Niels Werber

Ohne Text und Kultur

Die Systemtheorie und der ‚cultural turn’ der Literaturwissenschaft

Die Systemtheorie in der Ausformulierung Niklas Luhmanns und seiner Schule kommt bislang ohne elaborierte Theorien der Kultur und des Textes aus. Texte sind für Luhmann schlicht Medien „schriftlicher Kommunikation“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 257). Der Begriff der Kommunikation ist zentral, auch der Begriff der Schrift ist wichtig für den evolutionstheoretischen Teil der Systemsoziologie, ein Textbegriff wird dagegen nicht entwickelt; ein Text ist das, was schriftlich oder gedruckt vorliegt. Der Begriff wird rein deskriptiv verwendet und ist für die Systemtheorie in etwa so problematisch wie die Begriffe Äpfel und Birne. C’est ça. Kultur dagegen erfährt etwas mehr Aufmerksamkeit, denn Luhmann hält „Kultur“ für „einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind“ (Kunst der Gesellschaft: 398). Auf sein Konto gehe es, so Luhmanns Vorwurf, dass die Ausdifferenzierung der Sozialsysteme vor dem 19. Jahrhundert nicht beobachtet und beschrieben werden konnte, weil Semantiken nicht systemspezifisch in den Blick genommen wurden, sondern system-indifferent als Teil einer integralen Kultur. Statt systemspezifische Selbstbeschreibungen zu entwickeln, wurde Kommunikation auf Kultur bezogen. So heterogene Erscheinungen wie Libertins, Atheismus, Esprit, Etikette, strengster Klassizismus, raffinierte Saucen und Ragouts, Arroganz und Eleganz konnten als Teil der französischen Kultur identifiziert werden und so weiterhin „Gegenstand für Seinsaussagen“ bleiben (ebd.). „Der Franzose ist dies oder das.“ Kurzum: Der Kulturbegriff habe die Selbstbeobachtung der Gesellschaft und ihrer Geschichte mit der Differenz von Gesellschaftsstruktur und Semantik verhindert. Dietrich Schwanitz übrigens, auch er ein Systemtheoretiker, übersetzt die Fragestellung des New Historicism in seiner Auseinandersetzung mit Greenblatt umstandslos in genau diese Unterscheidung der Form gesellschaftlicher Differenzierung und ihrem entsprechenden „semantischem Gelände“.[1] Dabei geht, wie mir scheint, allerdings genau der spezifische Einsatz des New Historicism verloren, denn statt mit einer schier „unendlichen Datenfülle ohne vorgegebene Ordnungsmuster“ zu beginnen,[2] setzt Schwanitz einen bestimmten historischen Stand der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen voraus, der von der Literatur beobachtet, um nicht zu sagen: widergespiegelt[3] wird. Die von Schwanitz inszenierte „Konfrontation von Systemtheorie und New Historicism“ kann dann natürlich nur mit der Aufzählung der „Vorteile der Systemtheorie“ enden (S. 291, S. 290).

Wir wollen es daher anders versuchen: Die erste Frage, die ich hier stellen möchte, ist die, wie es sich denn mit den Sachverhalten verhält, die mit den Stichworten „Text“ und „Kultur“ umrissen sind. Lassen sich die Anliegen des New Historicism, einer Science of the Particular, einer Dichten Beschreibung, der Ethnologischen Verfremdung oder kulturellen Kontextierung oder auch – mit Georg Stanitzeks Worten – einer Hermeneutik des Hypertextes oder Brutalen Lektüre systemtheoretisch reformulieren,[4] und wenn ja, inwiefern wird das Projekt dadurch verändert und welche neuen Probleme und Lösungen kommen so in Sicht? Der Gewinn dieses Übersetzungsversuches könnte in genau jener reflexiven Distanzierung vom eigenen Ansatz liegen, die James Clifford an Stephen Greenblatts Analysen gelobt hat,[5] oder auch in jener Verfremdung, welche die Selbstverständlichkeiten der Literaturwissenschaften, ihrer Methoden und Begriffe durch ethnologische Beobachtungstechniken in Frage stellt.[6]

