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Vom Wal zum Elefanten

Walter Lippmanns Studien zur US-Außenpolitik

Von Niels Werber



1943. Buckminster Fuller patentiert die "Dymaxion World Map", einen Falt-Globus, dessen Karten-Projektion bestimmte geopolitische Evidenzen der kämpfenden Imperien hinterfragt. Geopolitik hatte Konjunktur, aber selten wurde sie kritisch betrieben. Statt Weltentwürfe zu relativieren, fanden Geopolitiker im Raum einen archimedischen Punkt, von dem aus die Lage "objektiv" zu bestimmen sei.

1941. Karl Haushofer blickt zufrieden auf die jüngsten "Eingliederungen" des Deutschen Reiches. Sie entsprächen den Gesetzen der "Geschichte als einer in Bewegung gesetzten Geographie", und schließlich habe Hitler bei Friedrich Ratzel gelesen, dass alle "Geschichte" den Gesetzen des Raums folge, in dem ein Volk sich entwickle wie ein Organismus in einer ökologischen Nische. Wer wächst, braucht Platz. Haushofer spielt Ratzels geobiopolitische Geschichts-Auffassung gegen das "statische Beharren des geltenden Gesetz-Buchstaben" aus. Mitteleuropa zu beherrschen sei der geopolitische Auftrag des Reiches, man schaue nur auf die Karten. Man müsse auf den Raum hören, gleichgültig welche Verträge welchen Status quo vorschreiben mögen. Völkerrecht, so führt 1943 ein Jurist aus, dürfe und könne den geopolitischen Willen eines Volkes nicht aufhalten. Positives Recht sei vergänglich, die Naturgesetze der Evolution eines Volkes im Raum dagegen ewig. Die deutschen Juristen sind zu Geopolitikern und Biologen geworden. 1940 zitiert Carl Schmitt nicht nur Ratzel, sondern auch den Biologen Viktor von Weizsäcker, um dem Reich eine gigantische Interessenssphäre als Leistungsraum zuzuweisen. Hat das Völkerrecht beim Kriegsgegner einen Hüter gefunden? Sind die USA in den Krieg gegen Deutschland eingetreten, um gegen den Zynismus der Macht und die gebrochenen Verträge das geschändete Völker- und Menschenrecht zu vertreten?

1943. Walter Lippmanns Antwort lautet nein. Als Fuller seinen kritisch-relativistischen Globus bastelt, findet der berühmte Publizist Halt in den geographischen Gegebenheiten. Weder um internationales Recht zu schützen, das Deutschland gebrochen habe, "noch um die Welt für die Demokratien sicher zu machen", seien die USA in den Krieg gezogen, sondern allein um vitale Interessen der USA durchzusetzen. Lippmann lehnt einen "Kreuzzug zur Durchsetzung amerikanischer Institutionen und Ideen von Freiheit und Gleichheit" ab. Man könne Arabern, Asiaten oder Afrikanern keine anspruchsvollen Institutionen aufzwingen. Es gebe keinerlei "juristische oder moralische oder idealistische Gründe", die Welt vor der Achse zu retten, sondern nur geostrategische. Wer von Recht oder Moral rede, sei oberflächlich. Wie die deutschen Geopolitiker setzt Lippmann auf die Faktizitäten des Raums. Die "wesentlichen Unterschiede zwischen Freund und Feind" begründet er geopolitisch.

Die Alliierten werden hier mit Ernüchterung gelesen haben, dass die USA sich für die Verstöße gegen den Versailler Vertrag, die Zerschlagung der Tschechoslowakei und die Okkupation Polens nicht interessiert haben. Erst als Deutschland zu einer atlantischen Seemacht mit französischen und norwegischen Häfen zu werden drohte, entschlossen sie sich zur Unterstützung Englands, da sonst Island und Grönland einem deutschen Vorstoß offen stünden und die amerikanischen Kommunikationsverbindungen gefährdet würden. Die USA verteidigten sich selbst, nicht England, Polen oder Belgien. Der "teuflische Charakter des Nazi-Regimes" sei "kein Kriegsgrund" gewesen, denn es sei 1933 bereits genauso böse gewesen wie 1940. Die USA hätten als Wal von einem Elefanten nichts zu fürchten, illustriert Lippmann seine Lehre mit berühmten Bildern der politischen Ikonographie.

