Der Kampf der Peripherie gegen das Zentrum
Von Niels Werber
Mit dem Ost-West-Konflikt, der alles zu erklären hatte, war es vorbei, und überhaupt hatte das Denken in binären Oppositionen wie Freund und Feind oder gut und böse am Ende des letzten Jahrtausends seine einstige Attraktivität eingebüßt. Das scharfe "Entweder - oder" ließ man zurück, um Vernetzungen, Vielheiten, Verflechtungen zu entdecken. Nicht die Unterscheidung von seinem Gegenteil klärt nun die Sache, sondern die Einbettung in ein Feld, war doch oftmals das Gegenteil, etwa des Kapitalismus, ohnehin nicht mehr auszumachen.
Dieser Wechsel von der Differenz zum Rhizom prägt auch die Selbstbeschreibungen der Kunst. In seinem Essay zum documenta 11-Katalog geht der Kurator Okwui Enwezor davon aus, unsere Welt sei netzwerkartig organisiert, sie sei deterritorialisiert oder a-territorial. Alles strömt und fließt, verschaltet und vernetzt sich, die alten Differenzen (Nord-Süd, Ost-West, Imperien-Kolonien) scheinen obsolet. Diese neue Form der Weltgesellschaft hat gewissermaßen vom Raum abgehoben. Plateaus, Rhizome, Netzwerke, Multitudes haben den gewalttätigen Raum des Imperialismus und der Hegemonie hinter sich gelassen. Mit dieser Beschreibung hätte man sich vielleicht noch vor zwei oder drei Jahren anfreunden können, als Jeremy Rifkin das Ende des Eigentums im Age of Access verkündete, J.P. Barlow vom Cyberspace die Befreiung des Menschen von der Materie erwartete oder Bill Gates und Al Gore der Welt einen friktionslosen, freundlichen, umweltschonenden Kapitalismus versprachen.
Gegen globale Totalität
Die Anschläge vom 11. September 2001 haben mit derartigen Illusionen aufgeräumt, und auch Enwezor scheint den Glauben an eine deleuze-guattarische Welt der Plateaus verloren zu haben. Denn im zweiten Teil seines Essays geht er von einer weltweiten Konfrontation aus, die mit allen bisher genannten Kategorien nicht zu beschreiben ist, weil sie binär ist und im Raum stattfindet. Es ist der Kampf der Peripherie gegen das Zentrum. Das 21. Jahrhundert werde geprägt von einem Befreiungskampf der Peripherien gegen die zentrale hegemoniale Macht des Westens. Zumal der politische Islam kämpfe gegen die "globale Totalität" der westlichen Weltanschauung mit dem Ziel, "ihre Gesellschaften vor der totalen Integration zu bewahren."
Die Attacken vom 11. September 2001 sind Enwezors bestes Beispiel für die "antihegemonistische Opposition" der Peripherie. S11 (September Eleven) sei als der "Fall zu begreifen, mit dem die Peripherie ins Zentrum rückt". In diese Frontstellung der Peripherie gegen das Zentrum stellt Enwezor gleich neben die S11-Attentäter den "Kampf der Palästinenser", die "Straßenschlachten, die sich Antiglobalisierungsgegner in Genua, Seattle, Montreal und anderen europäischen und nordamerikanischen Großstädten mit der Polizei liefern", sowie die Demonstrationen in der Dritten Welt gegen Weltbank und Währungsfond. Ground Zero liege auch in Gaza oder anderswo und sei nur der exemplarische Ort, "an dem die Abrechnung mit dem Westen beginnt". Die neue Superdifferenz Zentrum-Peripherie hat eine derartig generalisierende und vereinfachende Kraft, dass so unterschiedliche Phänomene wie islamischer Terrorismus, Globalisierungskritik oder Armut in Schwellenländern umstandslos in eine Schublade gepackt werden können: den Kampf der Peripherie gegen das Zentrum.
Enwezors Projekt gerät so reichlich zwiespältig. Einerseits wird die postkoloniale, atopische, deterritorialisierte Weltgesellschaft gefeiert als Ort der Hybride, Netze und Rhizome, anderseits wird dieselbe Weltgesellschaft von einer einzigen geopolitischen Differenz gespalten zwischen der westlichen totalen "Weltordnung" und dem Widerstand der Peripherien gegen ihre "totale" Integration.