Von der Textualität der Kultur ist in der Systemtheorie keine Rede. Doch Luhmann erweist sich als interessierter Beobachter der Verwendung dieser Begriffe in anderen Theoriekontexten, vor allem im Falle der Dekonstruktion. Für sie – und das hat sie wohl mit dem New Historicism und der von dieser Theorie angeregten Kulturwissenschaft gemeinsam[7] – sei zunächst einmal all das, „was vorliegt“, als „Text gegeben und die Operation, um die es geht, wird als Lesen bezeichnet“ (Kunst der Gesellschaft: 159). Auf beiden Seiten: der des Textes und der der Lektüre werden Differenzen prozessiert, also kontingente Unterscheidungen, die so oder anders gewählt werden können, weshalb Texte wie Lektüren als Konstrukte gelesen werden können, die bestimmte Varianten manifest werden lassen, andere aber nur als Negationshorizont mitführen. Text und Lektüre sind daher sozusagen selbst schon dekonstruktiv. Denn alles was konstruiert worden ist, kann auch anders konstruiert werden. Jedes Konstrukt kann also auf alternative Konstruktionsmöglichkeiten befragt: es kann dekonstruiert werden.[8]

Diese Rekonstruktion der Dekonstruktion überführt Luhmann in eine Theorie der Beobachtung. „Aus »Lesen«“, heißt es in der Kunst der Gesellschaft, „wird dann »Beobachten«“ (S. 160). Was ändert sich bei diesem Import? Luhmann nimmt hier keine Transformation vor, sondern eine Ersetzung: „Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung“ heißt eben, die Dekonstruktion durch eine Theorie der second order observation zu ersetzen. Es ist schon so: „Etwas auf andere Weise sagen, heißt immer auch etwas anderes sagen.“[9] Dies hat etwa zur Folge, ich referiere ein Beispiel Urs Stähelis, dass die politischen Lektüren der Dekonstruktion und ihr sehr breiter Begriff des Politischen zurechtgeschnitten werden auf Beobachtungen der Politik innerhalb des politischen Systems und die Beobachtungen dieser Beobachtungen.[10] Alles, was unter dem Stichwort Textualität der Kultur an der Dekonstruktion interessieren könnte, wird so gekappt. Was eine dekonstruktive Lektüre eines Textes als Intertext oder Kontext mitlesen würde, das kommt in Luhmanns beobachtungstheoretisch gewendeter Dekonstruktion gar nicht in den Blick, weil allein „Operationssequenzen des Systems“ beobachtet werden, etwa die des Systems der Politik, weil „die Operationen des Systems bestimmen, wie Texte und andere Objekte der Umwelt identifiziert, beobachtet, beschrieben werden.“ (Kunst der Gesellschaft: 161) Damit soll aus systemtheoretischer Sicht offenbar genau jener Fehler vermieden werden, den fatalerweise der Begriff der Kultur verschuldet habe: eine Beobachtung von Zusammenhängen, die sich um Systemreferenzen nicht scheren, weil sie ihre Zusammengehörigkeit nicht einem Funktionscode oder dem Bezug auf bestimmte Probleme verdanken, sondern der Kultur. Was beispielsweise Moritz Baßler an Stückrad-Barres „Kulturpoetik“ vorgeführt hat,[11] was Wolfgang Braungart als intertextuellen Horizont eines Marterls ausreizt[12] oder was James Clifford in einem Roman Joseph Conrads und den Feldforschungen Bronislaw Malinowskis als Momente „ethnographischer Selbstinszenierung“ liest,[13] würde von der Systemtheorie gar nicht beschrieben werden, weil ihre Beobachtungen strikt auf die „Operationen des Systems“ ausgerichtet werden, dem System der Literatur etwa. Die besagten Texte als Kultur aufzufassen, hieße, ich wiederhole mich, ins 18. Jahrhundert oder weiter zurückzufallen. Was die Systemtheorie statt dessen tut, kann man etwa an Luhmanns „Rediskription ‚romantischer Kunst’“ nachvollziehen, wo er es gleichsam unternimmt nachzuholen, was die Romantik selbst versäumt hat, nämlich genau zu beschreiben, „was geschah, als die Romantik ihre eigene Autonomie entdeckte und nachvollzog, was schon passiert war, nämlich die gesellschaftliche Ausdifferenzierung eines speziell auf Kunst bezogenen Funktionssystems“.[14] Warum ist dies aber überhaupt nötig, wenn die Romantik das schon selbst besorgt hat? Weil sie eben kein Verständnis für die operative Schließung der Funktionssysteme hatte (S. 327), sondern eine „kulturelle Symptomatologie“ pflegte (S. 342), die eine Selbstbeschreibung auf der Höhe gesellschaftsstruktureller Differenzierung verhindert habe. So kann Luhmann dann feststellen: „Man findet nicht zu einer angemessenen Theorie der Zeit.“ (S. 342) All das aber, was alle Neuhistoriker und Kulturwissenschaftler gerade an der Romantik faszinieren würde, ihre „kulturelle Symptomatologie“, die so erstaunliche Ereignisse in ein und denselben Satz packt wie etwa Goethes Meister, die französische Revolution und Fichtes Wissenschaftslehre, interessiert Luhmann nur insofern, als gerade diese „Kultur der Romantik“ eine „symptomatische Bedeutung“ für eine „Theorie der modernen Gesellschaft“ hat (S. 344), also als Musterfall für jene Beobachtungsblockaden vorgeführt werden kann, die dem Kulturbegriff anzulasten sind.

