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Derselbe Sturm vernichtete einst Schiff, Mannschaft, Waren und Briefe 

Dann machte Funk das Abenteuer kalkulierbar: Harald Wenzel über Kommunikation zwischen den Neuen Medien und ihren Nutzern 

Von Niels Werber 

"Man kann nicht nicht kommunizieren", lautet ein viel zitiertes Bonmot. Selbst wenn man nur herumsteht, schweigt und gar nichts tut, kommuniziert man also doch - und zwar deshalb, weil andere dem eine Bedeutung unterstellen. "Du sagst ja gar nichts, was ist mit Dir?", lautet die unvermeidliche Frage, und man wird vergeblich behaupten, es sei gar nichts. Sobald auch nur zwei Personen aufeinandertreffen, beginnt also die Kommunikation; und es ist unmöglich, sich aus ihren Fängen herauszuhalten, denn um zu kommunizieren, reicht es vollkommen aus, vom Anderen involviert zu werden. Auch wenn man sich weiter ruhig verhält, das Schweigen wird beredt. Wie die Kommunikation weiterläuft, hängt dann davon ab, was alter egos Schweigen unterstellt, und selbst wenn egos Versuch, nicht zu kommunizieren, völlig frei von Intentionen gewesen ist, alter wird ihm dennoch Wille und Bedeutung unterschieben.

Wenn dies zutrifft, wie kann man dann von den Abenteuern der Kommunikation sprechen? Warum soll etwas, das nicht nur völlig alltäglich, sondern sogar unvermeidlich ist, ausgerechnet ins Abenteuer führen? Kommunikationen sind für Harald Wenzel deshalb Abenteuer, weil ihr Ablauf ungewiss ist und weil "wir nicht genug über die Situation wissen, um einen perfekten Handlungsplan zu entwerfen", der die tatsächliche Sequenz der Kommunikation genau vorherberechnen könnte. Obschon zahlreiche Routinen den Kommunikationsverlauf vor unliebsamen Zufällen schützen, sind wir vor Überraschungen nicht ganz gefeit. Während der ewig hinter der Zeitung schweigende Ehegatte noch auf seinen zweiten Toast wartet, ist seine Partnerin längst aufgebrochen, statt vergeblich auf eine Antwort zu warten. Wie es weitergeht, wird davon abhängen, was dieser nonverbalen Kommunikation unterstellt wird. Dass kommuniziert wird, versteht sich von selbst, aber wie die Kommunikation verläuft, ist offen. Diese Offenheit "zwischen der Sinnlosigkeit des Zufalls" auf der einen und der völligen Kontrolle des Prozesses durch Wissen und Routine auf der anderen Seite nennt Wenzel "Abenteuer". 

Um den "Handlungsraum der Hochmoderne" zu erkunden, geht Wenzel bis auf die hochmittelalterlichen Werke Chrétiens de Troyes zurück, dem wir Aventiuren rund um die Suche nach dem Heiligen Gral verdanken. Der Ritter zieht aus einer noch eng geschnittenen Nahwelt in die Fremde, die bereits am Waldesrand hinter der Burg beginnen kann, um sich Bewährungsproben auszusetzen. Gelingt ihm dies, dann erringt er Ruhm und Ehre, aber auch Lehen, Vermögen, Liebe oder Herrschaft. Wenzel betont, der Löwenritter Chrétiens sei bereits an räumlicher und sozialer Mobilität orientiert und sehe in seinem Abenteuer ein Wagnis, das er eingeht, um einen Gewinn zu erzielen, der es wert ist, das Scheitern zu riskieren. Dies ist bewusst modern formuliert, denn Wenzel sieht in der Aventiure den Vorläufer des "bürgerlichen Handelsabenteuers". Das Abenteuer des Ritters wird der Händler dann mit den Begriffen Profit und Risiko bezeichnen und zu kalkulieren suchen. Die Kaufleute setzten bereits gegen Ende des 12. Jahrhunderts durch, dass der ungewisse Ausgang ihres Unternehmens dadurch entschädigt werden dürfe, den Erfolg zu verzinsen, also eine Risikoprämie einzustreichen.

Wenzels Vorschlag, das Abenteuer zwischen völliger Zufälligkeit und vollkommener Planung anzusiedeln, bewährt sich hier, denn der merchant adventurer sieht gerade in der Unsicherheit seine Chance, die er jedoch gegen unliebsame Zufälle zu versichern sucht. Im aktiven Kampf des Handelsabenteurers "gegen das Risiko des Scheiterns und für die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs" vergrößert sich der Handlungsraum Alteuropas bereits im 13. Jahrhundert enorm, und die Ökonomie errichtet in der Folge des Seehandels ein raumgreifendes Bank-, Kredit- und Börsenwesen. So entsteht eine gleichsam abenteuerliche Wirtschaft, die nicht mehr nur genau das herstellt, wofür auch Aufträge vorliegen, sondern "Produktion für den Markt" betreibt, also ohne vorher zu wissen, ob sich Käufer finden und wie hoch der Preis sein wird. Die "Geburt des Kapitalismus" wird so einige Jahrhunderte vordatiert.

