Wenn Quotenblütenträume platzen Ökonomie der Zerstreuung: Sektorierung der Öffentlichkeit, bejammert und bejubelt

Von Niels Werber

Auf einer Tagung über "Zerstreute Öffentlichkeiten" Ende September in Berlin bedauerte Kultursstaatsminister Michael Naumann wie viele den Zerfall der Öffentlichkeit in einen unübersichtlichen Plural von Subkulturen. Quer durch die Parteien formiert sich die Kritik an einem System der Massenmedien, das auf die Bildung einer öffentlichen Meinung verzichtet und infolgedessen nicht mehr in der Lage ist, der Politik ein Gegenüber vorzuspiegeln. Die Stimme des Wählers - die Politiker hören sie nicht mehr, sie scheint im Rauschen der sich täglich vervielfachenden Kanäle untergegangen zu sein. Woran soll man nun Entscheidungen, die letztlich zum Wahlerfolg führen sollen, orientieren, wenn es keine wirklich repräsentative Öffentlichkeit mehr gibt, in der die "public opinion" - und sei es die des Stammtischs - sich deutlich artikuliert, sondern allenfalls Repräsentativumfragen, die nichts anderes repräsentieren als eben den Zerfall der Öffentlichkeit: 40 Prozent der 15 bis 21-Jährigen dafür, 30 Prozent Frauen der unteren Mittelschicht in geschiedenen Ehen dagegen, 27 Prozent der Kleinaktionäre haben keine Meinung.

Berlin, Anfang Oktober, Tagung "Digitale Zukunft". Dr. Knut Nevermann, Ministerialdirektor für Kultur und Medien, legt die filmpolitische Position der Bundesregierung dar. Was sein Staatsminister als Dispersion abgelehnt hat, empfiehlt er als Diversifizierung. Vor dem Forum der Film- und Medienwirtschaft spricht man nicht von zerstreuten Öffentlichkeiten, sondern von Marktnischen, bedauert man nicht den Zerfall des Singulars, sondern lobt die Chancen pluraler Vielfalt für ein Geschäft, das jeder Zielgruppe etwas zu verkaufen hat. Ein Ministerium, zwei Welten?

Dass es der Politik schwerer zu fallen scheint als der Wirtschaft, auf die Öffentlichkeit zu verzichten, hat zwei Gründe: Der erste liegt in der Tradition der politischen Philosophie des letzten Jahrhunderts, die mit Jürgen Habermas davon ausgeht, dass die Veröffentlichung und der freie Umlauf von Meinungen eine diskursive Rationalität entfaltet, die der res publica zum Besten gereicht. Starthilfe gab die Einführung des Buchdrucks, Öffentlichkeit ist seitdem das, was dank hoher Auflagen jeder lesen kann. Wer sich drucken lässt, riskiert, dass man zweimal hinschaut, die Thesen, Zitate, Argumente überprüft und mit Alternativen vergleicht. Hier liegt eine folgenreiche Differenz zwischen gedruckten und gesendeten Massenmedien: ein TV- oder Radiobeitrag kann nicht ohne größeren Aufwand (Rekorder) ein zweites Mal rezipiert und auf Referenzen überprüft werden.

Dem antiken Redner konnte es genügen, das anwesende Publikum mit allen rhetorischen Mitteln einmal zu überzeugen oder zu überreden in dem Wissen, dass sich kein Gedächtnis alle verwendeten Finessen und Tricks merken wird. Man war überzeugt, und hatte bereits vergessen warum. Der Buchdruck bereitet dieser Form der Rhetorik ein Ende, und man könnte vermuten, dass sie heute im Fernsehen eine neue Heimat gefunden hat. Sich in Druckform an die Öffentlichkeit zu wenden, wirkt dagegen versachlichend und generalisierend. Man beginnt - seit Kant - mit der "regulativen Idee" zu operieren, das bessere Argument setze sich durch, so dass eine zustimmungsfähige Meinung übrig bleibt. Der Plural von Ansichten wird so gleichsam singularisiert. Zwar ist jede Meinung standpunktabhängig, impliziert daher mindestens eine "Zweitmeinung" und tritt also nur im Plural auf, doch geht man trotzdem von der Einzahl aus.

Diese Paradoxie wird aufgelöst, indem man den Plural der Meinungen als Diskurs konzipiert, an dessen Ende eine einzige Meinung stehen wird, nämlich die richtige, die dann von allen Vernünftigen akzeptiert wird, weil sie allein durch den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" überzeugt und nicht durch Autorität, durch Tradition oder Rhetorik.

Die hier referierte populäre Position beliefert die Politik mit zwei unwiderstehlichen Drogen: Inklusion und Konsens. Die Öffentlichkeit suggeriert, an ihrem Diskurs nehme jeder teil und er führe, weil jeder teilnehme und daher auch jedes mögliche Argument falle, auch zum bestmöglichen, zustimmungsfähigen Ergebnis. An diese Fiktion hat sich die Politik in zwei Jahrhunderten so sehr gewöhnt, dass sie aller Zerstreuung der Programme und Zuschauer zum Trotz notorisch davon ausgeht, jeder verfolge ihre Verlautbarungen, bilde eine Meinung aus und melde die dann via Medien rück. Dies ist der Grund, warum Guido Westerwelle sich in den Container oder zu Stefan Raab begibt. Wenn alle Zuschauer (Inklusion) klatschen, lachen und trampeln (Konsens), gilt der Wähler als erreicht. Sein Wille geschehe. Wenn allerdings Öffentlichkeiten nur noch im Plural auftreten, sind deren Meinungen nirgends mehr integrierbar, denn es gibt nirgendwo einen Ort - auch nicht im Big Brother-Haus, auch nicht bei Sabine Christiansen -, an dem die Meinungen in ein vernünftiges Gespräch zu bringen wären.

