Der vorliegende Roman (Dr. Marbuse, der Spieler von Norbert Jacques) operiert nahezu durchgehend mit der Dichotomie, die auch dem Antisemitismus zu Grunde liegt[1]. Auf der einen Seite das Organische, Konkrete; das Volk, das sich über das Jus sanguinis (Abstammung qua Blutslinien) definiert, auf der anderen Seite das unfassbare Böse, das Abstrakte, die Moderne, mithin die negativen Aspekte kapitalistischer Vergesellschaftung, die sich dann vortrefflichst auf das System der USA projizieren lassen oder sich dort vermeintlich als einzige auszumachen scheinen[2]. Es ist das Programm der deutschen Antisemiten, die Einlösung des deutschen Willens, eben nicht das liberale bürgerliche nationalstaatliche System zu wollen (wollen zu können), sondern das Aufgehen in der Volksgemeinschaft, das dort schon anfängt, wo sich Gesellschaft in Gemeinschaft transformiert.
Es ist das Prinzip einer vorgeblichen Antinomievon ehrlicher, nützlicher (Hand)arbeit (wie zum Beispiel dem Arbeiter, dem Handwerker, dem normalen Arzt) im Gegensatz zum schnellen Geld, dem Betrug, der vergisst, dass das Ganze schon der Betrug ist, zum sogenannten Materialisten, zum Gewinnler und Börsenspekulanten. In anderen Momenten wird dies an Merkmale wie der permanenten Projektion deutlich, Opfer einer jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung zu sein, die die gesamte Weimarer Republik hindurch immer wieder ein Erkennungsmerkmal volksdeutscher Antisemiten darstellte, und zum Beispiel im „Schandfrieden von Versailles“ deutlich zu Tage tritt. All dies schwingt in den Textstellen mal mehr, mal weniger, streckenweise sogar ganz offensichtlich mit. Es ist das Prinzip, das an den Rampen von Auschwitz seinen Kulminationspunkt findet und über den Toren Buchenwalds mit „Jedem das Seine“ paraphrasiert wird.
Diese Textsammlung folgt keinem bestimmten linearen Textaufbau, sondern sieht sich als eine lockere Serie signifikanter Textmomente, die in mannigfaltige Verknüpfung zu einander stehen und in dieser auch gesehen werden müssen.
Nicht nur Ausmaß, sondern auch Qualität der den Juden zugeschriebenen Macht unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus. Alle Formen des Rassismus schreiben dem Anderen potentielle Macht zu. Diese Macht ist gewöhnlich, aber konkret – materiell und sexuell - die Macht des Unterdrückten (als Macht des Verdrängten), die Macht des "Untermenschen". Die den Juden antisemitisch zugeschriebene Macht wird nicht nur als größer, sondern auch im Unterschied zur rassistischen Vorstellung über eine potentielle Macht der "Untermenschen" als wirklich angesehen. Seine qualitative Andersartigkeit im modernen Antisemitismus wird mit Attributen wie mysteriöse Unfassbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit umschrieben. Diese Macht erscheint gewöhnlich nicht als solche, sondern muss ein konkretes Gefäß, einen Träger, eine Ausdrucksweise finden. Weil diese Macht nicht konkret gebunden, nicht "verwurzelt" ist, wird sie als ungeheuer groß und schwer kontrollierbar empfunden. Sie steht hinter den Erscheinungen, ist aber nicht identisch mit ihnen. Ihre Quelle ist daher verborgen: konspirativ. Die Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfassbare internationale Verschwörung.
Ein Naziplakat bietet ein plastisches Beispiel für diese Wahrnehmung: Es zeigt Deutschland - dargestellt als starken, ehrlichen Arbeiter -, das in Westen durch einen fetten, plutokratischen John Bull bedroht ist und im Osten durch einen brutalen, barbarischen, bolschewistischen Kommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen Kräfte bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der Jude. Eine solche Vision war keineswegs Monopol der Nazis. Der moderne Antisemitismus ist dadurch gekennzeichnet, dass die Juden für die geheime Kraft hinter jenen Widersachern, dem plutokratischen Kapitalismus und dem Sozialismus gehalten werden. "Das internationale Judentum" wird darüber hinaus als das wahrgenommen, was hinter dem "Asphaltdschungel" der wuchernden Metropolen, hinter der "vulgären, materialistischen, modernen Kultur" und, generell, hinter allen Kräften, die zum Niedergang althergebrachter sozialer Zusammenhänge, Werte und Institutionen führen, steht. Die Juden stellen demnach eine fremde, gefährliche und destruktive Macht dar, die die soziale "Gesundheit" der Nation untergräbt. Für den modernen Antisemitismus ist nicht nur sein säkularer Inhalt charakteristisch, sondern auch sein systemartiger Charakter. „Er beansprucht, die Welt zu erklären.“ [Moishe Postone S.30-31; im weiteren abgekürzt mit M.P.]
