plus beaux Romans n’égalent pas les moindres des nostres.

So wenig überraschend dieses Lob sein mag, so interessant ist seine Begründung:

Je crois que nous devons cet avantage à la politesse de nôtre galanterie, qui vient, à mon avis, de la grande liberté dans laquelle les hommes vivent en France avec les femmes. (S. 91)

Die französischen Romane sind also deshalb die besten, weil die Franzosen in ihrem Umgang Politesse und Galanterie aufweisen müssen, da sie mit ihren Frauen in größerer Freiheit verkehren als sonst irgendwo möglich oder üblich. Mit der größeren „freyheit“ des Umgangs ist gemeint, daß Männer und Frauen in der Entwicklung von „Liebesgeschichten“ einen eigenen Part spielen: also in beiden Fällen zumindest über die Freiheit verfügen, einen Bewerber abzulehnen. Die Liebe hat sich hier auf Bedingungen doppelter Kontingenz einzustellen. Und „Doppelte Kontingenz (selbstreferentieller Systeme)“, schreibt Luhmann im Rückblick auf seine Studie Liebe als Passion, „erzwingt, das haben wir für zwischenmenschliche Beziehungen ausgiebig behandelt, die Emergenz einer neuen Realitätsebene.“[2] In dieser Realität, dem „Sonderhorizont“ der Liebe, hat man sich auf Kontingenz einzustellen, und die Galanterie ist in Bezug auf Liebe eine erste Antwort auf die Probleme, die sich damit ergeben. Die Zustimmung der Frau ist also stets kontingent: wie immer sie reagieren mag, ihr Verhalten könnte innerhalb des neuen sozialen Rahmens codierter Intimität stets auch anders ausfallen. Um die Wahrscheinlichkeit einer Zustimmung soweit zu erhöhen, daß Kontaktanbahnungen ermutigt werden, wurden Sozialtechnologien wie die der Liebe als Passion entwickelt.

Die galante „Realitätsebene“ der Intimkommunikation ist neu, und Huet ist sich der Differenz zu den anderen Nationen und Literaturen bewußt. Bisher ging es in ‚Romanen’ immer nur um den Zugang zum sogenannten „Frauenzimmer“, ihre Zustimmung war anscheinend nicht nötig. Hellmuth Petriconi[3] nennt einige exemplarische Beispiele. Der Ritter Grisel aus einer spanischen Novella muß sich nur um den Zugang zu der im Turm verborgenen Prinzessin sorgen, sie selbst „ergibt sich ihm ‚mit der unziemlichen Beflissenheit, die bei den ritterlichen Heroinen herkömmlich war‘“. Auch Don Juan verschafft sich in Tirsos Drama nur durch allerlei Tricks eine ungestörte Zusammenkunft mit der Frau, um deren Einverständnis er sich nicht besonders kümmert. Die Zustimmung der Frau zum Ehebruch ist weder unsicher noch unwahrscheinlich, sondern sie spielt in der Kalkulation der Eindringlinge einfach nicht die geringste Rolle. Was dann passiert, wenn die Hindernisse überwunden sind, ist gar nicht anders möglich, also alles andere als kontingent. Wer ‚lieben’ will, braucht keinen galanten roman de clef, sondern einfach einen Nachschlüssel. Von „Verführung“ der Frau kann daher überhaupt keine Rede sein – und Huet erklärt uns, warum nicht:

In Italien und Spanien ist [das Frauenzimmer] bey nahe verschlossen / und durch so viel Siegel von den Manns leuten abgesondert / daß man es sehr selten sieht / und fast niemahlen zu sprechen bekommet: Das man dannenhero die Kunst / den Fauen Zimmer anmuhtig lieb zu kosen / verwahrloset hat / weil man so selten gelegenheit hat / mit ihm zu reden. Vielmehr ist man allein dahin bedacht / wie man zu ihm kommen möge / und wann dan endlich ein Weg hierzu gefunden worden / bedienet man sich der guten Gelegenheit / ohne fernere Redens pracht. (S. 625)

Denkt man etwa an Boccaccios Decamerone[4] oder auch an Cervantes Eifersüchtigen,[5] der seine junge Frau vergeblich in einem festungsartigen Haus verbirgt, dann kann man Huets Beobachtung nur zustimmen. Zum Geschlechtsverkehr benötigt der Mann nichts als eine „gute Gelegenheit“, die dementsprechend sofort beim Schopfe gegriffen wird, für „Redens pracht“ ist hier wenig Zeit. Nötig ist allein die Abwesenheit Dritter, für intime Kommunikation im strengen Sinne fehlt die dafür nötige doppelte Kontingenz. Galanterie dagegen ist nachgerade gemacht für die Interaktion unter Beobachtung Dritter, denn, so Luhmann,

Galantes Verhalten ist nach beiden Seiten, zur Intimität und zur Geselligkeit hin, anschlußfähig. [...] Sie ist für täuschendes und verführendes Verhalten ebenso wie für wahrhaft-liebendes Werben gesellschaftlich verbindlicher Stil.[6]

Eine vormoderne, quasi unfranzösische „Liebesgeschichte“ wird also aus einer Reihe abenteuerlicher Versuche bestehen, die Abwesenheit Dritter – von Ehemännern, Vätern, Äbten und ähnlichen Hütern – herzustellen und auszunutzen. Hat man erst „accessus“ gefunden,[7] wie Ovid sagt, dann ergibt der Rest sich wie von selbst. Huet geht dagegen von einem ganz anderen, nämlich galanten Verhältnis von Männern und Frauen aus, das in Frankreich und nun auch in England herrsche und gravierende Folgen für den Roman zeitige:

Aber weil die Dames hergegen in Franckreich und Engelland auff guten Glauben leben und keinen andern Beschützer ahben / alß ihr eigen Hertz / so haben sie ihnen davon ein Bollwerck gemachet / welches starcker und sicherer ist / alß alle Schlüssel / als alles Gatter werck / ja als alle Mauer und Thüren. Also sind die Männer gezwungen gewesen / dieses veste Bollwerck gantz auff eine andere Mannier zu bestürmen / und haben also hierzu so viel fleiß und behändigkeit angewant / umb selbiges zu gewinnen / daß sie dadurch eine Kunst überkommen / welche fast allen andern Nationen unbekandt ist. Das ist aber die Kunst / welche die Englische / insonderheit aber die Frantzösische Romanen von denen anderen unterscheidet / und die das Lesen derselben so angenehm hat gemacht / daß sie dadurch oftermahlen von wichtigern Dingen sind abgehalten worden. (S. 626)

Die Kunst, welche hier in Stellung gebracht wird, ist die Galanterie. Die Frau kann Nein sagen – und muß also umworben werden. Umgekehrt fällt es schwer, hinter dem verbindlichen, gesellig wie intimen Stil der Galanterie die authentischen Absichten auszumachen. Mit der Galanterie entsteht daher, schreibt Luhmann, das Interesse, „das Verhalten zu dechiffrieren und die wahre Liebe zu erkennen“.[8] Die Intimkommunikation basiert mithin auf doppelter Kontingenz. Romane erzählen nun nicht länger die Abenteuer zudringlicher Eroberer, sondern die Interaktionsgeschichte zweier Liebender oder zumindest eines Werbers und einer Umworbenen. Diese neue Organisation intimer Kommunikation erfordert also eine neue Textstrategie für Romane. In dieser Verknüpfung der Motiv- und Gattungsentwicklung scheint mir die zentrale Innovation des Huetschen Traktates zu liegen.[9] Den Roman seiner Zeit erkennt Huet als das Resultat von Weiterentwicklungen der Liebessemantik, die wiederum einen Umbau der Narrationsstruktur erfordert haben, so daß die Liebe innerhalb wie außerhalb des Romans dem neuen Risiko gerecht wird, daß eine Frau Avancen ablehnt, aber auch der Chance, daß sie sich gleichsam kunstgerecht „belagern“ läßt.[10] Voraussetzung dafür ist freilich, daß das „Bollwerck“, vom dem Huet spricht, nicht beim ersten Ansturm kapituliert, sondern sich belagern läßt.

