Schwärmen und siegen

                   Der Netzwerk-Terrorismus lässt den Nationalstaat alt
                   aussehen: Eine strategische Analyse der Al Qaeda

                   Von Niels Werber

                   Erst "tot oder lebendig", dann "lasst ihn laufen": die Schlagzeilen haben sich
                   verändert. Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001, kurz
                   S11, wurde Osama bin Laden in den US-amerikanischen Medien zum
                   Staatsfeind Nummer Eins aufgebaut. Der Kampf gegen den Terrorismus
                   konnte so publikumswirksam visualisiert werden: zu einem Zweikampf der
                   Mächte des Guten und des Bösen, zwischen Bush und dem "Führer" der
                   Terroristen. John Arquilla, Professor an einer Navy-Kriegsschule und Berater
                   der Denkfabrik "Rand", vermutete in der Los Angeles Times, diese Fixierung
                   auf bin Laden komme dem amerikanischen Bedürfnis nach jenem "clearly
                   defined antagonist" entgegen, der in keinem Hollywood-Film fehlen dürfe. Der
                   Gegner braucht ein Gesicht, und am liebsten sieht man es auf einem
                   Steckbrief.

                   Während vom Präsidenten abwärts immer wieder Osamas "capture or death"
                   gefordert wurde, lautete Arquillas Schlagzeile: "Osama bin Laden not wanted:
                   dead or alive". Seine Begründung für diesen überraschenden Vorschlag
                   basiert auf einer These zur Organisationsform der Al Qaeda. Dieses Netzwerk
                   sei, wie der Band Networks and Netwars zeigt, besonders komplex, denn
                   weder verbinde es seine Knotenpunkte linear wie bei einer Kette, noch liefen
                   von vielen Punkten die Verbindungslinien sternförmig auf einen Zentralknoten
                   zu. Ein "Kettennetzwerk" fällt aus, wenn man einen Knoten eliminiert. Ein
                   "Sternnetzwerk" verliert seine Funktion, wenn das Zentrum attackiert wird. In
                   beiden Fällen verlieren Knoten ihre Verbindung, sie sind dann ohne
                   "Konnektivität".

                   Dagegen kann man das polyzentrische, polymorphe Al Qaeda-Netz mit einem
                   "Rhizom" vergleichen, jenem von Deleuze und Guattari beschriebenen
                   Wurzelwerk, dessen Punkte unvorhersehbar miteinander verflochten sind und
                   gelegentlich Verdichtungen eingehen. Während ältere Terrorgruppen wie die
                   PLO der sechziger und siebziger Jahre bürokratisch und hierarchisch
                   strukturiert waren und daher wie eine Armee entlang einer klaren
                   Kommandokette geführt werden konnten, zeichne sich Al Qaeda (übersetzt:
                   die Basis) durch flache Hierarchien, Dezentralisierung und Delegation von
                   Führungsaufgaben aus. Ihr Vorbild wäre also nicht der alte "Staatsapparat",
                   sondern ein globalisiertes e-business. Ihre Basis besteht aus verstreuten
                   Gruppen und Personen, die miteinander lose, horizontal verbunden sind. Was
                   das Netzwerk zusammenhält, ist weder eine straffe hierarchische
                   Organisation noch die Ausrichtung auf einen Führer, sondern shared values,
                   Familien-, Klan- und Blutsbande sowie eine gemeinsame story, an die sie
                   glauben.

                   Bin Laden steuert also keineswegs seine Selbstmord-Attentäter wie ein brain
                   bug. Zwar sei er eine Schlüsselfigur, ein wichtiger Knoten im globalen
                   Netzwerk des Terrors - aber viele Knoten des Netzwerkes kommunizieren und
                   operieren, ohne auf bin Laden zugreifen zu müssen. Vielmehr steht mit der
                   "Basis" Al Qaeda ein lose gekoppeltes Netz zu Verfügung, dessen Elemente
                   selektiv und flexibel zu terroristischen Aktionen verbunden werden können.
                   Diese Taktik nennen Arquilla und Ronfeldt swarming, und sie haben bereits
                   vor S 11 gewarnt, Terroristen könnten aus dem Mittleren Osten aus
                   verschiedenen Richtungen in die USA einsickern, um dann die lose Kopplung
                   in einen "Schwarm" zu überführen, der zuschlägt, um sich gleich wieder
                   aufzulösen.

                   Nicht nur die Form des Rhizoms, auch die lose Kopplung macht Netzwerke
                   widerstandsfähig über die Zerstörung einzelner Knoten hinaus. Sie reagieren
                   flexibel, elastisch und schnell auf ihre Herausforderungen, sind schwer zu
                   orten, da sie nur in der Form kleiner, für den Zweck einer Operation fest
                   gekoppelter Zellen auftauchen, aber ihre gesamte Basis niemals exponieren.
                   Obwohl die Al Qaeda-"Führung" tot oder auf der Flucht sein soll, belegen die
                   guerillaartigen Überfälle auf Stützpunkte und Flugfelder der US-Army in
                   Afghanistan, dass "die Basis" überlebt und ihre Einsatzfähigkeit
                   zurückgewonnen hat. Womöglich hat der netwar des Al Qaeda-Netzes erst
                   jetzt begonnen, nachdem ihre gemeinsamen Aktionen mit den Taliban als
                   Armee gescheitert sind.