„Mit anderen Worten: Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht, verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des "Internationalen Judentums" wahrgenommen wurden.“[M.P. S.32]
„Gesellschaft wie historischer Prozess werden zunehmend biologisch begriffen. Diesen Aspekt des Kapitalfetischs will ich jedoch hier nicht weiter verfolgen. Festzuhalten ist, welche Wahrnehmungsweisen von Kapital sich daraus ergeben. Wie angedeutet, lässt der "Doppelcharakter" auf der logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die materiell von den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die Ware als rein stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des Kapitals lässt der "Doppelcharakter" (Arbeits- und Verwertungsprozess) industrielle Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozess, ablösbar vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun organischer. So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger "natürlicher" handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum "parasitären" Finanzkapital, als "organisch" verwurzelt. Seine Organisation scheint der Zukunft verwandt zu sein; der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es sich befindet, wird als eine übergeordnete organische Einheit gefasst: Gemeinschaft, Volk, Rasse.“[M.P. S.36]
„Der Ausschluss
aus der Menschheit ist die originäre Leistung und Konsequenz der Gesellschaft
der Menschenrechte. Derart ist das bürgerliche Subjekt verfasst, dass
es Identität nicht aus sich selbst erzeugen, nicht an sich selbst
gewinnen kann, sondern nur im Prozess einer ständigen Abgrenzung und
eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das „unwerte“ und gegen das
„überwertige“ Leben. [...] Identität, die gesellschaftspraktische
Unterstellung mithin, die Individuen als Subjekte seien, wie es der Wert
und seine Erscheinungsform, das Geld, quasi-ontologisch vorspiegeln, der
Geschichte, der Natur und also ihrer Vergänglichkeit enthoben, funktioniert
im System der Berechtigungen und Verpflichtungen als real gewordene, im
Recht verdinglichte und vom Staat beschützte Abstraktion; der gesellschaftliche
Zwang zur Sich-selbst-Gleichheit der Individuen als Subjekte erscheint
in der juristischen Figur der Person und wirkt im Begriff der Mündigkeit
als der archimedische Punkt, dem das Tun und Lassen der empirischen Einzelnen
zugerechnet wird. In dieser Form prozessiert das Allgemeine gegen das Besondere.“ [Joachim
Bruhn S.84]
„Die Spur des Antisemitismus ist in jenen Bildern der Verschwörung stets präsent, geht es doch gegen „Fremde“, die im Geheimen und von innen heraus die Gesellschaft zu zersetzen und finanziell „auszusaugen“ sich zum Ziel gesetzt hätten. Diese Bilder zeugen zugleich von dem Zusammenhang, der zwischen der rassistischen und der antisemitischen Denkform existiert. Lassen sich diese Denkformen abtrennen von der Chiffre Volk?“ [Matthias Künzel S.150]
„Der dem populären deutschen Denken in Deutschland zugrundeliegende Begriff des ‚Volkes’ war gedanklich verbunden mit der Definition der Juden als Antithese. Die Ablehnung der Juden war konstitutiv für den Begriff ‚Volk’, denn jene verkörperten all das Negative, das dem ‚Volk’ nicht zukam.“ [Daniel Jonah Goldhagen S.104]
Die Dichotomie zwischen dem deutschen Volk und seinem Vertreter Staatsanwalt Wenk einerseits und dem Parasiten Dr. Marbuse andererseits, schlägt sich in seiner antisemitischen Konnotation in folgenden Stelle besonders deutlich nieder.