Ob nun Globalisierungsgegner, Anhänger der Tobin-Steuer oder Terroristen gegen die von den USA geführte westliche Dominanz vorgehen: der Kampf findet in den Städten statt. Enwezor nennt Seattle, Genua, New York. Soweit die Stadt, wie Abdoumaliq Simone im documenta 11-Buch sicherlich im Anschluss an Saskia Sassen schreibt, soweit die Global City als Knotenpunkt des globalen Netzwerks ökonomischer Transaktionen zu betrachten sei, insoweit werde sie auch zum Ziel und Schauplatz jenes antihegemonialen Kampfes, von dem Enwezor behauptet hat, dass er sich genau gegen diese "globale Totalität" richte. Hier kommen nun beide Diskurse: Welt als Netzwerk und Welt als Differenz von Zentrum und Peripherie zur Deckung, denn die Stadt ist offenbar beides: Knoten eines Netzwerks und Zentrum.
Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker kommt in einem Beitrag zum Sammelband Terror im System. Der 11. September und die Folgen zu einer ähnlichen, also zweipoligen Sicht der Dinge. Zunächst einmal seien die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon sowie die "amerikanische Antwort" Elemente eines Konflikts, den die "Weltgesellschaft mit sich selbst" austrägt. Weltgesellschaft ist hier der systemtheoretische Name für eine Gesellschaft mit globaler Arbeitsteilung, globaler Vernetzung und globaler Kommunikation, für deren Beschreibung Enwezor Vokabeln von Deleuze, Guattari und Agamben benutzt hatte.
Die Systemtheorie versteht Weltgesellschaft als "das System aller füreinander erreichbarer Kommunikationen". Dank der neuen Medien spiele der Standort der Kommunikationsteilnehmer keine Rolle mehr. Die neue raumlose Gesellschaft "konnektivistischer Fluidität" hat Helmut Willke Atopia genannt. Atopia meint eine globalisierte Gesellschaft, für die "Ort, Raum und Entfernung zu vernachlässigenden Größen" werden. Noch Rudolf Stichweh hat in einem Essay für diese Zeitung (FR vom 2. 10. 2001) auch nach den S11-Anschlägen an dieser Konzeption im Wesentlichen festgehalten.
Dieses von der Systemtheorie bislang bevorzugte Konzept einer raumlosen, atopischen Weltgesellschaft wird von Dirk Baecker nun korrigiert. Baecker vermutet unter dem Eindruck der S11 Anschläge und der amerikanischen Reaktion, dass "dieser Krieg daran arbeitet, einen Weltordnungszustand wiederherzustellen, der sich nach Zentrum und Peripherie unterscheidet". WTC und Pentagon symbolisierten gewissermaßen das Zentrum des Zentrums der Weltgesellschaft: Amerika. Die Systemtheorie der Weltgesellschaft, die Raum, Boden, Macht, Territorium und Kontrolle für obsolet erklärt hatte, beschreibt die Welt nicht länger als laterales, multipolares Netzwerk "konnektivistischer Fluidität", sondern als Differenz von Hegemonialmacht und ihren Gegnern. "Der Terrorakt ist", so Baecker, "eine schlichte, aber unübersehbare Erinnerung daran, dass das Zentrum der Weltgesellschaft für seine Peripherie in der Verantwortung einer Ordnungsmacht steht." Das "Zentrum der Weltgesellschaft, Amerika" sehe sich der Aufgabe gegenüber, "die Weltgesellschaft insgesamt, also unter Einschluss der äußeren Peripherie, zu ordnen".
Geopolitische Wende
Enwezor sieht dies ganz ähnlich, S11 rücke "die Peripherie ins Zentrum", und Hartmut Böhme ebenfalls, der von einer "Explosion der Peripherie im Zentrum der Global City" gesprochen hat und den Terroristen als Repräsentanten des Lokalen bestimmt, der "jederzeit in den Kommandozentralen der Weltordnung erscheinen und explodieren kann". Und genau wie bereits Enwezors Essay von der vagen Aterritorialität der Netzwerke zum sehr konkret zu verortenden Kampf der Peripherie mit dem Zentrum findet, reterritorialisiert Baecker die Raumlosigkeit der Systemtheorie in einer geopolitischen Wende, die der USA die Rolle einer Weltordnungsmacht zuweist.
Die schon oft totgesagte Geopolitik triumphiert über die vermeintliche Deterritorialisierung der Weltgesellschaft. Es geht nun um nicht weniger als eine neue Welt-Raum-Ordnung. Und die ist binär. Es mag zwar nach wie vor Tausende von Plateaus, Netzen und Rhizomen geben, doch gibt es eine Differenz, die alles supercodiert: Zentrum und Peripherie. Die Lage der Welt ist weder einfacher noch friedlicher, sicher aber übersichtlicher geworden.
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Dokument erstellt am 17.10.2002 um 21:38:19 Uhr
Erscheinungsdatum 18.10.2002