Es verwundert nun nicht besonders, dass die Systemtheorie zum cultural oder textual turn der humanities nicht das Geringste beigetragen hat. Man könnte sie denn auf diesem workshop ad acta legen und die Frage, warum dies so ist, der Wissenschaftshistoriographie überlassen. Aber vielleicht wäre dies doch voreilig, denn wenn auch die systemtheoretischen Beobachtungen von Text und Kultur unproduktiv zu sein scheinen (außer für die Systemtheorie selbst), könnte die Frage, was denn die Systemtheorie statt dessen untersucht, ganz interessant sein.

Auf die Frage, warum eine „kulturwissenschaftliche Erweiterung“ der Literaturwissenschaft nötig sei, gibt Baßler die Antwort: „weil Texte, und zwar auch literarische Texte, eine paradigmatische Achse haben, darum! Die paradigmatische Achse des Textes ist die Achse der Äquivalenz und damit die Achse der Kultur“.[15] Man muss eben den Blick auf die „synchrone Kultur“ werfen, um jene „Äquivalenzen und Oppositionen“ zu finden, die einem Text einen bestimmten Sinn geben. Es verhält sich ungefähr so wie beim Terminator 800 im ersten Teil des Sequels. Der T800 repariert sich in einem schäbigen Hotelzimmer und will einen zudringlichen Hotelangestellten vom Eintritt abhalten, der fragt, ob er „eine tote Katze“ in seinem Zimmer aufbewahre. Die Kamera filmt die Szene aus der Sicht des Terminators und zeigt am Rande seines elektronischen Gesichtsfeldes ein Display, das zur aktuellen Situation ein Paradigma von Kommunikationsangeboten zur Auswahl anbietet. Wie bekannt, entscheidet sich der Cyborg nicht für „Nein“ oder „Ja“ oder „Kommen Sie bitte später wieder“ oder noch kompliziertere Wendungen, sondern für ein lakonisches „fuck you, asshole“. Offenbar hat das T800-Programm die Alternativen gescheckt, auf den Kontext der heruntergekommenen Absteige für dealerbiker und hooker bezogen und dann – für jedermann überzeugend – die genannte Lösung selektiert.