1940 aber beginnt Admiral Raeder Planungen für einen Seekrieg gegen die USA. Walfänger riefen im Atlantik wie Pazifik zur Jagd. Der Wal rüstete sich zum Elefanten, um seine beiden Meere auf europäischem und asiatischem Boden zu verteidigen, statt Krieg "auf unserer eigenen Scholle" zu führen. Die USA kämpfen für eine amerikanische Großraumordnung, die dem Wal künftig jede Harpune auf Distanz hält. Ihre Dreimeilenzone sei die gesamte "Küstenlinie von Europa, Afrika und Asien" mit so viel Tiefe, wie Flugzeuge Reichweite haben. Niemals dürften von den Gegenküsten feindliche Luftstreitkräfte das eigene Heimatland bedrohen.

Innerhalb der atlantischen Nachkriegs-ordnung gebe es zwar unabhängige souveräne Staaten, doch werde jeder Versuch eines solchen Staates, mit einer raumfremden Macht zu paktieren, als Aggression betrachtet und entsprechend beantwortet. Gebieten wie "Gibraltar, Panama oder Kuba" echte Souveränität zuzugestehen sei leichtsinnig. Bündnisabsichten mit Großmächten jenseits des amerikanischen Orbits würden die USA unterbinden.

Carl Schmitt spricht 1940 von der Fiktion der völkerrechtlichen Gleichheit, Lippmann hält Präsident Wilsons Vision des Selbstbestimmungsrechts einer Nation für gutmütigen Schwachsinn. Lippmann sagt die Genese mehrerer geopolitischer Konstellationen voraus: Russland mit seinen Satelliten, China sowie die Welt der Hindu und der Muslime. Samuel Huntington kann sich hier bedienen, um den Kampf der Kulturen in seinem gleichnamigen Buch auszurufen. Der Weltfriede werde davon abhängen, dass diese Großräume sich gegenseitig ausbalancieren. Dies sei Sache der hegemonialen Kernstaaten und nicht Mexikos oder Panamas.

1943 wird die künftige Gestalt der UN bereits diskutiert. Sie werde als Weltregierung der Weltgesellschaft versagen, prophezeit Lippmann schon vor ihrer Gründung. Der Grund für diesen pessimistischen Ausblick ist Lippmanns Glaube an die essenziellen Differenzen der Großraumordnungen dieser Welt, doch "ohne einen universellen Standard an Moral werde eine universelle Gesellschaft nicht existieren". Der Sinn der UN bestehe allenfalls in der Förderung des nichtpolitischen Verkehrs. Sie mag für Wohlfahrt sorgen, für den Frieden sind Großmächte zuständig. "Für unsereins", resümiert Lippmann die Chancen einer Weltgesellschaft, "in einer Welt, so wie sie ist, sind wir auf unsere bewaffneten Mächte und unsere nationale Kraft angewiesen."
Amerika nimmt nur Rücksicht auf wirkliche Mächte. Bloße "Verträge, Chartas, Deklarationen" seien nicht mehr wert als ihre machtpolitische Deckung. Nicht das Völkerrecht irgendeiner Weltgesellschaft bestimmt über Recht und Unrecht, sondern "Großmächte". Und solche denken geopolitisch. Die Kampfkraft der Alten Welt, schreibt Lippmann 1943, sei der amerikanischen um ein Vielfaches überlegen, sie sei "auf überwältigende Weise überlegen". Die Neue Welt brauche daher im alten Europa Verbündete. Heute nicht mehr. Überwältigende Überlegenheit ist zum Markenzeichen der USA geworden. Um den eigenen Großraum zu sichern, können sie ihrer eigenen Stärke zuerst vertrauen. Europa könne daran wenig ändern, denn es werde nie, so Lippmann, zu einer "geostrategischen Einheit" finden. Ein Pralinengipfel wird jedenfalls nicht ausreichen, um die Asymmetrie zwischen Zentralgestirn und Satelliten aufzuheben.



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Dokument erstellt am 19.06.2003 um 16:52:03 Uhr
Erscheinungsdatum 20.06.2003