Niels Werber
 

                   Warme Risse in der kalten Theorie

                   Neue globale Weltordnung: Die verdeckten normativen
                   Implikationen der Systemsoziologie

                   Von einem "schwierigen Weg in die Weltgesellschaft" sprach der Soziologe
                   Richard Münch vor gerade einmal drei Jahren. Demgegenüber gehen seine
                   Kollegen Rudolf Stichweh und Helmut Willke davon aus, dass
                   Weltgesellschaft längst eine Tatsache sei. Dieser Unterschied in der
                   Diagnose ist im unterschiedlichen theoretischen Zuschnitt der Begriffe
                   begründet. Bei Münch ist die Weltgesellschaft eine Zielvorgabe mit klaren
                   politischen und moralischen Konturen, ja sogar ein "Programm". Im Verlauf
                   eines "schwierigen Weges" würde der klassische demokratische
                   Nationalstaat aufgehoben und "in die supranationale Koordination und globale
                   Kooperation im Rahmen einer globalen Mehrebenendemokratie der
                   Weltgesellschaft" eingebettet. In dieser würden, mit regionaler Tiefe und
                   globaler Reichweite, die sozialpolitischen, ökologischen und ethnischen
                   Konflikte der Welt gelöst werden können.

                   Die Systemtheoretiker Stichweh und Willke treten dagegen völlig deskriptiv
                   auf (vgl. ihre Artikel in der FR v. 20. 2. und vom 13. 3. 2001, und ausführlicher:
                   Helmut Willke, Atopia, Suhrkamp 2001, Rudolf Stichweh, Weltgesellschaft,
                   Suhrkamp 2000). Die Systemsoziologie beobachtet und beschreibt, die
                   Formulierung von Utopien und Wertordnungen überlässt sie der Philosophie -
                   jedenfalls ihrem Selbstverständnis nach. Doch wie sieht ihr Befund im
                   einzelnen aus? "Die Weltgesellschaft", so Stichweh, "ist das einzige
                   Gesellschaftssystem, das es gegenwärtig auf der Erde noch gibt. Das ist eine
                   historisch neue und singuläre Bedingung." Sie löse eine Vielzahl von
                   Gesellschaften ab, die in einem nur zufälligen kommunikativen
                   Zusammenhang standen. Was in der römischen Antike geschah, blieb ohne
                   Konsequenzen für das Reich der Maya, die neuguineischen Stämme oder die
                   Siedler in Thule. Dies hat sich Stichweh zufolge geändert, und der Grund
                   dafür liegt in der weltweiten Vernetzung der Kommunikation.

                   Die durch neue Medientechniken und Verkehrsmittel flächendeckend
                   erschlossene Welt kennt, so Willke, nur noch eine Gesellschaft, die man mit
                   Recht "Weltgesellschaft" nennen kann, weil alle sozialen Aktivitäten auf
                   Erden nun - potentiell - füreinander erreichbar sind. Hyperinflation im antiken
                   Rom, Überproduktion von Weizen in Altägypten oder der Tod des Tenno
                   fanden noch keine globale Resonanz, während sich heute ein starker Dollar,
                   steigende Rohölpreise, ein neues Madonna-Video, ein englisches
                   Patentgesetz oder ein chinesischer Staudammbau weltweite Beachtung der
                   globalen Märkte, der Zuschauer, Biotechniker oder Umweltschützer
                   erzwingen. Zu den Folgen dieser Entwicklung gehört, dass die funktionale
                   Differenzierung Weltmaßstab erreicht hat.

                   Vor diesem Hintergrund kommt Stichweh zu dem Urteil, dass die "Integration
                   der Weltgesellschaft unproblematisch zu sein scheint", denn diese wird
                   "durch Kommunikation als konstitutives Element des Systems gesichert".
                   "Integration" wird hier genau wie "Weltgesellschaft" frei von normativen
                   Ansprüchen gehalten, so dass man etwa auch Ghettobildung,
                   Marginalisierung oder Diskriminierung als Fälle von Integration verbuchen
                   muss, sobald sie im Medium der Kommunikation stattfinden.