Systemtheoretisch könnte man diese Operationssequenz mit den Begriffspaaren Struktur und Prozess bzw. Selektion und Variation beschreiben. Struktur und Prozess „unterscheiden sich durch ihr Verhältnis zur Zeit“ (Soziale Systeme: 73). Prozesse „bestehen aus irreversiblen Ereignissen.“ (74) Sie können als „Sequenz konkreter Ereignisse“ beschrieben werden (74), oder genauer: Um einen Prozess handelt es sich, „wenn die Selektion des einen Ereignisses die eines anderen ermöglicht“ (482). Die Interaktion des Terminators mit dem Hotelbediensteten wäre in diesem Sinne ein Prozess, das mehrere jener ständig zerfallenden „Einmalereignisse“,[16] die Luhmann als Kommunikation bezeichnet, in eine Sequenz bringt. Jemand fragt, ob etwas gebraucht werde, und erhält „fuck off“ zur Antwort. Wer diese „ereignishaften Elemente“ (79) aufeinander bezieht, wird hier Anfang, Mitte und Ende eines Interaktionssystems beobachten. Obwohl dieses System bereits nach wenigen Sekunden aufhört, setzt es dennoch Strukturen voraus. Offenbar ist auf die Initialkommunikation hin nicht alles möglich, denn auf dem Display des Terminators erscheint nur eine begrenze Anzahl von Optionen. „Strukturen“, so wieder Luhmann, „fassen die offene Komplexität der Möglichkeit, jedes Element mit jedem anderen zu verbinden, in ein engeres Muster [...] erwartbarer, wiederholbarer oder wie immer bevorzugter Relationen.“ (74) Der Terminator, dem sein Gesprächspartner ziemlich gleichgültig sein dürfte und der die Interaktion ja sofort wieder beenden will, kann dennoch nicht anders, als die Wahl seiner Möglichkeiten einschränken zu lassen. Man könnte das Ergebnis dieser Strukturierung eines Prozesses auch als Paradigma bezeichnen. Während die Ereignisse eines Prozesses einmalig und irreversibel sind, kann man Strukturen „aufheben oder ändern“ (73). Würde der Terminator sich mit „fuck off“ nicht verständlich machen können, ließen sich neue Optionen ins Menü hinzufügen und andere löschen. Die interessante Frage, warum Stuckrad-Barres Kulturpoetik gerade mit dem verwendeten Vokabular funktioniert und andere mit ähnlichen Versuchen peinlich scheitern, lässt sich also systemtheoretisch so reformulieren: wie werden Prozesse strukturiert und wie verändern Prozesse Strukturen?

Diese veränderte Fragestellung hat das Problem unter der Hand temporalisiert. Der Blick auf „die synchrone Intertextualität der Kultur“[17], auf das „Netz der jeweils synchronen Kultur“[18] oder auch auf die „synchronen, kontextdifferentiellen Beziehungen“ eines Textes[19] wird in eine evolutionstheoretische Perspektive überführt. Baßlers Frage, warum bei Stückrad-Barre „Mitbewohner“ und „Haushaltskasse“ passen, „Mensamarken“ und „Erstsemesterfete“ aber nicht,[20] würde dann lauten, wann und warum der Terminator sein Optionsmenü umschreibt, wann also Prozesse zu Strukturänderungen führen oder Variationen selektiert und Selektionsmechanismen variiert werden.

