John
W. Meyer entlarvt den westlichen Glauben an das Dreigestirn Staat,
Organisation und Individuum als Fiktion
Es
herrscht Wahlkampf. Regierung und Opposition wollen es künftig
anders
machen, besser. Der richtige Bundeskanzler, die richtige Partei
müssen
das Ruder des Staatsschiffs übernehmen, dann wird es wieder
aufwärts
gehen… Dieser Wahlkampf könnte so oder ähnlich in jedem
Nationalstaat
geführt werden, aber eben nur dort, denn in einer anderen, von
Clans
oder Großfamilien, von Schamanen oder Kriegern, Priestern oder
Alten
beherrschten Kultur würde die Vorstellung, dass alle vier Jahre
die
Zukunft einer Gesellschaft zur Wahl gestellt wird, kaum einleuchten.
Man würde dort eher erwarten, dass alles mehr oder minder so
bleibt,
wie es ist, gleichgültig, was der eine oder andere tut oder
lässt. Gott
ist groß. Der Zar ist fern.
Von
Erben bis Sterben alles reguliert
Dass
das Handeln von Individuen entscheidende Wirkungen zeitigt, und sei es
in Form von Wahlergebnissen, dass die Aktivitäten von
Organisationen,
wie es Parteien, Firmen und Verbände sind, erheblichen Einfluss
haben,
dass der Staat ein Akteur ist, der nahezu alle Felder der Gesellschaft
vom Erben bis zum Sterben, vom Arbeiten bis zum Heiraten steuernd und
regulierend prägt - all dies sind typisch westliche
Überzeugungen, die
keinesfalls natürlich oder notwendig sind. Ihre Existenz ist
vielmehr
eine "sozial konstruierte und hochgradig hinterfragbare Angelegenheit".
Auch wenn sie sich mittlerweile weltweit ausgebreitet haben, gibt es
noch heute Kulturen ohne Standesamt und Pflegeversicherung.
Doch
sind sie vom Aussterben bedroht, denn, so argumentieren John Meyer und
seine Co-Autoren, "die westlichen Prinzipien durchdringen die Welt" und
formen eine "Weltkultur", in der sich Individuen als
Führungspersönlichkeiten präsentieren,
Parteiorganisationen als
schlagkräftig, Staaten als handlungsfähige Akteure.
Ach, wäre es
doch so! Aber dieses Dreigestirn ist nur eine von Soziologen gepflegte
Fiktion der westlichen Moderne. Dass sie heute weltweit als
"konkurrenzlos dominant" gelten darf, führen Meyer und sein Team
an den
Politikfeldern Bildung, Umwelt, Recht und Internationale Organisationen
vor. Überall konstatieren sie zunächst erstaunliche
"Isomorphien" -
Ähnlichkeiten in Struktur und Organisation: Die Bildungssysteme
ähneln
sich alle, die Gliederung in Ministerien und Behörden ähneln
sich
allseits, die Richter, Staatsanwälte und Verteidiger ähneln
sich bis zu
den Roben, Umweltschutzverordnungen, Universitäten,
Versicherungen,
Armeen, sie ähneln sich weltweit.
Warum? Weil Menschen unter
bestimmten Bedingungen für sie nützliche Lösungen finden
und daher
unabhängig voneinander Regierungen in aller Welt Umweltministerien
schaffen, um die nationalen Ressourcen zu erhalten? Diese
funktionalistische Erklärung hält Meyer für naiv. Oder
weil es so und
nicht anders effizient ist? Eurozentrisch! Weil die USA diese Formen
global durchsetzen? Nein!
Ein
Schlag für die Selbstgewissheit
Am
Exempel einer neu entdeckten Gesellschaft führt Meyer vor, wie
schnell
und unvermeidlich die Weltkultur ihre Formen bis ins Familienrecht und
die Schulcurricula hinein treiben würde. Die großen
internationalen
Organisationen von den Vereinten Nationen bis Attac, von Greenpeace zur
Weltbank würden Meyers erfundene Insel schnell in einen
Nationalstaat
mit Gewaltenteilung, Instanzen, Minderheitenschutz, Schulden und
Religionsfreiheit verwandeln. Dem global etablierten Set von
Unterstellungen zu widerstehen, ist nahezu unmöglich. Wer Mitglied
der
UN und anderer Einrichtungen werden will, kann dies nur als
Nationalstaat tun, der von Regierungen geleitet wird, sich in
Ministerien gliedert etcetera - und wenn UN, dann Menschenrechte,
Umweltschutzleitlinien, Bildungsaufträge.
Ein Heer von Beratern,
von "interesselosen" Wissenschaftlern, NGOs und Experten
unterstützt
seit 1945 die globale Diffusion westlicher Einrichtungen. Sie
würden
die Insel mit Organisationen (Kirchen, Frauengruppen, Parteien,
Vereine…) überziehen und ihre Bewohner in Individuen verwandeln,
zu
deren Identität es gehört, hier und nicht dort Mitglied zu
sein. Meyer
bezweifelt, dass dieser Strukturexport immer zweckrational ist; warum
sollte es auch vernünftig sein, beispielsweise den freien und
allgemeinen Zugang zu höherer Bildung westlichen Standards in
Regionen
zu gewährleisten, die den Absolventen keine entsprechenden
Karrieren
bieten? Der Selbstgewissheit der Weltkultur-Experten, überall
best
practice zu verbreiten, wird hier ein Schlag versetzt.
Ohnehin
trügt der Schein globaler Isomorphie. Denn was der weltweiten
Durchsetzung von Institutionen und Strukturen korrespondiert, sind
"massive Entkopplungserscheinungen" zwischen weltkulturellen Programmen
und "realen Praktiken". Die Schere zwischen Umweltschutzministerium und
Umweltschutz kann unendlich weit auseinander klaffen. Die scheinbar
weltweit anerkannten Modelle ökonomischer Entwicklung,
fiskalischer
Vernunft, medizinischer Versorgung oder wissenschaftlich-technischen
Fortschritts prägen zwar die Selbstbeschreibungen der Akteure und
ihre
Broschüren, nicht aber unbedingt ihr praktisches Handeln.
Die
Weltkultur ist für Meyer eine Fiktion, die ihren nachhaltigen
Erfolg
nicht zuletzt den unzähligen Agenten verdankt, die in ihrem Namen
auftreten und von ihr profitieren, da sie weltweit Regierungen,
Einrichtungen und Behörden dabei helfen, so zu sein, wie es ihre
Drehbücher vorschreiben, oder doch so zu scheinen: Auch wir haben
jetzt
ein XY-Ministerium, einen nationalen Z-Plan,
good governance…
Im Wahlkampf haben solche Skripts Konjunktur. Wo auch immer er
stattfindet: Stets kommt es darauf an, ihn nicht als Inszenierung
sichtbar werden zu lassen. Vorhang auf!
Das Buch
John W. Meyer:
Weltkultur. Wie die
westlichen Prinzipien
die Welt durchdringen. Aus dem Amerikanischen von Barbara
Kuchler, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ M. 2005,
319 Seiten, 15 Euro.