Rudolf Stichweh 



Der Raum der Weltgesellschaft 

Klassische Kriege, neue Konflikte: Das globale System der Nationalstaaten und die Frage der Gewalt 

Kürzlich hat Niels Werber systemtheoretische Analysen der Weltgesellschaft kritisiert, weil sie Gewalt und Krieg, Territorialität und Raum und schließlich die soziale Relevanz des Körpers nicht angemessen einzubeziehen bereit seien (vgl. FR v. 11. 9. 01). Nun würde kein Soziologe aus der Existenz von Konflikt und Kriegen, Gewalt und Terror auf die Nichtexistenz einer Weltgesellschaft schließen. Es ist eine der ältesten Einsichten der Soziologie, dass Konflikt und Gewalt gesellschaftsbildend wirken. Wenn also Krieg, Konflikt und Terror an der Globalisierung von Kommunikation teilnehmen sollten, würde dies zwar eventuell vorhandene harmonische Bilder der Weltgesellschaft dementieren, aber in keiner Weise auf den Zerfall dieses Systems hindeuten.

Schon im 20. Jahrhundert haben zwei Weltkriege die Fähigkeit der sozialen Form Krieg demonstriert, entlegene Regionen und Populationen in globale Kommunikationszusammenhänge hineinzuziehen. Viele Einwohner des Hochlandes von Neuguinea, der menschheitsgeschichtlich letzten überraschend entdeckten großen Population im 20. Jahrhundert, die im Augenblick des ersten Kontakts Mitte der dreißiger Jahre fassungslos den australischen Fremden gegenüberstanden, die sie nur als die eigenen zurückgekehrten Ahnen denken konnten, haben knapp zehn Jahre später auf australischer Seite im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Interviewern in den sechziger Jahren, die sie nach ihren Erinnerungen an den ersten Kontakt mit der Weltzivilisation befragten, saßen sie häufig mit ihren Weltkriegsauszeichnungen geschmückt gegenüber.

Die an die Theorie der Weltgesellschaft adressierte Erwartung, sie müsse in der Lage sein, die Form von gewaltsamen Konflikten anzugeben, die sie in diesem System für wahrscheinlich hält, ist legitim, und die Arbeit an dieser Frage wie an den meisten Fragen der Globalisierungstheorie beginnt eigentlich erst.

Das System der Nationalstaaten, das sich erst seit dem Demokratisierungsprozess der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts als eine universelle Form von Politik durchgesetzt hat, ist eine der interessanten Strukturen der Weltgesellschaft. Bei allen Unterschieden der Größe und der Macht, die Nationalstaaten voneinander trennen, genießt jedes Element in diesem System dieselbe Form von Legitimität. Es ist im System der Nationalstaaten kaum noch möglich, für Angriffe gegen andere Nationalstaaten Zustimmung und Legitimität zu beschaffen. Der Krieg gegen den Irak war nur möglich, weil der Irak zuvor das Territorium eines anderen Nationalstaats überfallen und vollständig vereinnahmt hatte, und die Sieger in diesem Krieg haben dann auch darauf verzichtet, dem Irak eine neue innere politische Ordnung zu geben, unter anderem, weil dieser Versuch ihre fragile Koalition zerstört hätte. Nachdem noch im frühneuzeitlichen Europa die Frage, ob man das Territorium eines anderen Staates besetzen sollte, eher eine Frage der praktischen Klugheit war - wird man das eroberte Territorium denn auch verteidigen können? -, sind diese Limitationen der Aggression historisch neue und überraschende Umstände.

Eine institutionelle Ordnung dieses Typs garantiert natürlich nicht, dass sie nicht immer wieder verletzt wird, genau so wenig wie das Strafrecht die Kriminalität zum Verschwinden bringt, aber sie macht einen Unterschied. Es spricht insofern einiges dafür, dass die kriegerische Gewalt zwischen den Nationalstaaten nicht mit dem Wachstum des Systems der Weltgesellschaft zunehmen wird, auch wenn eine solche vorsichtige Diagnose katastrophale Verläufe im Einzelfall (angesichts der Wirkungsfähigkeit moderner Technologien) nicht ausschließen kann.

In zwei Hinsichten aber wird die globale Institutionalisierung des Nationalstaats zur Quelle neuer oder fortdauernder Formen von Gewalt. Die institutionelle Garantie des Nationalstaats im politischen System der Weltgesellschaft schützt die Bürger des einzelnen Staats nicht vor der Gewalt ihrer eigenen Regierung. In gewisser Hinsicht bleiben sie hier schutzlos, und die anderen Staaten erlegen sich einen Interventionsverzicht auf. Normen, Rechtskorpora (Menschenrechte, internationales Strafrecht) und neue Interventionsformen, die daran etwas ändern könnten, entstehen nur sehr langsam, funktionieren eher post hoc (als Sanktionen nach dem Untergang des jeweiligen Regimes) und kollidieren immer wieder mit der institutionellen Garantie des Nationalstaates. Daran ändert auch die globale Durchsetzung von Wohlfahrtsstaatlichkeit nichts, die im Weltmaßstab ja nur bedeutet, dass kein Staat sich heute noch über die Ausübung von Herrschaft über seine Untertanen definiert, dass es sich vielmehr überall in der Welt um die Konzentration politischer Macht um des Wohls der Bevölkerung willen handeln soll. Aber dieses Wohl der Bevölkerung lässt sehr eigenwillige Interpretationen zu, und die Interpretationskompetenz liegt eben im einzelnen Nationalstaat und bei den ihn dominierenden Gruppen.