II. Intimität ohne Entscheidung. Mit und ohne Kontingenz

Man könnte eine bestimmte Semantik der Galanterie als Antwort auf das neue Problem weiblicher Kontingenz betrachten, da es den Männern nun darum zu gehen scheint, die Vorzüge des leichten Zugangs zur Frau in der Gesellschaft nun auch auszunutzen. Die neue Freiheit zum Nein wird von Artillerieoffizieren und Experten für Festungsbau wie Pierre Ambroise François Choderlos de Laclos in ein strategisches Problem verwandelt werden. Am Ende des „kleinen Krieges“ gegen Frauenherzen, die sich in der „Defensive“ halten,[11] soll ein sicheres Ja stehen, doch hat man sich auf, wie Valmont es formuliert, „teuflische Listen“ der Frauen einzustellen (S. 95). Die Liebhaber erkunden die „Möglichkeiten eines steuernden Eingriffs“. Es geht darum, selbst die „vorsichtige Frau unmerklich in einen Pfad zu lenken, der keine Umkehr mehr zuläßt, dessen steiler, gefährlicher Abhang sie gegen ihren Willen fortreißt und sie zwingt, mir [dem Verführer Valmont] zu folgen.“ (S. 269) Aber um derart zu steuern, muß man den Code kennen, an dem sich das Erleben und Handeln orientiert. Wir werden noch sehen, daß hier die Romanlektüre die entsprechenden Voraussetzungen schafft.

Der Versuch, der Kontingenz durch Galanterie Herr zu werden, muß deutlich unterschieden werden von Kausalmodellen, die sich der Kontingenz überhaupt nicht bewußt sind. Zwischen beiden Varianten liegt der epochale Unterschied zwischen alteuropäischer und moderner Liebessemantik. Mit David Roberts[12] könnte man sagen, daß sich Alteuropa der Kontingenz seiner Ordnung überhaupt nicht bewußt ist und so nicht einmal merkt, wie sie Latenzschutz erhält, während die Moderne es weiß und sich im Klaren darüber ist, wenn Kontingenz invisibilisiert wird. Während die alteuropäische Literatur vor allem die Kontingenz der Stratifikation mit wirksamem Latenzschutz ausstattet und nicht im geringsten ahnen läßt, es ginge auch ohne Stände, gehört es laut Roberts zu den Freiheiten der modernen Literatur „to demonstrate the contingency of society” (S. 160). Besonders der Roman, auch für Roberts die Leitgattung der Moderne, lade zur Entdeckung von Kontingenz geradezu ein (S. 167). Dieser Unterscheidung des alteuropäischen und modernen Umgangs mit Kontingenz möchte ich nun an einem weiteren Beispiel der Literatur der Liebe nachgehen.

In Antoine Furetières Roman Bourgeois aus dem Jahre 1666[13] scheinen moderne und alteuropäische Formen des Umgangs mit der Liebe aufeinanderzutreffen – und das würde für den Leser bedeuten, daß jede der beiden Formen kontingent gesetzt wird, da Alternativen sichtbar werden. Die Hauptrolle in diesem Schauspiel latenter und offener Kontingenz spielt Javotte, die blutjunge und bildhübsche Tochter eines Pariser Juristen. Javotte begegnet uns zuerst in einer Kirche, ausnahmsweise unbeaufsichtigt von ihrer Mutter, obgleich gerade dieser Ort „den Mittelpunkt der gesamten galanten Bürgerwelt des Viertels bildet und, weil es da genügend Freiheit zum Schwatzen gibt, gut besucht ist.“ Für die „Stutzer und Galane“ bietet die Kirche eine einzigartige Chance, die gut bewachten „jungen Damen“ nicht nur zu sehen, sondern sogar zu sprechen (S. 19). Intime Kommunikation bedarf eben nicht nur eines Codes, der die Wahrscheinlichkeit einer gelingenden Kontaktanbahnung erhöht, sondern auch eines entsprechenden Raums. Man muß dahin gehen, wo die schönen Mädchen sind, wie schon Ovid rät.[14] Die beliebte Karmeliterkirche ist so ein Ort. Es ist immer ein „hübsches Mädchen“, das die Kollekte einsammelt und so „noch zusätzlich Publikum“ anzieht (S. 20). Ihre eigene Schönheit im Unterschied zu der ihrer Freundinnen mißt sie an der Gesamtsumme der Kollekte – daß jemand wirklich nichts als mildtätig sein wollte, wird abgeblendet.

Solche Kollekten waren nämlich ein Prüfstein für die Schönheit eines Mädchens oder die Liebe eines Mannes. Und derjenige galt als der Verliebteste, welcher das größte Geldstück gab, und die hielt man für die Schönste, welche die größte Summe zusammenbekam. (S. 20f)

Jeden Sous rechnen die Schönen ihrer Schönheit zu. Für die Verehrer der jungen Sammlerinnen bietet dies eine schöne Gelegenheit, ihr einen „Gunstbeweis“ dadurch zu erbringen, „ihr ein recht großes Geldstück auf den Sammelteller zu legen“, womit die Größe der Zuneigung von der Größe der Börse abhängig gemacht wird. Eine genauere, womöglich individuelle Beschreibung Javottes erspart Furetière sich, da nach dem Zusammenzählen der Kollekte feststehen wird, an welcher Stelle sie rangiert. Als Individuum mit einzigartiger Innenwelt kann sie so nicht wahrgenommen werden. Was immer sich hinter ihrem auf den Heller genau bestimmten Äußeren verbergen mag, es interessiert niemanden.

Nun versucht ein unleidlicher Übeltäter den sichtlichen Erfolg ihres Börsengangs zu sabotieren. „Als [dieser] sah, wie sie sich mächtig etwas darauf einbildete herumzuzeigen, daß ihr Sammelteller voller Silber- und Goldmünzen war, zog er aus seiner Tasche eine Handvoll Kupfermünzen, ließ sie, um ihr Verdruß zu bereiten, alle auf ihren Sammelteller fallen und bedeckte so die Geldstücke, mit denen sie Staat machte.“ (S. 24f) Eine heimtückische wie erfolgversprechende Attacke auf den Kurs der „schönen Sammlerin“, die denn auch „beschämt errötete“ (S. 25). In dieser Herabsetzung findet der junge, vornehm auftretende Rechtsanwalt und Beau Nicodème „eine günstige Gelegenheit“, Javotte auf sich aufmerksam zu machen, indem er ihr „eine Goldpistole bot, wobei er so tat, als ließe er sich von ihr etwas herausgeben, aber tatsächlich nur die Kupfermünzen vom Sammelteller nahm und ihr den ganzen Rest als Spende überließ.“ (S. 25) Obwohl Javotte „damals noch sehr viel Unschuld besaß oder Treuherzigkeit oder Dummheit“ – und die erheblichen Konsequenzen dieser unterschiedlichen Möglichkeiten werden überhaupt nicht ausgelotet –, erkannte sie doch „diese ungewöhnliche Form der Galanterie“ sofort und „freute sich so darüber“, daß sie „es litt“, daß Nicodème „sich ihr beim Verlassen der Kirche mit einem Kompliment näherte, welches er sich beim Warten zurechtgelegt hatte.“ (S. 25) Obschon Nicodème nicht allein das „Glück“ hatte, die erste Hürde einer Kontaktaufnahme zu Javotte derart leicht zu nehmen, sondern er sie zudem noch allein antraf, läuft seine ‚zurechtgelegte‘ Galanterie an Javottes Unkenntnis oder Unschuld auf (S. 25).[15] Jede auf sie gereimte Metapher vom ‚verschenkten Herz‘ bis zum Angebot, ihr ‚zu dienen‘, nimmt sie ohne Sinn für Ambiguitäten für bare Münze. Sie „bediene [s]ich ganz gut selbst“ (S. 27), gibt sie zur Antwort, was Nicodème in die Verlegenheit bringt, seine Phrasen so lange zu explizieren (S. 26), bis auch Javotte sie versteht, ernst nimmt und umgehend fordert, Nicodème möge „acht auf [seine] Worte“ geben, sie sei „ein ehrbares Mädchen“ (S. 27). Ihr Verehrer fühlt sich nun genötigt zu versichern, daß seine Empfindungen für sie „durch und durch wohlanständig und rein“ seien und „nur den redlichsten Absichten“ entsprängen, was Javotte nur in einen Heiratsantrag und das heißt für sie: in ein Geschäft zu übersetzen vermag:

„Dann also, Monsieur“, versetzte Javotte, „dann wollen Sie mich heiraten? Dazu müssen Sie sich aber an Papa und Mama wenden, denn eigentlich weiß ich gar nicht, was sie mit in die Ehe mitgeben.“

„Bei diesen Einzelheiten sind wir aber noch nicht“,

gibt Nicodème zurück, doch ohne Erfolg, denn Javottes Verhalten zwingt ihn dazu, „sich gleich auf das erste Anerbieten seiner Dienste hin genötigt zu sehen, seine ernsthaften Absichten zu verbürgen“ (S. 27). Wenn Javotte nicht unschuldig oder dumm oder treuherzig wäre, sondern äußerst raffiniert, hätte sie es nicht besser machen können. Sie steuert– wissend oder unwissend – den in seinem Code gefangenen Nicodème auf eine Ehe zu.

Alle „Lektionen“ der galanten Kommunikation hatte Nicodème nach dem Vorbild des „Cyrus und der Clélie“ gelernt, doch keine einzige kann er anwenden bei einer literarisch ungebildeten Partnerin, die keine seiner Offerten regelgerecht retourniert (S. 29), sondern eher geneigt scheint, „zum Notar oder Pfarrer [zu] schicken, um die Bekundung seiner Leidenschaft auch beurkunden zu lassen“ (S. 28). Javotte zerstört Nicodèmes verbindliche Unverbindlichkeit, indem sie der Kommunikation ihre Ambiguität nimmt und sie versachlicht und teleologisiert. Der Versuch galanter Interaktion mißlingt, weil Javotte ihr Ja schlicht vom Ja ihrer Eltern abhängig macht, und deren Zustimmung fußt auf rein rationalen Kriterien, die mit Liebe wenig oder eigentlich nichts zu tun haben. Statt auf Liebe, zielt alles auf eine Ehe ab. Die Rückbindung an einen „Zweck“, ihre Eheschließung samt der dafür notwendigen Verhandlungen (Mitgift) mit ihren Eltern, verurteilt alle Galanterie zum Scheitern. Nicodèmes Begehren, das mit der Ermittlung des Börsenwertes Javottes begann, muß also weiter den Geschäftsweg gehen.

Zu diesem Zweck intensiviert der Anwalt Nicodème seine beruflichen Beziehungen zu Javottes Vater Vollichon und erhält bald „freien Zugang zum Hause“ (S. 34). Dies würde im Kontext der älteren Novellen nach dem Muster Boccaccios oder Cervantes’ notwendig zur Erfüllung seiner erotischen Wünsche führen, nicht aber in einem Pariser Bürgerhaus, in dem keine Intimität möglich ist, und nicht mit Javotte, der alle Intimität undenkbar ist. Der novellistische Gedanken bekommt Nicodème erst gar nicht, und so „blieb ihm [...] nichts anderes übrig, als sich zu erklären“, zumal „die Tochter eines Prokurators für einen Rechtsanwalt immer eine Partie ist, die sich sehen lassen kann“ (S. 35). Für Nicodème führt kein anderer Weg in Javottes Bett als der, sie zu heiraten, was keine weiteren Probleme bereiten sollte, denn, um mit Knigge zu sprechen, die „Haupt-Erfordernisse des Ehestandes waren bey ihm: eine gute Versorgung und ein guter Leib.“[16] Die interessierten Parteien, also Nicodème und Vollichon, machen sich an die Ausarbeitung der Verträge, und endlich, „nachdem der Besitzstand, seine Aufteilung und alle Rechtstitel der Familie einer genauen Prüfung unterzogen, alle Klauseln hin und her erwogen waren, wurde der Ehevertrag abgeschlossen“ (S. 36). Javotte hat an all dem keinen Anteil. Der Roman läßt keinen Zweifel aufkommen, daß die Verheiratung eine primär ökonomische Operation ist, die in großer Unabhängigkeit von etwaigen persönlichen Eigenschaften oder Vorlieben der beteiligten Personen bestimmten objektiven Marktgesetzen folgt, die Furetière in einer Kurs-Tabelle festgehalten hat:

Tarif oder Bewertung gleicher Partien zur einfachen Ehestiftung:

Ein Mädchen, das 2000 oder bis zu 6000

Livres mit in die Ehe bringt hat Anspruch auf.   Einen Kaufmann im Palais, einen

Handelsgehilfen, einen Gerichtsdiener oder einen

                                                      Prozeßbevollmächtigten.

Eine mit 6000 und darüber bis                      einen Seidenhändler, Tuchmacher, städtischen Holz-

12000 Livres:                                             inspektor, Prokurator am Chatelet, einen

Haushofmeister oder Privatsekretär eines hohen Herrn.

[...]

Eine ab 100000 bis 200000 Taler:                  einen Parlamentspräsidenten, einen echten Marquis,

                                                      einen Herzog oder einen Pair. (S. 41f)

Außergewöhnliche Schönheit oder umgekehrt gewisse Makel des Mädchens können „manchmal“ zu einer Auf- oder Abwertung um eine Stufe führen.[17] „Für einen Mann dagegen trifft solches nicht zu. Seine inneren Vorzüge und Tugenden zählen überhaupt nicht. Man wird immer nur auf seinen Stand und Titel schauen“ (S. 44), also auf das, was auch wirklich zu beobachten ist. Für Kontingenz interessiert sich hier niemand, allenfalls wird man sorgfältig die Vermögensverhältnisse überprüfen. Ob die Werbung möglicherweise von Zuneigung motiviert ist, wird nicht einmal gefragt. Da derart „Geld“ und Recht (Verträge) die „Leidenschaft“ der Bürger „regulieren“ (S. 179), folgen Kontaktanbahnung und Eheschließung völlig rationalen Kriterien. Javotte und Nicodème, bzw. ihre Mitgift und sein Vermögen passen zueinander, man sollte schnell handelseinig werden. Es handelt sich um ein spieltheoretisches Problem unter rational choice Bedingungen.