                   Die Theorie der Weltgesellschaft auf den Begriff der Kommunikation zu
                   stützen hat den Vorzug, dass diese ohnehin auf Grenzenlosigkeit abonniert
                   ist. Bereits Luhmann hatte betont, dass die Grenzen zwischen Staaten
                   "weder von Wahrheiten noch von Krankheiten, weder von Bildung noch vom
                   Fernsehen, weder vom Geld noch von der Liebe respektiert" würden, weil die
                   Kommunikationssysteme "unabhängig von Raumgrenzen" operieren.
                   Medientechnologien bilden die Voraussetzung für die grenzenlose
                   Kommunikationen der Funktionssysteme, welche den Territorialstaat zum
                   Relikt degradieren: "Bei wachsenden weltpolitischen Verflechtungen wird es
                   für Staaten zunehmend schwieriger, zu behaupten, bestimmte Themen seien
                   ausschließlich ‚interne Angelegenheiten'; denn andere Staaten können darauf
                   mit ebenfalls ‚internen Entscheidungen' reagieren, Zum Beispiel mit der
                   Ablehnung von Kreditgarantien, Strafzöllen oder eigenen diplomatischen
                   Aktivitäten", heißt es in Luhmanns Politik der Gesellschaft.

                   Dass genau daraus Interventionen in den Raum entspringen können (mit
                   Armeen oder Bomben), diese Konsequenz hat Luhmann nicht weiter verfolgt.
                   Das ist kein Zufall, denn die These der Grenzenlosigkeit der Kommunikation
                   führt zum Ausschluss des physischen Raums und seiner Handgreiflichkeiten.
                   Gewiss, die Kommunikation fließt durch die Territorialstaaten hindurch, doch
                   für viele Körper erweist sich das Schengener Europa als semipermeabel: Man
                   kommt heraus, aber nicht herein. Dass die Heimatstaaten von Flüchtlingen
                   oder Asylanten darauf mit "internen Entscheidungen reagieren", führt bislang
                   kaum zu Irritationen in der EU-Politik.

                   Dagegen ist für die politische Theorie von Thomas Hobbes über Carl Schmitt
                   bis zu Samuel P. Huntington gerade der physische Raum das zentrale
                   Medium der Macht, denn nur im Raum kann sich der Staat des Zugriffs auf
                   Körper (Menschen und Dinge) versichern. Macht, daran hat kürzlich Hans
                   Ulrich Gumbrecht erinnert, ist die "Möglichkeit, Räume mit Körpern zu
                   besetzen und aus Räumen zu verdrängen." Alle polizeiliche, militärische und
                   richterliche Gewalt setzt voraus, dass Körper räumlich zu fixieren sind. Nun
                   ist aber die Kommunikation "an sich keine raumgebundene Operation"
                   (Luhmann). Die Systemtheorie legt daher eine ganz andere Gewichtung von
                   Raum und Macht nahe: Wenn der politische Raum "inflationär an Wert"
                   verliert, weil die Weltgesellschaft der Telekommunikation zum "Atopia
                   ortloser, grenzenloser Transaktionen und Kommunikationen" (Willke)
                   geworden ist, dann schwindet die Bedeutung politischer Macht, die ja letztlich
                   an die "glaubhafte Androhung physischer Gewalt" gebunden ist. Folglich
                   läutet Willke das "Ende des Nationalstaates" ein und lässt das Atopia der
                   "konnektivistischen Fluidität" beginnen, in der mit der "Territorialität" alle alten
                   Mächte und Hegemonien untergehen. Lassen sich mit dieser Theorie
                   tatsächlich Regionen der Weltgesellschaft wie der Kosovo, Tschetschenien
                   oder Israel beschreiben?