„Will man Strukturänderungen evolutionistisch begreifen“, und das will ich durchaus, „muss man“, so Luhmann, „freilich die Vorstellung aufgeben, Strukturen seien etwas »Festes« im Unterschied zu etwas »Fließendem«. Strukturen sind Bedingungen der Einschränkung des Bereichs anschlussfähiger Operationen, sind also Bedingungen der Autopoiesis des Systems. Sie existieren nicht abstrakt, nicht unabhängig von der Zeit. Sie werden im Vollzug des Fortgangs von Operation zu Operation verwendet – oder nicht verwendet. Sie kondensieren und konfirmieren durch Wiederholung in verschiedenen Situationen einen Sinnreichtum, der sich exakter Definition entzieht; oder sie werden vergessen.“ (Gesellschaft der Gesellschaft: S. 430) Ich greife voraus, möchte aber schon einmal darauf hinweisen, daß in diesem Zitat eine Definition des Gedächtnisses vorgelegt wird. – Was man also beobachten kann, ist nicht die volle Fülle der synchronen Äquivalenzen und der negierten alternativen Möglichkeiten. Dieser „Sinnreichtum“ entzieht sich „exakter Definition“. Was man beobachten kann, ist die Bestätigung von Strukturen durch Wiederholung oder ihr Verschwinden durch Vergessen. Aber konnten wir nicht im Gegenteil auf dem Display des Terminator gerade diesen „Sinnreichtum, der sich exakter Definition entzieh[e]“, sehr genau bestimmen, nämlich als ein begrenztes Paradigma von Optionen, aus dem eine Variante dann Verwendung gefunden hat. Unter dem Rubrum „possible respondes“ erscheinen: „Yes / No“, „What?“, „please come back later“, „fuck you, asshole“ und „fuck off“, also fünf Alternativen und Äquivalenzen, war das nicht alles? Luhmann zufolge nicht, denn die „realisierte Operation“ hat sehr viel mehr „alternative Möglichkeiten“ negiert als nur die drei oder vier, die im Display angeboten wurden, nämlich all jene Varianten, die als neue Optionen ins Menü aufgenommen werden würden, falls „fuck off“ nicht zum gewünschten kommunikativen Erfolg führte, und auch all die Varianten, die lange nicht wiederholt und konfirmiert und daher vergessen wurden. Wir haben nur eine Struktur beobachtet und kein „Netz der jeweils synchronen Kultur“. Aus der Selektion aus einem gegebenen Paradigma in einer bereits vorweg synchronisierten Situation ist eine rekursives Kommunikationssystem geworden, das seine „einzelnen Operationen [...] durch Rückgriff und Vorgriff auf andere Operationen desselben Systems“ produziert und reproduziert (Gesellschaft der Gesellschaft: 74), dabei „dasselbe“ bleibt und sich doch verändert. Man denke nur an den Terminator aus der zweiten Folge des Sequel:Hasta la vista, baby“ statt „fuck off“. Der Terminator lernt. Offenbar ist er ein autopoietisches System und keine Trivialmaschine.

Was wird er als nächstes sagen? Welche Option wird aus dem Menü gelöscht und welche hinzugefügt werden? Wie sich das System weiterentwickelt, bleibt offen, denn „kein System kann seine eigene Evolution kontrollieren“, schon allein deshalb nicht, weil es in einer Umwelt evoluiert, die ebenfalls evoluiert. „Statt dessen“, so Luhmann, „benutzt das System in seinen jeweils aktuellen (jeweils gegenwärtigen) Operationen eine Zusatzeinrichtung, die wir Gedächtnis nennen können.“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 578) Als Gedächtnis versteht Luhmann nun weder eine „Rückkehr in die Vergangenheit“ noch einen „Speicher von Daten und Informationen“ (578), sondern eine Einrichtung, die genau das tut, was wir oben unter dem Stichwort „Strukturänderung“ abgehandelt haben: es kondensiert Strukturen durch Wiederholung oder es vergisst sie und vergißt sogar dieses Vergessen, so dass keine Spur, keine trace zurückbleibt. Folglich liegt die „Doppelfunktion“ des Gedächtnisses im „Erinnern und Vergessen“, ohne die es „weder Lernen noch Evolution“ gäbe (579). „Das Gedächtnis kompensiert, ja überkompensiert den fehlenden operativen Umweltkontakt durch Eigenleistungen des Systems und ermöglicht zugleich eine vorübergehende Einstellung auf vorübergehende Lagen.“ (Realität der Massenmedien: 76) Da das System nicht seine Umwelt ist, sondern im Gegenteil in einer überkomplexen, stets anderen, dynamischen Umwelt mit Bordmitteln zurechtkommen muss, hat es ein Gedächtnis, das einerseits für neue Situationen bereits erprobte Strukturen zur Verfügung stellt: das Optionsmenü des Terminators greift darauf zurück, „zugleich Informationsverarbeitungskapazitäten wieder frei macht, um das System für neue Irritationen zu öffnen“. Es vergisst, um so „Selbstblockierungen des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen“ zu verhindern (Gesellschaft der Gesellschaft: 579).