-Werwolf; Blutsauger, saugt das Volk aus
-Manipulator der Massen
-Kann wegen seines andersartigen Blutes wegen schon nicht zum Volk gerechnet werden
-Kosmopolit
-[Als Psychoanalytiker vermutlich Jude, jedenfalls aus völkisch-antisemitischer Sicht, zudem konnotiert der Name einen pathologischen Befund. Marbuse = morbus. Wenn Mabuse einmal in diesen Kontext gestellt ist und jüdisch dechiffriert wird, kann man sein Kolonisierungsprojekt als zionistisch entziffern. NW]
Marbuse fuhr fort: „Mein Vertrauensmann in der Regierung hat mich darüber unterrichtet, dass die Zwangswirtschaft auf Fleisch im nächsten Monat in Bayern beseitigt wird. Die Tatsache wird noch geheim gehalten. Die Preisunterschiede zwischen Bayern und Württemberg sind enorm und werden die erste Woche wenigstens nach der Aufhebung bedeutend bleiben. Aber gut ist, man kauft jetzt schon auf. Notieren Sie sich, dass ich bis zehn Millionen Mark darin anlege. Soviel man bekommt, kaufen.“ [Dr. Marbuse S.59; im weiteren abgekürzt mit DM]
„So musste er mit seinen suggestiven Fähigkeiten immer in Berührung mit einer namenlosen Allgemeinheit bleiben. Dann spürte er seine Macht über die Grenze des Kreises hinaus, der ihm verpflichtet war, und von dem er jeden kannte, schier ins unermessliche wachsen. Und sein Geist übte sich, vieles zu umfassen, viele Menschen auf einmal in die Hand zu nehmen und in den irren Dingen, die seine geheime Gabe ihnen auferlegte, ihre Wenigkeit und seinen Hass und seine Gewalt über sie auszukosten...“ [DM S.186]
„Weißt du wer ich bin?“ fragte er. Seine Stimme klang in einer tobenden Wildheit. „Ich bin ein Werwolf. Ich sauge Menschenblut in mich! Jeden Tag brennt der Hass alles Blut, das mir in den Adern läuft, und jede Nacht sauge ich sie mit einem neuen Menschenblut voll.
[DM S.190]
„Ich hab aus irgendeinem Brunnen meiner Abstammung einen Schuss ins Blut bekommen, der mir ein Leben in der staatlichen Ordnung einer Gemeinschaft unmöglich macht, in der Kräfte über meinen Kräften stehen.“ [DM S.192]
„Wenk machte sich bald Vorwürfe, so davongegangen zu sein. Er hätte mit diesem Hausierer der Lasterhaftigkeit sprechen sollen. Denn der kam aus dem selben Land, in dem Marbuse daheim war.“ [DM S.238]
[Das Land aus dem beide zu kommen scheinen, ist
eines, das keines ist. Deutlicher wird das noch an dem Pseudonym Dr. Marbuses:
Dr. Weltmann]
-organischer Körper
-Bedrohung durch eine übermächtig erscheinende Bedrohung; mal als Krankheit, mal als dunkle Gefahr
-Aufopferung für die Gemeinschaft, die bis zur Verklärung des [eigenen] Todes geht
-Gebeutelt von Versailles, als wäre es von außen durch Zufall auf Deutschland gefallen.
-Klare Zuschreibung zu einer bestimmten Gemeinschaft im Gegensatz zum Kosmopoliten wie z.B. Dr. Marbuse
-Manipulierte Masse gegen natürliche Masse der Gemeinschaft.
„In dem Spielerprozess hatte er erlebt, welche Gefahr dem Volk durch das Spiel drohte. Das Auslaufen des Krieges in den keineswegs abspannenden Zustand, den die Bedingungen von Versailles dem deutschen Volk brachten, hatte die Phantasie nicht beruhigt, sondern hielt sie angestachelt.“ [DM S.18]
„[...] dass gegen diese neue Cholera [gemeint ist die Spielsucht] gekämpft werden müsse, sonst zermürbe sie den Volkskörper.“ [DM S.20]
„Waren Wenks Hände stark genug, da hineinzugreifen und festzuhalten, was an dunklen Mächten sich ihnen entgegenwälzte, um sie zu zerquetschen.“ [DM S.73]
„Wenk hatte diesen Werwolf gehasst und mit der Rachsucht verfolgt, die er dem Feind der Ordnung, in der allein das Volk gesunden konnte, entgegenbringen musste.“ [DM S.255]
„Er wusste es. Da Gute in ihm war es gewesen. Die Einordnung in die fließende Masse des Gewissens, das er gegen sein Volk hatte. Er hatte diesem helfen wollen. Und weil sein Gewissen mächtiger war als seine Fähigkeiten, war er dem Verderben entgegen gegangen. Wenn dies Erlebnis seinen Tod am Ausgang hatte, so starb er einen Tod, der edel war.“ [DM S.260]
Bruhn, Joachim. Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg (Breisgau),
1994
Goldhagen, Daniel Jonah. Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnlich Deutsche und der
Holocaust. Berlin, 1996
Jacques, Norbert. Dr. Marbuse, der Spieler. Düsseldorf, 1948
Küntzel, Matthias; Thörner, Klaus; u.a.. Goldhagen und die deutsche Linke. Oder die
Gegenwart des Holocaust. Berlin, 1997
Postone, Moishe. Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Entwurf. In:
Michael Werz (Hg.). Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt/M., 1995, S. 29-43
Zum
gleichen Thema, nur zum Film Metropolis, findet sich in folgender Publikation
ein interessantes Kapitel:
Scheit, Gerhard. Alberich und Kundry im Film: Fritz Langs Nibelungen und Metropolis. In:
Ders. Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus.
Freiburg (Breisgau), 1999, S. 345-351