Erst neue Medien schaffen eine Differenz zwischen Verkehrsmitteln und Nachrichtenfluss. Zuvor hat ein Kapitän keine Möglichkeit, eine Nachricht über seine Ladung schneller an sein Handelshaus zu schicken, als er selbst zu segeln vermag. Alles reist im selben Boot, und derselbe Sturm vernichtet Schiff, Mannschaft, Waren und Briefe. Diese Korrelation ändert sich grundlegend mit der Erfindung der Telegraphie. Ab jetzt reisen Informationen mit Lichtgeschwindigkeit, und es hängt nur von der Größe des Telekommunikationsnetzes ab, wie klein die Welt wird. Man weiß nun schon lange vor den einlaufenden Schiffen, dass die Kaffeeernte gut gewesen ist, und die Preise purzeln. Die modernen Massenmedien, führen zu einer "Annihilation von Raum und Zeit" - und zu neuen Abenteuern, etwa an Warenterminbörsen, aber auch zu Hause. Diese zivile Entwicklungsgeschichte der Medien bietet eine Alternative zur Kriegsmediengeschichte Friedrich Kittlers, den Wenzel nicht berücksichtigt.

Neue Medien machen das Abenteuer kalkulierbar. Der über Funk informierte Kapitän kennt die gefährliche Lage und kehrt rechtzeitig um, der über Telex hereinkommende Bericht über eine Nahost-Krise bewegt den Börsianer zum Kauf von Ölfutures. Was Ritter und Kauffahrer, Konquistador und Kolonist einst selbst und exklusiv als neu und fremd erfahren haben, kommt nun via Massenmedien direkt in unsere Wohnungen. Niemand muss noch selbst die Welt bereisen, um etwas Neues zu erfahren. Der "Universalmonitor" der technischen Medien verwandelt die Welt in ein gigantisches Panorama. Mit dem Abenteuer der Kommunikation scheint es nun vorbei zu sein, wenn das einzige Risiko des couch potato darin besteht, sich beim Zapping eine Sehnenscheidenentzündung zuzuziehen.

Adorno und Horkheimer haben diese Verwandlung des listenreichen Seefahrers Odysseus in einen mit allem einverstandenen Konsumenten wirkungsmächtig als Dialektik der Aufklärung beschrieben. "Massenmedien", so lautet die gängige Überzeugung, "stellen Öffentlichkeit für den weitgehend entmündigten Bürger her", der "fast beliebig manipuliert werden kann". Dieser "Pauschalverdacht" gegen die Medien wurde aber laut Wenzel nie empirisch überprüft, sondern allein rhetorisch ausgebaut zum "Vorurteil von der Passivität des Menschen in der Massengesellschaft". Wenzel bricht mit Vehemenz aus der wissenschaftlichen Routine aus, den Rezipienten von Massenmedien für versklavt, dumm, passiv und entfremdet zu halten. In dieser Wendung gegen ein theoretisches Klischee liegt ein großes Verdienst. 

Statt dessen sollen Massenmedien "die Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten des fremden Anderen zugänglich" machen, die Rezipienten also in ein Abenteuer der Kommunikation verwickeln und sie aktivieren. Wenzels Schlüsselbegriff für diese Beziehung zu den Medien ist die "parasoziale Interaktion". Der Begriff Interaktion überrascht, denn die technische Trennung von Sender und Empfänger lässt eine Interaktion mit dem Publikum nicht zu. Wenzel weiß, dass es keinen Rückkanal gibt, und behauptet doch, die "parasoziale Interaktion mit dem Fernsehen" sei von einer "Interaktion im Alltag, die face to face stattfindet", kaum zu unterscheiden. Es gebe eine "Reziprozität" auch ohne "direkte Rückkopplung".

Obwohl der Zuschauer nicht in die laufende Sendung eingreifen und also der Sender darauf auch nicht reagieren kann, finde eine Kooperation statt, die man sich wie die Kommunikation mit einem schweigsamen Partner vorzustellen hat: Auf das Schweigen wird mit Unterstellungen reagiert und so beredt gemacht. Die Massenmedien begegnen dem Schweigen der Zuschauer mit der Antizipation ihrer Wünsche, und das Publikum lässt sich auf diesen Versuch ein. So nähern sich die Erwartungen beider Seiten einander an, und Harald Schmidt macht genau den Witz, den man von ihm erwartet, ganz als ob man ihn darum gebeten hätte. Dank dieses "wechselseitigen Vertrauens" zwischen Medienakteur und Publikum finde trotz der technischen Trennung Interaktion statt. 

Wenzel hat hier eine sympathische Medientheorie vorgelegt, die den Rezipienten zum gleichberechtigten Partner der Medien aufwertet. Er folgert daraus, dass die Massenmedien den Handlungsraum der Hochmoderne enorm vergrößert haben. Solches Medienlob ist selten, aber ist es auch begründet? An der Erweiterung des Handlungsraums durch Echtzeitmedien besteht wohl kein Zweifel. Telefon und Internet vergrößern die Reichweite unserer Handlungsmöglichkeiten enorm - bis an die Börsen Asiens. Aber wie steht es mit Echtzeitmassenmedien? Kann man wirklich davon ausgehen, die Entscheidung des Zuschauers, sich auf ein Sendeformat einzulassen - und etwa zu Hause mitzuraten, wenn im TV eine Quizshow läuft -, habe dieselbe Reichweite hat wie die Entscheidung, Aktien leer zu verkaufen oder im chinesischen Internet einen kritischen Artikel zu publizieren? Die Massenmedien mögen das Fremde und Andere in die Wohnzimmer holen, und nicht immer ist der Verlauf der Sendungen vorhersehbar. Das mag man abenteuerlich nennen, doch hat die eigene riskante Entscheidung ein anderes Format. 

Harald Wenzel: Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne. Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2001, 572 Seiten, 99 DM.
 
 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2001 
Dokument erstellt am 25.05.2001 um 21:44:42 Uhr
Erscheinungsdatum 26.05.2001 
 
 

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