III. Kontingenz und Verführung

Aber dabei bleibt es nicht. Javottes Vater Vollichon versucht, aus seinem Vertrag mit Nicodème hinaus zu gelangen, denn dessen Verhältnisse erscheinen gefährdet und ein anderer Bewerber verspricht mehr Vermögen einzubringen. Auch der unscheinbare, altväterliche Advokat Bedout wird mit ihren Eltern handelseinig, man trifft sich zur feierlichen Unterzeichnung aller „Klauseln“ des „Ehevertrags“, doch als Javotte an „die Reihe zu unterzeichnen [kam], war der Vater, der ganz auf ihren kindlichen Gehorsam gezählt hatte und ihr die Einzelheiten des ganzen Handels nicht erst mitgeteilt hatte, völlig überrascht, als sie sich weigerte, die Schreibfeder in die Hand zu nehmen.“ (S. 180) Ohne ihre schriftliche Zustimmung, soviel hatte die Kirche inzwischen durchgesetzt, kann aber die Eheschließung nicht stattfinden.[18] Die Väter haben ihre „Verheiratungskompetenz“ aus „eigener Machtvollkommenheit“ zu einem Teil an kirchliche und staatliche Instanzen verloren, die ein „explizites Einverständnis“ der Töchter zur Voraussetzung einer Verheiratung als heiliges Sakrament und „Staatsakt“ gemacht haben.[19] Ihr Nein produziert sogleich und erstmals ein Interesse für ihre Motive. Vollichon glaubt, es handele sich um eine „ehrbare Scham, die sie davor zurückhalte, und daß sie aus übertriebener Höflichkeit erst nach den anderen unterzeichnen wolle.“ Schließlich aber, als er nach wiederholter Weigerung stärker in sie dringt, antwortet sie in wohlgesetzten Worten: Sie wisse ihren Eltern Dank für die Mühe, die sie auf sich genommen hätten, ihr einen Ehegatten zu suchen, aber das hätten sie besser ihren eigenen Augen überlassen, die seien nämlich „schön genug, um ihr eine ganze Auswahl davon zu verschaffen“, eine Zeitlang wolle sie sich selbst umschauen, einen „kläglichen Advokaten“ wie „Monsieur Bedout“ würde sie zur Not aber allemal auftreiben (S. 181). Die Epoche der Unmündigkeit, in der sich die Tochter „unter Berufung auf das 4. Gebot gehorsam in den Willen des Vaters“ fügt,[20] scheint vorbei zu sein, Javotte verweigert sich nicht nur der Auswahl des Vaters, sondern erhebt sogar den Anspruch, selbst zu wählen. Als soziologischen Grund für diesen Wandel der intimen Kommunikation nennt Michael Schröter die neuen Möglichkeiten zu „relativ freiem Umgang junger Menschen beiderlei Geschlechts“ zunächst in „vornehmeren Gesellschaftsgruppen“ an „großen Höfen und in Städten“. Diese „intensivierten Kontaktmöglichkeiten“ machen es zur „Regel, daß Frauen die ihnen bestimmten Männer vor dem Abschluß des Ehevertrags kennenlernen“, was, wir hatten es schon von Huet gehört, sowohl die Werbung um die Frau wie auch die Ablehnung des Mannes möglich macht sowie einen Code erfordert, der die intime Kommunikation vor der Ehe regelt und „dem zur Tat drängenden Sexualimpuls einen Widerstand“ einfügt.[21] Auch Furetières Roman bestätigt diese These.

Javotte, deren Umgang auf die eigene Familie und dessen Lektüre auf ein „Benimm-Buch für die Jugend“ namens Civilité puérile beschränkt war (S. 31),[22] verblüfft ihre Eltern mit der Ausbildung eines eigenen Willens.

Die ganze Gesellschaft war überrascht von dieser Antwort, die man nicht aus dem Munde eines Mädchens erwartet hätte, das bis dahin in großer Unschuld und völliger Ergebenheit in den elterlichen Willen gelebt hatte. (S. 181)

Ihr Insistieren auf der Möglichkeit, Entscheidungen nicht nur zu fällen, sondern auch beide Seiten der Entscheidung zu beobachten, verdankt Javotte einem veränderten Umgang und einer anderen Art von Lektüre: den „Salons der schönen Welt“ (S. 118) und den galanten Romanen (S. 172ff), zu denen sie nur Zugang erhielt, weil sie als so gut wie verheiratet galt, sei es mit Nicodème, sei es mit Bedout (S. 117), und man ihr daher „größere Freiheit als zuvor“ ließ, um „ihr ein wenig Schliff zu geben“, was den „Kreisen der »Illustren« und »Preziösen«“ auch ausgezeichnet gelingt (S. 118). Die Literatur, die sie nun liest, hat zur Folge, daß sie die Beschlüsse ihrer Eltern für kontingent hält und umgekehrt ihre Eltern zum erstem Mal ihr Verhalten als kontingent erleben. Man könnte sagen, daß die Literatur insofern „Kontingenz freisetzt“. Wir werden noch sehen, daß diese „Freisetzung von Kontingenz“ auch noch beschleunigt wird.[23]

Furetière verfolgt Javottes Sozialisation durch Konversation und Rezeption von Romanen mit „gespannter Aufmerksamkeit“. (S. 120) und sucht nach einer überzeugenden inneren Motivation des Handlungsverlaufs, indem er sowohl die Eingebundenheit seiner Protagonisten in ihre Umwelt als auch die sich mit dieser Umwelt verändernden Chancen eigener Entscheidungen vorführt. Javotte zeigt mit ihrer Weigerung, Bedouts Frau zu werden, erstmals einen eigenen Willen; und ihre Entscheidung gegen diese Ehe folgt nicht den Einflüsterungen eines Gottes,[24] wie jene Frauen in der Binnenerzählung vom Verirrten Amor, denen die blind abgeschossene Pfeile Cupidos als Motive für gravierende Verhaltensänderungen genügen müssen, sondern resultiert aus einer persönlichen Entwicklung, ja ihrer Bildungsgeschichte. Nicht daß ihre Alternativen zum Ehevertrag mit Bedout etwa realistischer oder rationaler ausfielen – sie will einen „Mann von Stand mit Federn auf dem Hut [...] heiraten“, „eine Karosse“, „Lakaien und ein Samtkleid“, etc. –, neu ist aber, daß sie überhaupt um andere Möglichkeiten ihrer Zukunft weiß und auf dieser Grundlage entscheidet. Dies begründet die Individualität der Protagonistin, ohne die der moderne Roman undenkbar ist.[25]

Furetières Bürgerroman führt Veränderungen an Personen vor, die nicht einem entsprechenden Wandel ihrer ständischen oder natürlichen Verhältnisse (ein Knabe wird mündig, ein Mädchen heiratet, eine Frau wird Witwe, man altert) geschuldet sind, sondern einem kontingenten, gleichwohl aber wahrscheinlichen Wechselverhältnis zwischen ihrem „Inneren“ (S. 58) und ihrer Umwelt. Furetière hat die große Schönheit Javottes mehrfach betont, doch „nicht mit Sicherheit zu sagen“ vermocht, ob sie „damals noch sehr viel Unschuld besaß oder Treuherzigkeit oder Dummheit“, aber zugleich versprochen, daß darüber „im weiteren Verlauf“ besser zu „urteilen“ sei (S. 23). Dazu wird ein Blick hinter die Oberfläche nötig sein, und dafür interessiert sich alle Welt eben erst nach ihrem überraschenden Nein. Javottes Verhalten und ihre Gesprächsführung im Salon entscheidet schließlich die Frage zugunsten ihrer „Naivität“ (S. 171).[26] Ihr Unwissen, das sie einschüchtert und ihr den Mund verschließt, wird von ihr selbst bemerkt. Sie wendet sich „treuherzig“ an den Salonlöwen Pancrace, weil dieser „mit großartigem Schwur versicherte, ihr Diener zu sein“ (S. 170), mit der Bitte, ihr doch „das Buch“ zu leihen, „wo alles drin steht“, was man „reden soll“, um es „so lange [zu] studieren“, bis „ich noch mehr reden könnte als die andern“ (S. 171). In der Kunst der Konversation vermutet Javotte ein „Geheimnis“ (S. 171), über das ein Buch erschöpfend Auskunft geben könne, das sie denn „auswendig lernen“ wolle, sobald sie es von Pancrace bekäme (S. 172). Zweifellos naiv, geht sie immerhin zu recht davon aus, daß die Kunst des „Sich-Unterhaltens“[27] zu erlernen sei, und zwar aus Büchern.