Die Temporalität von Strukturänderungen ist selbst bereits ein Konstrukt, denn das Gedächtnis als Einrichtung eines autopoietischen Systems operiert allein in der Gegenwart. Alles, was passiert, passiert für das System gleichzeitig, weder vergangene noch zukünftige Operationen sind für das System jetzt verfügbar. Das Gedächtnis speichert daher nicht einfach vergangene Operationen, um sie dann im Bedarfsfall zu erinnern, sondern reproduziert diese Operationen permanent und hält sie so als Struktur stets gegenwärtig. Die „Vergangenheit“ ist also „nur als Gegenwart präsent“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 580). Ähnlich hat James Clifford an Greenblatts Renaissance-Studien betont, daß diese Epoche zwar vier Jahrhunderte zurückliege, zugleich aber „ein Kontinuum mit der Gegenwart bildet“.[21] – Das „Soziale Gedächtnis“, schreibt Luhmann in Die Realität der Massenmedien, ist kein „Speicher für vergangene Zustände und Ereignisse“, sondern ein „laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern“ (S. 75f). Was nicht in der aktuellen Reproduktion der Elemente des Systems reimprägniert wird, verschwindet – spurlos – im Vergessen: man denke etwa an Vortragsvarianten eines Mythos oder Formeln eines Rituals, die in schriftlosen Gesellschaften dem Vergessen anheimfallen, wenn sie nicht in Strukturen überführt und permanent konfirmiert werden. Schrift kann solche Varianten dagegen festhalten, gewiss, doch wird diese Variante nicht der Zukunft genau so zur Verfügung gestellt, wie sie in der Vergangenheit abgespeichert worden ist, sondern gleichsam nur als Angebot zur „Lektüre“, also als Möglichkeit, in die aktuelle Autopoiesis eines Systems eingespeist zu werden. Die Vergangenheit, die die Schrift festgehalten haben soll, entpuppt sich also als gegenwärtige Vergangenheit, die vom „lesenden“ System konstruiert worden ist. Das „Gedächtnis“, so Luhmann, operiert mit einer „selbstkonstruierten Zeitdifferenz“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 593), und diese Konstruktion findet jetzt statt.

Wenn Gesellschaften über ein derartiges Gedächtnis verfügen, ließe es sich programmieren? Luhmanns Beschreibung des Gedächtnisses passt gut zu Moritz Baßlers Projekt, das ja die gesamte Kulturgeschichte als „virtuell unendliche Menge synchroner Texte und Textbezüge“ als Datenbank anlegen will.[22] Die Geschichte dieses kulturellen Archivs wird der Beobachter dann mit einer „selbstkonstruierten Zeitdifferenz“ konstruieren müssen. Das Gedächtnis der Kultur wäre also keinesfalls der Hypertext der Datenbank, sondern der Beobachter, der bei seinen Recherchen jeweils immer nur etwas Bestimmtes bezeichnen kann und daher dazu tendiert, „die andere Seite der Unterscheidung zu vergessen“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 581). Der „texte géneral“ wäre vielleicht virtuell in der Datenbank vorhanden, würde aber vom Beobachter permanent erinnert und vergessen werden. Die Kultur als synchronen Intertext oder Hypertext zu programmieren, wäre das eine, mit dieser Datenbank zu arbeiten das andere. Um den heuristischen Nutzen der Datenbank zu valuieren, müsste der Beobachter beobachtet werden.