Die zweite neue oder intensivierte Quelle von Gewalt hat mit der Nation als der Kernstruktur des Nationalstaats zu tun. Wenn eine national-ethnische Gruppe als nicht zugehörig wahrgenommen wird oder sich selbst als im falschen Staat platziert empfindet, gewinnen Verfolgung und Sezession leichter den Anschein von Plausibilität und Legitimität und werden zum Ursprung kriegerischer Gewalt, die als Bürgerkrieg oder als zwischenstaatlicher Krieg auftreten kann. In diesem Fall können dann auch externe Interventionen als gerechtfertigt erscheinen. Die Auflösung der Sowjetunion als des letzten transnationalen Weltreichs hat diese Gewaltpotentiale seither vielfach dokumentiert.

Bisher hat dieses Argument mit dem Nationalstaat ein Strukturelement betont, das seit dem 18. Jahrhundert entsteht, und zwar im Rahmen der im Spätmittelalter beginnenden Geschichte der Weltgesellschaft. Ein Strukturelement, das ein charakteristisches Produkt globaler Vergesellschaftung darstellt und das andererseits in der gegenwärtigen Situation der Weltgesellschaft auch an Bedeutung verliert. Neben die Politik treten zunehmend viele autonome Funktionssysteme von der Wirtschaft bis zum Tourismus und Sport. Und neben den Staat und seine Verwaltungen und Parteien treten trans-, para- und substaatliche Formen politischer Macht als internationale Regimes, global tätige Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, soziale Bewegungen, transnationale Netzwerke und andere mehr. Die Frage ist, welche Potentiale gewalttätigen Konflikts in diesen neuen Strukturbildungen stecken. Ist vielleicht der Terror, den wir in diesen Tagen in einer bis dahin ungekannten Größenordnung erleben, die globale Form politischer Gewalt im Zeitalter der Zurückdrängung des gleichzeitig universell gewordenen Nationalstaats durch parallele Formen der Strukturbildung?

Vieles spricht für eine bejahende Antwort auf diese Frage. Es ist offensichtlich, dass die Effektivität des Terrors wie auch anderer Formen globaler Kommunikation darin liegt, dass er die strengen Kopplungen der Strukturform Organisation (z.B. Hisbollah, GIA) mit den losen Kopplungen globaler Netzwerke (vielleicht Al Qaeda) vereint - und schließlich Netzwerke zweiter Ordnung aus diesen Organisationen und Netzwerken bildet. An diese Netzwerke können staatliche Organisationen assoziiert werden, oder Staaten mögen diese Netzwerke als Camouflage nutzen, aber entscheidend ist, dass keine Organisation und kein Staat für den Bestand der einmal existierenden Netzwerke entscheidend ist. Staaten und Regionen mögen als Unterstützer dieser Netzwerke wieder ausfallen und können dann durch Staaten und Organisationen aus anderen Regionen der Welt ersetzt werden. Das Netzwerk ist hinreichend ortsunabhängig und kann durch Hinzukommen und Ausfallen von Netzwerkknoten seine Schwerpunkte verschieben, ohne dass dies noch als ein einigermaßen gut zu bestimmender räumlicher Vorgang gedacht werden könnte.

Gegen ein solches Netzwerk wird ein Staat kaum einen klassischen Krieg führen können. Ein Krieg, der am Ende immer darauf zielt, ein Territorium zu besetzen oder zu befreien, ist ein ungeeignetes Mittel angesichts eines Netzwerks, das sich von einer räumlichen Verortung unabhängig machen kann. Demgegenüber kann eine Konzentration auf strategische Personen, die heterogene Bereiche des Netzwerks miteinander verbinden und die in dieser Funktion (wegen persönlicher Eigenschaften und wegen des in diese Personen inkorporierten Wissens) nicht leicht ersetzbar sind, von einer gewissen Effektivität sein, wenn es denn eine Technik gibt, dieser Personen habhaft zu werden. Wenn man aber für diesen letzteren Erfolg Kriege führen muss, die in ihren Effekten Millionen von Menschen in die Affinität zum Terror treiben, schafft man zugleich die Infrastrukturen für die Regeneration des Terrors. Insofern spricht eigentlich alles für punktuelle polizeiliche, geheimdienstliche und militärische Interventionen, die die Netzwerke an Hunderten und Tausenden von Punkten unterbrechen, so dass in diesen Netzwerken die Fähigkeit zur Organisation von Handlungen verlorengeht.