Pancrace erkannte nun, daß er ein Mädchen vor sich hatte, das sich aufs Lesen verlegen wollte, bisher aber in Unwissenheit aufgewachsen war, und er glaubte, eine hübsche Gelegenheit für einen kleinen Dienst gefunden zu haben, indem er ihr Bücher schickte. So pflichtete er ihr bei, daß man in gewissem Sinne in den Büchern das finde, was in den Unterhaltungen dann vorgebracht werde, und wenn es auch nicht wortwörtlich darin stehe, so erweiterten Bücher doch den geistigen Horizont und lieferten manchen Einfall, der ihr als Stoff dienen könne für ihre Unterhaltungen. (S. 172)

Pancrace schickt ihr bald die ersten Bücher, „die fünf Bände der Astrée“, die sie vor ihrer Mutter versteckt und heimlich liest. „Sie lief aufs Zimmer, schloß sich ein und machte sich ans Lesen mit einem solchen Feuereifer, daß sie darüber Trinken und Essen vergaß. [...] So lernte sie in kurzer Zeit sehr viel“ (S. 173). Javottes einstige Abgeschlossenheit in ihrem Elternhaus verwandelt sich dank der Lektüre nun in die Privatheit ihres Closet, in dem sie nachholt, was ihre altfränkischen Eltern ihr bislang versagt haben (S. 173f); „ihre Naivität“ resultiert also nicht „aus einem Mangel an Geist, sondern an Erziehung“ (S. 175). Wie sie als Person ist, entspringt nicht irgend einer natürlichen Notwendigkeit, sondern kontingenten, von den Eltern nicht mehr zu kontrollierenden Umständen. Da die Umgangsformen der Salons tatsächlich Urfé viel zu verdanken hatten, schöpft Javotte bei der Lektüre der Astrée aus der Quelle. Pancrace versorgt die Lesesüchtige mit weiteren Romanen, „und da sie Tag und Nacht über den Büchern lag, machte sie in kurzer Zeit solche Fortschritte, daß sie die größte Plaudertasche und das koketteste Mädchen des Viertels wurde.“ (S. 176) Dieser simultane Erwerb der beiden Kernkompetenzen des Salons: Gesprächskunst und Galanterie belegt, wie sehr beide Eigenschaften aufeinander angewiesen sind. Ein tugendhaftes Mädchen schweigt, wer galant plaudert, tritt als erotischer Akteur auf.[28] Die merkliche „Veränderung“ (S. 176) Javottes führt aber nicht bloß dazu, daß sie sich selbstbewußt an der „Unterhaltung“ der Salons beteiligt (S. 175) und schließlich sogar ihren biederen Eltern in „wohlgesetzten Worten“ zu widersprechen vermag (S. 181), sondern verändert auch ihren Umgang mit Männern, den sie nun ganz nach dem Vorbild der Romane zu gestalten sucht. Sie erliegt vollständig der Gefahr einer einsamen, stillen Lektüre, deren Folgen niemand zu kontrollieren vermag. Obschon ihre Interaktionen weiterhin von Mutter und Tante gut überwacht werden, helfen diese Maßnahmen wenig gegen das heimliche „Gift“ der unbeaufsichtigten Romanlektüre (S. 174). Es ist eine identifikatorische Lektüre, die Javotte betreibt, sie stellt sich „Céladon, den Helden ihres Romans“ im „Aussehen vor wie Pancrace, der ihr von allen, die sie kannte, am besten gefiel“ (S. 173). Da sie selbst nicht ohne Eitelkeit ist, fällt es ihr nicht schwer, sich selbst an der Stelle der Astrée zu sehen, die im „Roman als vollendete Schönheit beschrieben wird“ (S. 173). Dieser zunächst rein äußerlichen Vorstellung folgt eine Übertragung der Handlungen und Gespräche der Romanhelden auf ihr eigenes Leben, erst in der Imagination, dann in Wirklichkeit. Pancrace merkt schon bald, daß er in Céladon „einen überaus galanten Fürsprecher“ hat, der „in seiner Abwesenheit für ihn den Hof machte“ (S. 174). Allein durch ihre Lektüre, ganz „ohne sein Zutun“, war daher das „Werk“ ihrer Verführung bereits weit fortgeschritten (S. 175). Man könnte hier geradezu von Selbstverführung durch Lektüre sprechen.

Pancrace wird nachhelfen. Sobald er die Neigung Javottes erkannt hat, die Astrée nachzuahmen, liest er den Roman „von neuem und studierte [ihn] so genau, daß es ihm ganz vorzüglich gelang, den Céladon nachzuahmen.“ (S. 176) Was „unmerklich“ von Javotte wie „ein Gift“ Besitz ergriffen und sie sozusagen ohne bestimmtes Objekt außerhalb der Fiktion „sterblich verliebt“ gemacht hat (S. 174), wird von Pancrace mit einem darauf abgestimmten Rollenspiel verstärkt und schließlich benutzt. Es ist genau dieses Treffen von Verführung und Verstellung auf eine naive Romanrezeption, vor dem die Poetologie des Romans immer gewarnt hat.[29]