Die Datenbank der Gesamtkultur, die Moritz programmieren will, gibt es aus systemtheoretischer Sicht schon – es sind die Massenmedien in ihrer gesellschaftlichen Funktion als Gedächtnis (Realität der Massenmedien: 179). „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“.[23] Umfassender geht es nicht. Und all das, was man über die Welt wissen kann, ist nichts anders als das „Gedächtnis“ der Gesellschaft (120). Ich zitiere: „Für das Gesellschaftssystem besteht das Gedächtnis darin, dass man bei jeder Kommunikation bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzen kann, ohne sie eigens in die Kommunikation einführen und begründen zu müssen.“ So kann Stückrad-Barre bestimmte „Realitätsannahmen“ voraussetzen, ohne sie eigens einführen zu müssen. Die Strukturen stehen bereits zur Verfügung und können optional abgerufen werden wie bei der Interaktion des Terminators im Hotel. Und weiter: „Dies Gedächtnis wirkt an allen Operationen des Gesellschaftssystems, also an allen Kommunikationen mit, dient der laufenden Konsistenzkontrolle im Seitenblick auf die bekannte Welt und schaltet allzu gewagte Informationen als unwahrscheinlich aus. [...] Massenmedien sind also nicht in dem Sinne Medien, dass sie Informationen von Wissenden auf Nichtwissende übertragen. Sie sind Medien insofern, als sie Hintergrundwissen bereitstellen und jeweils fortschreiben, von dem man in der Kommunikation ausgehen kann. [...] Das Medium stellt einen riesigen, aber gleichwohl eingeschränkten Bereich von Möglichkeiten bereit, aus dem die Kommunikation Formen auswählen kann, wenn sie sich temporär auf Inhalte festlegt.“ (121f) Genau so verfährt der Terminator, wenn er aus mehreren Möglichkeiten eine Option auswählt, sich so festlegt und abwarten muss, ob die weitere Interaktion wie erwartet verläuft oder nicht, um gegebenenfalls Strukturen zu modifizieren, also zu variieren und zu vergessen.

Aber wie wird das Schema Erinnern / Vergessen gehandhabt? Die Frage führt zur Kultur zurück. Luhmann glaubt, dass die „aus Vergleichen entwickelte Unterscheidungstechnik der Kultur“, die ja die gesamte für die Kommunikation verfügbare Welt verdoppelt hat, dazu geführt habe, das notwendige Vergessen zu verhindern: „Kulturvergleiche inhibieren in einem zuvor unbekannten Umfange das Vergessen. Es werden nicht mehr nur Wahrheiten dem Sog des Vergessens entrissen, sondern – man kann fast sagen: alles Mögliche. Mehr als zuvor wird als gleich erkennbar, aber das gibt jetzt kaum noch Orientierungsgewißheit. Damit verliert das Gedächtnis die Funktion, Anhaltspunkte zu bieten.“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 593) Statt Orientierung am erinnerungswerten Wissen gibt es nun Massenmedien. Während das soziale Gedächtnis älterer Gesellschaften Irritationen entweder als Innovation aufgenommen und in bestehende Strukturen eingepasst oder aber als Abweichung abgelehnt und vergessen hat,[24] scheinen die Massenmedien nichts Irritierendes mehr vergessen zu wollen. „Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen.“ (Realität der Massenmedien: 47) Dass der eigene Blick aus dem Eckfenster meist weder Interessantes noch Irritierendes zeigt, wird vergessen. Was in den Massenmedien als Kulturvergleich oder Irritation erinnert wird, ist interessant und neu. Wenn die Kulturwissenschaften denn „Wahrheiten dem Sog des Vergessens entreißen“ wollen statt Interessantes und Frappantes, dann müsste sie das Schema Erinnern / Vergessen anders handhaben als die Massenmedien. Paradigma / Syntagma oder Text /Kontext, könnte man hier sofort vorschlagen, aber ein Paradigma oder einen Kontext anzuschreiben, impliziert doch immer, das eine zu markieren und „die andere Seite der Unterscheidung zu vergessen“ (Gesellschaft der Gesellschaft: 581). Wenn dies zutrifft, dann ist jede Science of the Particular immer auch eine Kunst des Abstrakten, weil sie von dem absehen muss, was sie vergisst, indem sie erinnert.



