Alle Staaten der Welt im Gleichgewicht: Eine äußerst
optimistische Diagnose von Rudolf Stichweh
Von Niels Werber
Die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts standen unter dem Zeichen der
Globalisierung. Dieser vor allem medial, logistisch und ökonomisch
verstandene
Prozess scheint nun abgeschlossen zu sein, und sein Ergebnis heißt:
Weltgesellschaft. Auf die Frage, was denn das Neue an dieser Weltgesellschaft
sein soll, gibt der Bielefelder Soziologe Rudolf Stichweh eine "verblüffend
einfache
Antwort: Gesellschaft oder Weltgesellschaft kommt nur noch einmal vor.
Es gibt
keine anderen Gesellschaften neben ihr." All jenen, die immer noch von
der
französischen, russischen, chinesischen oder malaiischen Gesellschaft
sprechen,
wird das neue, monotheistische Gebot entgegengehalten, es gebe keine
Gesellschaft außer der Weltgesellschaft.
Stichwehs Systemsoziologie geht von einem Dreischritt der sozialen Evolution
aus:
Zunächst seien Gesellschaften segmentär differenziert gewesen
(in Stämme), dann
hierarchisch (in Schichten) und zuletzt funktional (modern). Die Politik
der
Weltgesellschaft ist ein Funktionssystem, aber zugleich, so Stichweh mit
Niklas
Luhmann, nach wie vor "segmentär" differenziert: Sie besteht aus nebeneinander
existierenden Nationalstaaten.
Obwohl die Politik überall auf der Welt zu kollektiv bindenden Entscheidungen
führt, die von Machtunterworfenen (unabhängig von ihrem "Stand")
befolgt werden,
findet diese Politik nicht in einem Weltstaat statt, sondern in souveränen
Nationalstaaten. Der Clou dieses segmentären Nebeneinanders besteht
nun darin,
dass wie bei einem Regenwurm ein Segment wegfallen kann, ohne dass dadurch
das Ganze bedroht würde. Ginge Nokia Pleite, dann müsste deshalb
niemand auf
Mobiltelefone verzichten, weil Siemens und Ericsson einsprängen. Und
ob nun
Staaten verschwinden oder durch Sezession hinzukommen, stets erstreckt
sich
die Politik "lückenlos" über "die Landmasse der ganzen Welt".
Weil jedes
Territorium von der Weltgesellschaft mit Strukturen wie Bildungssystem
und
Finanzwesen versorgt wird, entsteht nirgends ein Vakuum, jederzeit wird
jeden
Orts jedermann staatlich versorgt.
"Tatsächlich überall?", wird man hier fragen und vielleicht an
Mosambik, an
brasilianische Favelas oder philippinische Müllsammler denken. Stichweh
nimmt
diese Marginalisierung zur Kenntnis, behauptet aber dennoch, dass alle
Segmente
bzw. "alle Staaten im System der Weltgesellschaft nationale Wohlfahrtsstaaten"
sind. Wohlfahrtsstaaten rechtfertigen ihre Entscheidungsbefugnisse durch
die
"Sicherung der elementaren Lebensgrundlagen" und stellen innerhalb eines
Nationalstaates eine "Minimalgleichheit" des Lebensstandards her. Staaten,
die
dieses nicht tun, gelten als "extreme Sonderfälle".
Wie viele Sonderfälle darf es geben, ohne die Norm umzudefinieren?
Wie auch
immer - der Normalfall für einen Staatsbürger in der Epoche der
Weltgesellschaft
ist also seine wohlfahrtstaatliche Grundversorgung. Das klingt schon schön,
aber
es kommt noch besser. Denn aus der segmentären Differenzierung folgert
Stichweh, dass die Weltgesellschaft eine "egalitäre Basisstruktur
nationaler
Souveränität" aufweise, womit er meint, dass es beim politischen
Umgang der
Staaten untereinander nicht mehr auf Macht und Größe ankommt.