Javotte stellt einerseits einen modernen Typ von Frau dar, denn sie läßt Bedout auf ihrem Nein auflaufen und versorgt so die Kontaktanbahnung mit Kontingenz. Anderseits trifft ihr frisch errichtetes Bollwerk auf einen Belagerungskünstler, der mit der Hilfe von Romanlektüren ihre dank Romanlektüren neu erworbenen Freiheiten in ein Planspiel mit gewissem Ausgang überführt. „Zusätzlich zu den Beobachtungen von Kontingenz entstehen“ also – und zwar „gerade in der Literatur – neue Szenarien von Fremdsteuerung.“[30] Frauen, die derart kalkulierbar sind, nennt die Marquise de Merteuil „Lustmaschinen“, von denen „bald alle Welt Trieb- und Schwungkraft kennt“ (S. 313), was ihr Verhalten berechenbar macht wie den Ausgang eines physikalischen Experiments. Der Vicomte de Valmont nennt die Personen, die er nach Belieben manipuliert, „Automaten“ (S. 293). Die Voraussetzung für die Programmierung dieser Maschinen ist genau wie bei Furetières Javotte die Kenntnis des Programms, der Lektüre also, das Programm für die Automaten Cécile und Danceny selbst heißt dann wiederum „Roman“ (S. 26, 149, 158, 307). „Frau von Merteuil“, schreibt denn auch Cécile Volanges an ihre Freundin Sophie, „hat mir auch gesagt, sie würde mir Bücher leihen, die von dem allen handeln und die mich anleiten werden, wie ich mich [...] zu benehmen habe, und auch, wie ich besser schreiben soll als bisher.“ (S. 84) Kein Verführer wird für eine Frau so gefährlich sein wie jener, der dieselben Romane gelesen hat wie sie. Im Tagebuch eines Verführers notiert Johannes, die „Liebe in Romanen“ diene vor allem „dazu, die Aufgabe zu verkürzen“,[31] und zwar sowohl die des Verführers als auch die der Frau. Javotte, die nach ihrer Weigerung, sich mit Bedout zu verbinden, von ihrem Vater in ein Kloster eingewiesen wird, liest dort „alle Romane und galanten Bücher von Rang und Namen“ (S. 191), um sich dann von Pancrace entführen zu lassen (S. 192), vermutlich, um auf seiner „Garnison“ jenseits der Grenze seine Mätresse zu werden (S. 194).[32] Furetières Roman zeigt dem Leser die Möglichkeit von zweierlei Lektüren auf, einer naiven, die als Beobachtung erster Ordnung den Roman als Handlungsanleitung leichtgläubig rezipiert, und einer distanzierten Beobachtung zweiter Ordnung, die um diese naive Lektüre weiß und die auf ihrer Basis zu erwartenden Erwartungen simuliert. Ihre Romanlektüre hat sie zwar vor einer langweiligen Konvenienzehe mit Bedout oder Nicodème bewahrt, nicht aber vor ihrer ganz romanhaften Entführung und Verführung durch Pancrace. Die Festung ist genommen – aber es ist eben nicht so, daß ihre Mutter einmal nicht aufgepaßt hätte, als Nicodème zu Besuch war, sondern es ist Javotte selbst, die vor Pancrace kapituliert hat.

IV. Steuerung auf kontingentem Terrain: Interception & Intelligence

Die Pointe der Liebe als Passion besteht darin, das neue Recht zum Nein der Frau ernst zu nehmen. Dieses Nein wird als auch anders mögliche Entscheidung der Frau zugerechnet – um nicht zu sagen, es wird ihr vorgeworfen. Gerade weil sie auch Ja sagen könnte, ist ihr Nein grausam. Weder Mr. B in Richardsons Pamela noch Lovelace in Clarissa, weder Choderlos’ Valmont noch La Roches Lord Derby akzeptieren dieses Nein – und die Romane erzählen die Geschichte ihrer Versuche, „opposition and resistance“ der Frau in „compliance“ zu verwandeln, um es mit den Worten von Lovelace und Clarissa zu formulieren.[33] Das Nein der Frau wird nur als vorläufiger Widerstand angesehen, der letztlich gebrochen werden wird, denn, so Lovelace, „there is no woman in the world who can resist a bold and resolute lover.“ (S. 560) Der Verführer setzt der Kontingenz seine „stratagems” (S. 1023) und Künste (S. 560) entgegen. Während Frauen wie Clarissa erstmals über sich sagen können: „[there is] nobody to control me“ (S. 624) und damit ihren neuen Entscheidungsspielraum meinen, der von allen Bewerbern als Kontingenz erlebt wird, versuchen die Verführer die Kontrolle zurückzugewinnen. She has now but one choice“, schreibt Lovelace über Clarissa, „and that’s to be mine - An act of necessity” (S. 632). Auf die “contingencies” der ungewohnten Lage reagieren die Damen und Herren der Liebesromane mit einem Kampf um “Command” und “Control”, um vielbenutzte Vokabeln Charlotte Brontёs zu verwenden. „Intelligence“, schreibt Eva Horn in ihrem Aufsatz „Secret Intelligence. Zur Epistemologie der Nachrichtendienste“, Intelligence

„ist immer Erkenntnis und Täuschung gleichermaßen, es ist ein Kampf um einen Wissensvorsprung, ein Spiel von Tarnung und Enttarnung, Information und Desinformation. Wissen ist Waffe in dem Maße, wie es gegen den Feind gewendet werden kann und einen strategischen Vorteil verschafft. Nicht Wahrheit oder Falschheit ist dabei das Kriterium, sondern Wirksamkeit. Es ist immer positioniert, in den Händen des Freundes oder des Feindes, und damit unverrückbar an die Seite geknüpft, die es einsetzt. Das Wissen der Intelligence ist nie »objektiv«, sondern stets strategisch.“[34]

Der information warfare der Männer setzt alle Mittel der Secret Intelligence, die Horn auflistet, gegen die Frauen ein: „Geheimhaltung und Geheimnisverrat, Desinformation und Vertragsbruch, Propaganda und Konspiration“. Es geht um die Ausforschung des „Anderen“, um die Reduktion von Komplexität, um das Weißen einer Black-box. Die Kenntnis der Literatur der Frauen wurde schon betont. Ein weiteres, wichtiges Mittel ist die Interzeption. „But somebody stole my Letter, and I know not what is become of it. It was a very long one“, stellt Pamela beunruhigt fest.[35] Mr. B überwacht in der Tat ihren gesamten Briefverkehr.[36] Auch Lovelace verschafft sich Kenntnis über den intimen Briefwechsel Clarissas mit Miss Howe, der ihn über die Einschätzung ihrer Lage und ihre offensten Auffassungen über ihn informiert. Er muß bei der heimlichen Lektüre von Miss Howes Briefen erfahren, daß eine Heirat mit ihm notgedrungen durchaus in Frage kommen soll. „I shall make great use of this letter“, schreibt Lovelace an Belford (S. 632). Er beginnt damit, nach dem Vorbild der berüchtigten „fake“ Hochzeit Lord Oxfords mit Hester Davenports eine Scheinheirat vorzubereiten. Lord Derby in Sophie von La Roches Roman Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim[37] erwirbt sich das Vertrauen der Zofe Sophies und besticht den „Postoffizier“, um ihre Vorzimmer und ihren Briefwechsel zu überwachen (S. 159). Seine Spione sind überall und unentdeckt dort, wo Sophie ist. Daher ist der rogue Derby in der gesamten Residenz der einzige, der weiß, daß Sophie sich nicht zur Mätresse des Fürsten machen ließ, sondern stets tugendhaft widerstanden hat. Diese Menschenkenntnis entspringt nicht irgendeiner Einfühlung, die andere Charaktere dieses empfindsamen Romans für sich in Anspruch nehmen, sondern allein gut bezahlten Nachrichtendiensten. Aus seiner Spionagetätigkeit erfährt er, wie er ihren Erwartungen zu entsprechen vermag. Auch er greift, erfolgreich, zum Mittel der fake marriage, um von der derart getäuschten Sophie seine Rechte als Ehemann einzufordern. Selbstverständlich beantwortet auch der Vicomte de Valmont die Briefe der Präsidentin de Trouvel erst, „nachdem ich ihre Papiere untersucht“ hatte (S. 122). Ihre gesamte Post mit vertrauten Freundinnen wird kontrolliert (S. 96), ihr Briefkasten wird heimlich untersucht, die Zofen werden korrumpiert und bestochen. Sie wird vollkommen überwacht. Umgekehrt wissen Valmont, Lovelace und Derby genau, wann sie scheinbar alleine sind, tatsächlich aber observiert werden, um dann das zu simulieren, von dem sie wissen, daß es Trouvel, Clarissa oder Sophie zu schätzen wissen. Dank überlegener counter intelligence kann der weibliche Wunsch nach Authentizität, der mit der Galanterie entsteht, befriedigt werden. Während die Damen nun zu wissen meinen, mit wem sie es wahrhaftig zu tun haben, treffen ihre Observationen tatsächlich auf nichts als auf Inszenierungen. Lovelace, Valmont und Derby dagegen durchleuchten ihre Opfer bis zur vollständigen Kenntnis ihrer Erwartungen, Neigungen und Skrupel. Die Frauen werden so in Trivialmaschinen verwandelt, die auf einen bestimmten Input mit einem bestimmten Output reagieren. Valmont hat sie „Automaten“ genannt. Lovelace plant seine Kabalen gegen Clarissa mit Sinn für Kontingenzen, „that is to say, as to the fact, to the probable, and to the possible.“ (S. 762) Interzeption setzt ihn in Kenntnis der Fakten, und Simulation soll dann das Mögliche ins Wahrscheinliche verwandeln.