                   Rudolf Stichweh hatte in dieser Zeitung (FR vom 2. 10. 2001) vorgeschlagen,
                   Al Qaeda als lose gekoppeltes Netzwerk aufzufassen, das nur dann zu
                   zerschlagen sei, wenn es durch "polizeiliche, geheimdienstliche und
                   militärische Interventionen an Hunderten und Tausenden von Punkten
                   unterbrochen wird, so dass die Fähigkeit zur Organisation von Handlungen
                   verloren geht". Wie aber lassen sich Tausende von Knoten im Raum verorten?
                   Die Ex-CIA Analysten und "Rand"-Berater Byman und Pollack haben in
                   Newsday auf die Netzstruktur des arabischen Terrorismus verwiesen und
                   behauptet, "Bin Ladens group will survive him". John Arquilla zieht daraus den
                   Schluss, man solle bin Laden laufen lassen. Warum?

                   Nicht nur weil die teuerste Menschenjagd aller Zeiten Ressourcen bindet, die
                   man zur Zerschlagung des Netzwerkes dringend benötigt, sondern weil bin
                   Laden als freier Mann vermutlich Kontakt mit Al Qaeda-Knoten aufnehmen
                   würde, etwa um sich mit Geld und Papieren zu versorgen, unterzutauchen,
                   neue Anschläge zu planen etc. Wenn es gelänge, diesen Datenfluss
                   abzufangen, hätte man einen Ausgangspunkt, von dem aus sich das Rhizom
                   der Zellen und Schläfer, Kommandos, Gruppen, Sponsoren und
                   Sympathisanten weiter erkunden ließe. Man wird sehen, welche Agenda sich
                   durchsetzt: die populistische Medienpolitik oder die Empfehlungen der
                   Berater. Die Gefahr für die USA liegt jedenfalls weniger in neuen Droh- und
                   Hassvideos Osamas, obwohl diese am besten ins Zweikampfschema passen
                   würden. Sie besteht vielmehr in der neuen "swarm-like doctrine that features a
                   campaign of episodic, pulsing attacks by various nodes of his network". Wird
                   der Nationalstaat dieser Herausforderung gerecht?

                   Die Antwort lautet: nein. Diagnosen wie Prognosen der "Rand"-Studien
                   verdanken ihren Wert der Breite des Feldes. Nicht nur terroristische und
                   kriminelle Vereinigungen werden auf ihre Netzwerk- und Swarm-Fähigkeiten
                   untersucht, sondern auch die bright side des Phänomens. Interessant sind
                   die Ausführungen zur Bewegung der Zapatista in Mexiko und zu den
                   Protesten der Globalisierungsgegner in Seattle. Da die Sympathien der
                   Autoren auf der Seite dieser zivilgesellschaftlichen Akteure liegt, bereitet es
                   ihnen großes Vergnügen, das völlige Versagen der staatlichen
                   Sicherheitsstrukturen den Organisationsvorteilen netzwerkartiger
                   Protestbewegungen entgegenzustellen.

                   Seattle Police Department, Secret Service, FBI, State Patrol, Department of
                   Justice, State Department, King County Sheriff, Gouverneur, Nationalgarde,
                   Staatsanwaltschaft und Sicherheitsberater des Weißen Hauses blockieren
                   sich wegen unterschiedlicher Interessen und schleppender Kommunikation
                   gegenseitig. Polizeikräfte geraten vor Ort von widersprechenden
                   Dienstanweisungen und Rissen in der Kommandokette in Panik und laufen
                   Amok. Siehe Genua. Das Direct Action Network reagiert dagegen schnell und
                   flexibel, hält die Vielzahl lateraler Verbindungen via Mobiltelefon und Internet.
                   Der Protest erreicht sämtliche strategischen Ziele, blockiert die
                   Veranstaltungsorte und verhindert die feierliche Eröffnung der WTO.

                   Nur Netzwerke können Netzwerke bekämpfen. Der Staat muss vom Gegner
                   lernen und seine Exekutiven vernetzen. Auch hierzulande. Aber so leicht man
                   sich vorstellen kann, dass die Probleme der EU zumindest genauso
                   gravierend sind, so wenig wird man hoffen können, die unzähligen, um Gelder
                   und Stellen konkurrierenden Behörden der Gemeinschaft, ihrer Staaten,
                   Länder und Gemeinden, würden dereinst als Netzwerk operieren. Deshalb
                   heißt der Band auch Die Zukunft des Terrors und nicht Die Zukunft des
                   Staates.

 

                   [ document info ]
                   Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
                   Dokument erstellt am 18.03.2002 um 21:47:27 Uhr
                   Erscheinungsdatum 19.03.2002