Gleich an zwei
Stellen heißt es wörtlich: Die "Überlebenswahrscheinlichkeiten
für große und kleine
Staaten unterscheiden sich nicht wesentlich, kleine Staaten sind nicht
mehr auf
geographische Sonderlagen und hegemoniale Unterordnung angewiesen". Nicht
ihre geographische oder demographische Größe, sondern die "Verpflichtung
auf
Modernität und Wohlfahrt" sorge für die Inklusion der Nationalstaaten
in die
Weltgesellschaft.
Da nirgends angemerkt wird, hier handele es sich um utopisches Gedankengut,
darf man sich wohl freuen, dass die Macht- und Geopolitik des letzten
Jahrhunderts endlich ein friedliches Ende genommen hat. Zwar kennt Stichweh
noch Nationalstaaten, die "im System der Weltgesellschaft eine politische
Führungsrolle übernehmen" - freilich ohne genauer auszuführen,
worin Führung
bestehen soll, denn dann müsste man wohl von Welt- oder Supermächten
sprechen -, doch "kann diese Führungsrolle nicht mehr als kulturelle
Leitfunktion
verstanden werden, und Staaten, die einen solchen kulturell-missionarischen
Zug
aufweisen, werden dadurch im System der Weltgesellschaft politisch
disprevilegiert."
Aber genau das "kann" man eben doch, und wenn eine Supermacht dies tut,
dann
wird sie auch nicht "disprevilegiert": Beispielsweise beschreibt Zbigniew
Brzezinski
in Die einzige Weltmacht (Quadriga 1997) eine "pluralistische, durchlässige
und
flexible Hegemonie neuen Typs", mit der die USA gerade auch kulturell ihre
Weltherrschaft sichern. Eine soziologische Theorie der Weltgesellschaft,
die eine
"Trendumkehr" zum "egalitären" Nebeneinander der Nationalstaaten postuliert,
während soeben Russland, Indien und China ihren Eintritt in die globale
Geopolitik
verkünden, ihr "nahes Ausland" zu dominieren suchen und ethnische
Minderheiten
unterdrücken, verfehlt ganz offensichtlich die soziale Wirklichkeit
vieler
Weltregionen wie Kaschmir, Taiwan, Tibet oder Tschetschenien, von den
hegemonialen Selbstbeschreibungen der Sicherheitsdoktrinen der Großmächte
ganz zu schweigen.
Zweifellos hat Stichweh recht mit der Annahme, dass alle Kommunikationen
heutzutage in der Weltgesellschaft stattfinden und diese die einzige ist.
Ihr Ende
wäre also das Ende überhaupt. Es gibt keine Redundanz (andere
Stämme, andere
Hochkulturen). Darin besteht die "historische Singularität" dieser
neuen und
vielleicht letzten Epoche der Menschheit. Stichweh bringt der "Furcht"
Verständnis
entgegen, es könne in der "gegenwärtigen Welt" zu wenig
"Variations-/Selektionsspielräume geben", eine Formulierung, die vornehm
das
Risiko des Endes der Evolution umschreibt.
Diese Einsicht könnte zwar zur Etablierung egalitärer politischer
Strukturen
beitragen, um wenigstens eine militärische Apokalypse gemeinsam zu
verhindern,
doch ist dies keineswegs der Fall. Eher arbeitet man an Alternativen der
Kriegsführung, etwa im Rahmen eines infowar, als auf weltpolitische
Dominanz zu
verzichten. Kleine Staaten werden weiter als "Vasallen" gelten (Brzezinski)
statt
als gleichberechtigte "Bürger" der Weltgesellschaft.
Rudolf Stichweh: Die Weltgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
2000, 275 Seiten, 21,90 DM.
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Dokument erstellt am 04.03.2001 um 21:09:16 Uhr
Erscheinungsdatum 05.03.2001