V. Das Scheitern der Selbstkontrolle

Der skizzierte Versuch der Männer, die moderne Kontingenz der weiblichen Position in der Intimkommunikation in Modelle der Steuerung und Kontrolle rückzubinden, scheitern. Sie scheitern zumindest in den zitierten Romanen des 18. Jahrhunderts. Der Grund dieses Scheiterns liegt nicht etwa darin, daß Strategie und Taktik falsch gewählt wären, noch laufen Lovelace, Valmont und Derby an den typischen Unsicherheiten aller Kriegsführung auf. Sie scheitern deshalb, und bezahlen ihr Scheitern mit ihrem Leben, weil sie die Kontrolle über sich selbst verlieren und sich, statt kühl ihre Maßnahmen zu kalkulieren und eiskalt umzusetzen, in die Frauen verlieben. Alle Machinationen, die sie gegen Clarissa, Trouvel oder Sophie in Stellung bringen, belegen am Ende nur, daß ausgerechnet diese ganz bestimmten Frauen jene Individualität und Einzigartigkeit aufweisen, welche soeben zur Voraussetzung moderner Liebe geworden ist. Ich möchte dies zum Abschluß kurz am Beispiel Valmonts vorführen:

Im siebzigsten Brief der Sammlung, am 11. September, meldet der Vicomte an die Marquise, seine „belle Prude“ habe ihm „un projet de capitulation“ übersendet.[38] Damit wäre seine Strategie der Simulation passionierter Liebe aufgegangen, und sein Verführungsprojekt könnte nun zum Abschluß gebracht werden. Doch damit möchte sich Valmont nicht begnügen. Er schreibt:

„Mais mois, qui aime les méthodes nouvelles et difficiles,je ne prétends pas l’en tenir quitte à si bon marché; et assurément je n’aurai pas pris tant de peine auprès d’elle, pour terminer par une séduction ordinaire. “

Daß er auf originelle und interessante Methoden setzt, teilt er mit dem Roman seiner Zeit; umgekehrt werden Romane wie Verführungsversuche, deren Verlauf vorhersehbar sind, als langweilig abgelehnt.[39] Die Marquise weist auf die Geschwindigkeit der Koevolution von Liebe und Roman hin, wenn sie Danceny vorhält, sein Diskurs sei Romanen entlehnt, deren „Ausdrucksweise“ bereits „zu Formeln“ erstarrt seien. Russische Formalisten würden hier vom Prozeß der Automatisierung sprechen – und auf Deautomatisierungsschübe warten. Während die „Automaten“ der Liebe ihr Handeln von Büchern anleiten lassen (S. 84), weichen die Strategen der Liebe genau von diesen Anleitungen ab. Was plant nun also Valmont?

„Mon projet [...] est qu’elle sente bien la valeur et l’étendue de chacun de sacrifices qu’elle me fera; de ne pas la conduire si vite que le remords ne puisse la suivre; de faire expirer sa vertu dans une lente agonie“ (S. 167)

Frau von Trouvel soll weder überrumpelt werden noch sich einfach hingeben. Die Präsidentin soll nicht verderbt werden, wie Cécile, sondern bei fortexistierenden religiösen und moralischen Vorurteilen besiegt werden. Sie soll ihre Liebe schenken und zugleich überzeugt sein, daß dies eine große Sünde sei (S. 36, 72, 180). Auch all dies gelingt dem innovativen Valmont, und doch müssen seine Steuerungsversuche letztlich scheitern, denn er verliebt sich. „Ja Vicomte“, schreibt ihm die Marquise de Merteuil, „Sie liebten Frau von Trouvel sehr und lieben sie sogar noch. Sie lieben sie wahnsinnig; weil ich Sie aber zum Spaß damit beschämte, haben Sie sie tapfer zum Opfer gebracht.“ (S. 420) Sie hat recht. In seinen Briefen findet sie bei genauester Lektüre überall nur „sichere Symptome von Liebe“ (S. 395), und zwar einer Liebe, die Frau von Trouvel nicht mehr mit anderen Frauen vergleichen möchte, weil sie einzigartig ist. Sie ist einzigartig gerade in der Liebe, die sie Valmont entgegenbringt[40] und die genuin modern im Sinne Luhmanns ist. Sie ist für Valmont eine „Frau, die aus der Liebe ihr alles machte und in der Liebe wieder nur den Geliebten sah“ (S. 392). Liebe bedeutet nun die „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“. Diese Form der Liebe setzt in der Tat auf die Individualität des Partners und auf „das Lieben des Liebens, das sich sein Objekt sucht und in der Gegenliebe soziale Reflexivität aufbaut“, wie Luhmann zur romantischen Liebe schreibt.[41] Weiter schreibt Valmont: „Nun werden Sie zugeben, solche Frauen sind selten; und ich darf glauben, daß ich, ohne diese hier, vielleicht nie einer begegnet wäre.“ (S. 392) Die oder keine, heißt es nun. Valmont liebt, und die Form der Intimkommunikation stützt sich auf Personalisierung und Individualität statt auf „Vergnügen“ oder „Begierde“, die beiden einzigen „bewegenden Kräfte“, welche die Marquise akzeptiert (S. 386).

Dieser Umschlag einer kühl kalkulierten Verführungsstrategie in quasi-romantische Liebe ist nun aber typisch für die erwähnten Romane. Gerade weil sich weder Clarissa oder Sophie von Sternheim noch Frau von Trouvel zum eigenen Vergnügen hingeben, geschweige denn sich gegen äußere Güter verkaufen, machen sie immer raffiniertere Anschläge notwendig, um ihnen immer wieder zu widerstehen – und sich gerade dadurch als einzigartig auszuweisen. Lovelace bemerkt nach unzähligen Verführungsversuchen, die Clarissa pariert, er laufe Gefahr, sie tatsächlich zu heiraten: „What a figure should I make in the rakish annaly, if at last I should be caught in my own gin?(S. 671) Als würde er den Fall von Javotte und Nicodème kommentieren, schreibt Lovelace: „Many a faint-hearted man, when he began in jest, or only designed to ape gallantry, has been forced into earnest“. Und obwohl er die Gefahr erkannt hat, halt er sich nach wie vor für gefährdet: “I [...] am so frequently in doubt of myself, and know not what to make of the matter.“ (S. 671) Die Versuche, mit Strategien der Steuerung der freigesetzten Kontingenz intimer Kommunikation zu begegnen, scheitern so in der Bestätigung moderner, auf doppelte Kontingenz, Individualität und Sonderhorizonte gestützter Liebe. Es gehört zu den Paradoxien dieser Entwicklung, daß die Individualisierung der Liebessemantik ausgerechnet den raffiniertesten Versuchen zu verdanken ist, Frauen noch einmal in Automaten zurückzuverwandeln.



[1] Wir zitieren beide Texte nach den vereint bei Metzler erschienenen Faksimiledrucken der Huetschen Erstausgabe (1670) und der Happelschen Übersetzung (1682) Stuttgart 1966. Die Seitenzahl verweist auf die Stelle im faksimilierten Original.