                   Wenn "Verortung und Ortbarkeit verloren gehen", meint Willke mit Blick auf
                   die neuen Medien, dann stehe auch die "Überwindung hegemonialer
                   internationaler Regimes" auf der Tagesordnung. Damit würden die
                   militärischen und politischen Voraussetzungen des Freund-Feind-Denkens
                   obsolet, denn der Feind muss ortbar sein, um verortet zu werden, ob es nun
                   um Raketen, Truppen oder sonst eine Macht geht, die mit Körpern und
                   Dingen einen bestimmten Raum besetzt. Wenn es keinen Raum mehr gibt, in
                   dem der Feind steht, dann wird, meint Willke, den "Plagen wie Fremdenhass,
                   Chauvinismus, Nationalismus, Diktatur und Krieg, welche die Nationalstaaten
                   über die Menschheit gebracht haben", endlich der Boden entzogen. - Es ist
                   ganz offensichtlich, dass dies nicht der Fall ist. Man könnte hier "noch nicht"
                   sagen, aber auch dann handelt es sich um kontrafaktische, also normative
                   Überzeugungen. Dies ist die Stelle der Systemtheorie, an der ihre immer so
                   betont "kalte" Beobachtungslehre gleichsam "warme" Risse zu zeigen
                   beginnt und die theoretisch orientierte Deskription in utopische Projektion
                   umschlägt. Da das Ende von "Fremdenhass, Chauvinismus, Nationalismus,
                   Diktatur und Krieg" sauber aus systemtheoretischen Grundannahmen
                   abgeleitet wird, handelt es sich - aller Selbsteinschätzung entgegen - um
                   normative Implikationen der Theorie selbst.

                   Weltgesellschaft bedeutet für den Bereich der Politik auch, dass neu
                   gegründete oder in ihrer Verfassung sich verändernde
                   "Transformationsstaaten" ihre Institutionen nicht neu erfinden müssen,
                   sondern auf erprobte Strukturvorgaben zurückgreifen können. Dabei hat sich
                   der Typus des Nationalstaates als politische Organisationsform global
                   durchgesetzt - ähnlich wie die Geldwirtschaft oder die experimentelle
                   Forschung. Das Ergebnis ist, so Stichwehs zutreffende Analyse, "dass sich
                   ein verblüffend ähnlicher ‚set' von Institutionen der Moderne herausbildet", von
                   Schulen bis zu den Versicherungssystemen des Wohlfahrtsstaates.

                   Doch diese neutrale Fassung der Integration wird normativ aufgeladen, wenn
                   Stichweh behauptet, dass "alle Staaten im System der Weltgesellschaft
                   nationale Wohlfahrtstaaten" seien. Nur bei "extremen Sonderfällen" sei dies
                   nicht der Fall - als Normalfall ergebe sich jedoch aus der politischen
                   Kommunikation der Weltgesellschaft eine "vom Wohlfahrtstaat gesicherte
                   Minimalgleichheit" für alle. Denn der in der Weltgesellschaft mögliche
                   Vergleich staatlicher Leistungen (durch Bürger, NGOs, UNO usw.) setzt die
                   einzelnen Staaten unter Leistungsdruck: Sie müssen sich um die Wohlfahrt
                   im Lande bemühen. Dieser Leistungsvergleich, etwa zwischen Wisconsin und
                   Hessen, gelingt gewiss in Regionen, in denen Bürger und Institutionen Zugriff
                   auf die Medien dieses Vergleichs haben; ob dies weltweit, also auch in Afrika
                   oder Asien möglich ist, ist zweifelhaft, zumal in den meisten Ländern dieser
                   Erde die Bürger nicht in der Lage sind, aus dem Vergleich die Konsequenzen
                   zu ziehen und ihren Staat zugunsten eines anderen zu verlassen.