Diese Überlegungen bestätigen nicht die große Bedeutung des physischen Raums, die Niels Werber gegen die Systemtheorie einmahnen zu müssen glaubt. Während das klassische Mittel des Krieges in der Tat auf die Kontrolle eines Raums (Luftraum, Meere und Territorien) zielte, ist der Terrorismus weder im Raum verortet noch durch Kontrolle des Raums auszuschalten, und er findet die Symbole, an denen er seinen Zerstörungswillen exekutiert, bei Bedarf an beliebigen Orten. Gewiss gibt es privilegierte Symbole, und auch das ist ja eine der Besonderheiten des 11. September 2001, dass der Terror tatsächlich symbolische Zentren von Funktionssystemen und Modernität zerstört hat, was im Resultat die Dezentralisierung von Funktionssystemen und den Funktionsverlust der großen Stadt als Paradigma von Modernität vorantreiben wird.

Unrecht hat Werber auch darin, dass er die These vom Zusammenstoß der Zivilisationen räumlich interpretiert. Selbst wenn Huntingtons Auslegung der gegenwärtigen Weltsituation richtig wäre, würde sie ja eine Lage beschreiben, in der die einander gegenüberstehenden Kulturen sich zugleich im Raum durchdringen, weil sie nicht mehr durch räumliche Differenzen getrennt werden können und gerade diese Nichttrennbarkeit im Raum der Grund für die Schärfe des Konflikts zwischen den Kulturen wäre.

Nun ist aber der Holismus der irreduziblen, gegeneinander völlig geschlossenen Kulturen gerade das Weltbild, das dem Terror zugrundeliegt, und insofern ist die intellektuelle Aufgabe, die die gegenwärtige Situation nahelegt, die, gegen den Holismus der Kulturen die vielfältigen Unterschiede, die kleinen Abstufungen, die sich überschneidenden Muster der Diversität in Erinnerung zu bringen. Das Interesse an Unterscheidungen, an Diversität und an Multiplizität der Perspektiven ist eine normative Implikation, die Systemtheorie und Soziologie vermutlich gern zu konzedieren bereits sind.

Ein letzter Einwand des Kritikers war die der Systemtheorie zugeschriebene Verdrängung der Körper aus dem Raum. Vielleicht gibt es eine solche Verdrängung des Körpers, aber sie ist nicht der Theorie zuzurechnen. Es ist vielmehr eine Eigentümlichkeit der Moderne, dass sie in vielen Funktionssystemen die für diese konstitutiven Vollzüge ohne Inanspruchnahme und Belastung des Körpers abzuwickeln versucht. Die Informations- und Wissensarbeit in der "New Economy", die semantischen Höhenflüge romantischer und passionierter Liebe jenseits von Sexualität und gerade auch die körperentlasteten, technologiebasierten modernen Waffensysteme sind gute Beispiele dafür. Der Körper soll zwar nicht stören. Er muss gesund und irgendwie auch fit sein (und für beides gibt es dann Sondereinrichtungen wie Medizin und Sport). Aber die Leistungen der Systeme hängen nicht mehr vom Körper ab.

Eine zugespitzte Variante dieses Körperverzichts der Systeme ist es, selbst im Krieg Verluste von Körpern vermeiden zu wollen - und dies vielleicht sogar beim Gegner, dessen Infrastrukturen man zu Tageszeiten zu zerstören versucht, wo keine menschlichen Körper in ihnen anwesend sind. Darin zeigt sich außer Körperverdrängung aus Funktionssystemen eben auch die Aufwertung des individuellen menschlichen Körpers, dessen Wert ähnlich wie der des Individuums offensichtlich dadurch noch einmal gesteigert wird, dass er außerhalb der Gesellschaft bleibt. 

In dieser Hinsicht wählt der Terror (wie auch hier nicht analysierte Gewaltformen wie Bürgerkriege bzw. ethnische Kriege und Genozide) die Gegenrichtung. Er stellt Körper zur Verfügung, die ihre eigene Vernichtung billigend in Kauf nehmen, und er zielt auf ein Maximum der Vernichtung fremder und feindlicher Körper ab. Gerade weil er kein klassischer Krieg ist, der Raum kontrollieren und Infrastrukturen ausschalten will, braucht er die Zerstörung von Körpern als Beweis seiner Effektivität. Erneut aber ist zu konstatieren, dass diese Nutzung und Zerstörung von Körpern völlig vom Raum und dessen Kontrolle abgelöst ist. Einmal mehr zeigt dies, wie wenig uns die klassischen Instrumentarien politischer Theorie, soweit sie raumbezogene Theorie war, beim Verständnis der Gegenwartssituation helfen.
 
 

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Dokument erstellt am 01.10.2001 um 21:43:51 Uhr
Erscheinungsdatum 02.10.2001 
 
 

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