[2] Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 658.

[3] Hellmuth Petriconi, Die verführte Unschuld, Hamburg 1953, S. 36 u. 21.

[4] Hannelore Schlaffer belegt in Poetik der Novelle, Stuttgart, Weimar 1993, S. 24, 34 ausführlich die Parallelität zwischen Haus und Frau bei Boccaccio: wer erfolgreich in das Haus eindringt, erhält auch die dort behütete Frau. Die Essenz der Novelle besteht hier ganz im kühnen Ergreifen einer Gelegenheit – für die langsame Kontaktanbahnung zwischen Mann und Frau, für einen „Roman“, ist hier kein Platz.

[5] Miguel de Cervantes, Der eifersüchtige Extremadurer, in: Novellen (1613), Frankfurt/M 1997, S. 320-364.

[6] Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M (2. Auflage) 1988, S. 97f.

[7] Ovid, Ars amatoria, Vs. 603.

[8] Luhmann, Liebe als Passion, S. 98.

[9] Natürlich wird die Entscheidungsfreiheit der Frau von Huet nur festgestellt und nicht begründet. Sie betrifft nur „Damen“ der Oberschichten und verdankt sich vermutlich der langsamen Durchsetzung der katholischen Position, daß eine Frau zu einem Sakrament nicht gezwungen werden darf. Daher wird vor der Ehe eine Werbung um die Zustimmung der Frau nötig, wo vorher die Erlaubnis des Vaters hinreichend war. Die dafür entwickelten Werbestrategien werden dann auch für intime Kommunikation außerhalb der Ehe unverzichtbar. Vgl. Michael Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe“. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsverträge vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, Frankfurt/M 1985.

[10] Also werden schon im 17. Jahrhundert, lange vor der Psychologisierung des Menschen und der Entdeckung der Individualität im 18. Jahrhundert, entscheidende Weichenstellungen für die Entwicklung des Romans gestellt, deren Ursachen in der Intimsemantik, nicht aber in der Anthropologie zu suchen sind. Die von Huet beschriebene neuartige Codierung der Liebe liefert Vorbild und Struktur für eine Genese mit offenem Horizont.

[11] Choderlos de Laclos, Schlimme Liebschaften (1782), Frankfurt/M 1972, S. 94.

[12] David Roberts, Art & Enlightment. Aesthetic Theory after Adorno, Lincoln and London 1991.

[13] Antoine Furetière, Der Bürgerroman. Le Roman Bourgeois, ouvrage comique (1666), Basel, Frankfurt/M 1992.

[14] „Tu quoque, materiam longo qui quaeris amori, ante frequens quo sit disce puella loco“. Ars amatoria, Vs. 49f. Überhaupt scheint Ovid auf das Gesetz der großen Zahl zu vertrauen, worin sich sein Gespür für Wahrscheinlichkeiten zeigt.

[15] Zum Gegensatz von Unschuld und Tugend vgl. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 437-440. Die tugendhafte Frau weiß um die Gefahr, in der sie schwebt, und widersteht ihr. Die unschuldige Frau dagegen ist sich ihrer Gefährdung gar nicht bewußt.

[16] Adolph Freiherr Knigge, Die Reise nach Braunschweig (1792), in: Ausgewählte Werke in zehn Bänden. Bd. 3, Hannover 1992, S. 260.

[17] Für den Realismus dieser Tabelle vgl. Lawrence Stone, Heirat und Ehe im englischen Adel des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Heidi Rosenbaum (Hrsg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt/M 1978, S. 444-479, S. 453f.

[18] Darum geht es auch in Clarissa.

[19] Michael Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe“. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsverträge vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, Frankfurt/M 1985, S. 396f, S. 392, S. 396.

[20] Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe“, S. 397.

[21] Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe“, S. 397.

[22] „Einsperrung“ und „Bildungsentzug“ sind nachgerade klassische Vorsichtmaßnahmen, um die Unschuld junger Frauen zu bewahren. (Joachim Schulze, Hahnrei und verliebter Ehemann. Höfische und »bürgerliche« Einstellung zu Ehe, Liebe und Geselligkeit in der französischen Komödie zwischen 1661 und 1750, in: Rudolf Behrens, Udo L. Figge (Hrsg.), Entgrenzungen. Studien zur Geschichte kultureller Grenzüberschreitungen, Würzburg 1992, S. 201-220, S. 203).

[23] Vgl. Torsten Hahn /Erich Kleinschmidt, Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment, Kurzexposé/Tagungsvorschlag für 2003. Und zwar dann, wenn alle lesen – und das eigene Verhalten von dem abweichen muß, was der andere gelesen hat, wenn man originell sein und sich nicht anhören will, man rede wie ein Buch, ein altes nämlich.

[24] Bzw. den „Grillen im Ohr“, die ihr etwas flüstern (S. 181).

[25] „Tout le monde se ressemble [...] voilà pour-quoi nous n’aurons jamais de romans domestiques.“ Die Engländer seien dagegen „particulier“. Die französischen Sitten seien der Individualität nicht günstig, im Gegensatz zu den englischen, vermutet Baron Grimm, weshalb der moderne Roman in England zu finden sei, während er in Frankreich abgelehnt würde. (Grimm, Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister etc., hrsg. v. M. Tourneux, Paris 1877-1882, Bd. II, S. 268).

[26] Der Roman folgt der im 17. Jahrhundert wichtigen Unterscheidung „prudence / naïveté“. Vgl. Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 111.

[27] Vgl. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 200.

[28] Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 19 hat zurecht bemerkt, daß in der „Salonkultur“ die „Tugenden der hohen Liebe, Keuschheit und Treue“ nur als „Zirkulationshemmnis“ wirken. Bei Javotte hat die Lektüre alle diese Hemmnisse beseitigt, so daß sie nun ihren Beitrag zur Zirkulation zu leisten vermag: im Gespräch – und als Geliebte.

[29] Etwa Georg Phillip Harsdörffer, Frauen-Zimmer-Gespächspiele, I. Theil, Nürnberg 1644, S. 230-272, S. 236f.

[30] Vgl. Torsten Hahn /Erich Kleinschmidt, Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment, Kurzexposé/Tagungsvorschlag für 2003.

[31] Sören Kierkegaard, Tagebuch eines Verführers, Frankfurt/M 1983, S. 72.

[32] Vgl. die gleiche Abfolge von Lektüre, Entführung und Verführung bei Knigge, Das Zauberschloß (1791): hinter „der Maske eines Hausfreundes“ legte ein Bösewicht „seinen schändlichen Plan auf das Weib an, erhitzte ihre Phantasie und verderbte ihre Sitten durch gefährliche Lectüre, verleitete sie endlich, ihrem Manne zu entlaufen“ (Ausgewählte Werke, Bd. 3, S. 146.

[33] Samuel Richardson, Clarissa, S. 413, S. 1116.

[34] In: Rudolf Maresch und Niels Werber (Hrsg.), Raum. Wissen. Macht, Frankfurt/M 2002,

[35] Samuel Richardson, Pamela vol. 1, S. 34.

[36] Die Lektüre ihrer Briefe wird ihn dann schließlich dazu bringen, Pamela zu lieben und zu heiraten.

[37] Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Stuttgart 1964.

[38] Choderlos de Laclos, Les Liaison dangereuses, Paris 1993, S. 166.

[39] Vgl. Laclos, Schlimme Liebschaften, S. 207, 355.

[40] Vgl. den 132. Brief.

[41] Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 30, S. 174.