                   Die zunächst nur deskriptiven Beschreibungen der Weltgesellschaft werden
                   also in der Systemtheorie zu einem evolutionären Trend hochgerechnet, der
                   das Zeitalter der Geopolitik, der Hegemonialkämpfe und Kriege zu Ende
                   gehen lässt und die Weltgesellschaft gleichsam in eine friedliche
                   Weltgemeinschaft umschreibt. Ausdrücklich hat sich Stichweh von
                   Huntingtons These eines möglichen clash of civilisations abgesetzt, zu deren
                   impliziten Voraussetzungen ja die Annahme gehört, dass ethnisch und
                   kulturell differente Großraumordnungen gegeneinander antreten. Diese Art der
                   ‚Integration' der Weltgesellschaft durch global ausgefochtene Konflikte gehöre
                   der Vergangenheit an. Mit den amerikanischen, russischen oder deutschen
                   Versuchen, Großraumordnungen "kontinentgroßer Einzelstaaten" zu bilden,
                   sei es vorbei, weil die weltweite Strukturbildung politischer Kommunikation zu
                   einer "Egalisierung nationaler Souveränität" geführt habe. So wie die
                   modernen Verfassungen des Nationalstaats allen Bürgern gleiche Rechte und
                   Pflichten unabhängig von Macht, Rang, Einkommen und Stand einräumten,
                   behandeln die politischen Institutionen der Weltgesellschaft "die
                   Nationalstaaten als konstitutive Bürger". Im globalen System politischer
                   Kommunikation gelten dieselben Spielregeln für große und kleine Staaten wie
                   in den Einzelstaaten für große und kleine Parteien. "Erstmals", folgert
                   Stichweh, "unterscheiden sich die Überlebenswahrscheinlichkeiten für große
                   und kleine Staaten nicht wesentlich, sind kleine Staaten nicht mehr auf
                   geographische Sonderlagen und hegemoniale Unterordnung angewiesen."
                   Ohne hegemonialen Druck können die unterschiedlichen "Regionalkulturen"
                   ihre spezifische "Diversität" pflegen.

                   Auch dieses eher postulierte als faktische Ende der Hegemonial- und
                   Machtpolitik scheint eine Folge normativer Implikationen der
                   Systemsoziologie zu sein, die darin besteht, aus gewissen strukturellen
                   Möglichkeiten einer funktionsdifferenzierten Weltgesellschaft abzuleiten, dass
                   es wirklich so geschehe. Aus der in den Strukturen der globalen
                   Kommunikation selbst angelegten Evolution ist eine Teleologie zum Besseren
                   geworden. Sie werde pazifizierend wirken. Die Weltgesellschaft dämpfe die
                   "nationalkulturellen Eigenheiten" und "Idiosynkrasien" und läute so das Ende
                   der Hegemonien und den Anfang einer "egalitären" Weltordnung ein. "Boden
                   und Blut" verlieren, so Willke, ihre Bedeutung, und nicht nur alle Geopolitik,
                   sondern jede "territorial delimitierte und denkende Soziologie" mache sich
                   "nur noch lächerlich". Die Weltgesellschaft der Systemtheorie ist eine Welt
                   ohne Fremdenhass, Chauvinismus, Nationalismus, Diktatur und Krieg - eine
                   bessere Welt, aber ist es auch unsere?

                   Bereits 1915 hat der liberale Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann vor
                   dem Irrtum gewarnt, dass aus der nachrichten- und verkehrstechnischen
                   Vernetzung sich "eine friedliche Entpolitisierung der Nationen", die
                   "Zurückdrängung der Streitmöglichkeiten" und "Hebung aller durch alle" von
                   selbst ergebe. Der Krieg beweise, dass in der "wirtschaftlich verbundenen
                   Menschheit" keine "den Frieden erzwingende Kraft" zu sehen sei. Der
                   "erstaunlichen Entfaltung der technischen Mittel, der Verkehrs-, Mitteilungs-
                   und Verbreitungsmöglichkeiten" folge nicht zwangsläufig eine gerechte,
                   fortschrittliche und friedliche Zukunft. Das Argument trifft noch heute - auch
                   wir leben ja in einer Zeit der permanenten militärischen Interventionen und
                   bewaffneten Konflikte. Die Welt wird durch die systemtheoretische Deduktion
                   eines Endes der Hegemonien, Idiosynkrasien und Aggressionen nicht
                   friedlicher. Um ihren normativen blinden Fleck in den Blick zu bekommen,
                   müsste die Systemsoziologie sich dem Raum zuwenden, in dem nach wie vor
                   Mächte auf Körper wirken.
 
 

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                   Copyright © Frankfurter Rundschau 2001
                   Dokument erstellt am 10.09.2001 um 21:47:39 Uhr
                   Erscheinungsdatum 11.09.2001