[1] Dietrich Schwanitz, Dichte Beschreibung, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 276-291, S. 276.
[2] Moritz Baßler, New Historicism und der Text der Kultur, in: Moritz Csáky / Richard Reichensperger (Hrsg.), Literatur als Text der Kultur, Wien 1999, S. 23-40, S. 26.
[3] So Henk de Berg, Die Ereignishaftigkeit des Textes, in: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hrsg.), Kommunikation und Differenz, Opladen 1993, S. 32-52, S. 44.
[4] Georg Stanitzek, Brutale Lektüre, ‚um 1800’ (heute), in: Joseph Vogl (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 249-265.
[5] James Clifford, Über ethnographische Selbstinszenierung, in: Doris Bachmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1996, S. 194-225, S. 196.
[6] Doris Bachmann-Medick, Einleitung, in: Doris Bachmann-Medick (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1996, 7-64, S. 10f, S. 21.
[7] „Nun unterstellt der New Historicismmit Derrida: die gesamte Gesellschaft ist Text. Wo immer Zeichengebrauch herrscht und Kommunikation erfolgt, gibt es Text. Deshalb spricht man [...] vom ‘Text der Kultur’“ Dietrich Schwanitz, Dichte Beschreibung, S. 290.
[8] Vgl. etwa Niklas Luhmann, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hrsg.), Differenzen. Die Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, S. 9-35, S. 10.
[9] Wolfgang Braungart, Vom Sinn der Literatur und ihrer Wissenschaft, in: Rüdiger Zymner (Hrsg.), Allgemeine Literaturwissenschaft – Grundfragen einer besonderen Disziplin, Berlin 1999, S. 93-105, S. 102.
[10] Urs Stäheli: „Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktiven Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie“, Weilerswist 2000, S. 12. Vgl. auch die Rezension dazu von Ingo Stöckmann in der taz vom 12.2. 2001.
[11] Moritz Baßler, ‚Science of the Particular’. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Texttheorie der Kultur, S. 2.
[12] Wolfgang Braungart, Vom Sinn der Literatur und ihrer Wissenschaft, S. 98.
[13] James Clifford, Über ethnographische Selbstinszenierung, S. 215.
[14] Niklas Luhmann, Eine Rediskription ‚romantischer Kunst’, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hrsg.), Systemtheorie der Literatur, München 1996, S. 325-344, S. 326.
[15] Moritz Baßler, ‚Science of the Particular’. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Texttheorie der Kultur, S. 8.
[16] Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1987, S. 78f.
[17] Moritz Baßler, New Historicism und der Text der Kultur, S. 31.
[18] Moritz Baßler, ‚Science of the Particular’. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Texttheorie der Kultur, S. 8.
[19] Henk de Berg, Die Ereignishaftigkeit des Textes, S. 45.
[20] Moritz Baßler, ‚Science of the Particular’. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Texttheorie der Kultur, S. 8.
[21] James Clifford, Über ethnographische Selbstinszenierung, S. 196.
[22] Moritz Baßler, ‚Science of the Particular’. Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Texttheorie der Kultur, S. 9.
[23] Niklas Luhmanns, „Die Realität der Massenmedien“, Opladen 1996, S. 9.
[24] Vgl. Niklas Luhmann, Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit?, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 4, Frankfurt/Main 1995, S. 55-100.