In Mediengewittern

Mit Verweis auf die "wachsenden Selektionszwänge der elektronischen Massenkommunikation" zweifelt Habermas selbst daran, welches Ergebnis heute eine neuerliche Untersuchung "für eine Demokratietheorie haben würde". Die völlig in Sparten, Nischen und Programme sektorierte Medienwelt habe "dem Prinzip der Publizität seine Unschuld" geraubt - und der Begriff, so sei hinzugefügt, überlebt aus Pietät und wegen des nicht nachlassenden Bedarfs der Politik, einen Ansprechpartner außerhalb ihrer Organisationen zu imaginieren, der sich über alles befragen lässt wie das märchenhafte Spieglein an der Wand.

In den Mediengewittern geht aber noch mehr unter als das Konsenskartell der Öffentlichkeit: und zwar die Vorstellung der Manipulierbarkeit. Auch dafür ist der Singular unverzichtbar. Habermas schreibt über "die durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte und beherrschte Öffentlichkeit", sie wachse "zu einer vermachteten Arena aus, in der mit Themen und Beiträgen nicht nur um Einfluss, sondern um eine in ihren strategischen Intentionen möglichst verborgene Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse gerungen wird." Der Zuschauer reagiert kausal auf die Reize der Massenmedien wie ein Pawlowscher Hund und merkt es nicht einmal.

Gewiss, noch weiter kann man die Rezipienten nicht erniedrigen, aber dieser Glaube an eine "verborgene Steuerung" des Rezipienten, also des Wählers hat politischen Reiz. Nicht nur die guten Demokraten, auch die bösen Manipulatoren operieren mit dem Modell der einen Öffentlichkeit. Doch auch damit ist es aus, wenn die technischen Medien einer formalen wie inhaltlichen Zerstreuung Vorschub leisten, die heute zu einer solchen Unzahl von Formaten geführt hat, dass kein Dr. Mabuse oder Goebbels mehr in der Lage wäre, die entsprechenden special interest groups zu erfassen und propagandistisch zu bedienen. Politische Plädoyers für die Rückkehr zum Singular müssten entsprechend darauf überprüft werden, ob sie sich nach den guten alten Zeiten des besseren Arguments zurücksehnen oder nach den genauso alten schlechten Zeiten der medialen Massenkonditionierung. Aber glücklicherweise bringt Broadcasting heute keine Massen mehr in Form, Online-Medien niemanden auf Linie. Was bei wem ankommt und warum, ist für die Sender unvorhersehbar, weil, so Luhmann, "Sendebereitschaft und Einschaltinteresse nicht zentral koordiniert werden können". Weil dies so ist, können sich die Massenmedien nicht mit einem Angebot für alle begnügen, werden immer wieder neue Zeitungen, Zeitschriften, Formate und Shows angeboten, die ankommen oder untergehen.

Der vom Gesetz der Sektorierung getriebene Strukturwandel der Öffentlichkeit wird von der Wirtschaft als Gewinn ökonomischer Rationalität begrüßt, weil so immer spezifischere Konsumentenprofile entstehen, die der Markt bedienen kann. Schon vor mehr als hundert Jahren ist die moderne Presse dazu übergegangen, ihren Lesern nicht länger eine Ware, sondern vielmehr den Inserenten eine Dienstleistung zu verkaufen. Je spezifischer das Printmedium thematisch und stilistisch auf die Zielgruppe ihrer Leser zugeschnitten wurde, desto besser konnte eine Konsumentenschicht mit einem genauen Profil und nicht einfach nur Anzeigenplatz und Auflage an die Werbung veräußert werden.

Ohne diese Bindung einer spezifischen Zielgruppe an das Medium, die man der Werbung verkauft, ist heute keine profitable Führung eines Massenmediums mehr möglich. Spiegel-Leser wissen mehr, vielleicht, aber vor allem: sie kaufen mehr. Auch das Radio, auch das private Fernsehen ist von dieser strukturellen Kopplung von Werbung, TV-Format und Zielgruppe geprägt. Hier wird jeden Tag gewählt. Gemeinsam mit der immer feineren Zergliederung des Marktes und der Maßschneiderung entsprechender Werbung zerfällt das Broadcasting unaufhaltsam in Fenster für ein Nischenpublikum. "Networks", so schreibt der Filmtheoretiker James Monaco, "verkaufen kein Entertainment wie seinerzeit die Studios. Sie verkaufen Publikumssegmente".

Die gewaltigen Werbeetats, die heute ins Internet fließen, haben auch dieses Medium neu erfunden: Heute sind uns die Werbebanner auf den Websites allgegenwärtig - wir bezahlen mit Auskünften dafür, dass wir uns angeblich kostenlos im "world wide web" informieren oder unterhalten lassen dürfen. Cookies erfassen unsere Konsumgewohnheiten bis ins kleinste Detail, bewerten unsere Kaufkraft und sorgen dafür, dass uns Angebote erreichen, die wir kaum ablehnen können.

In dieser Internetfantasie treffen Politik und Wirtschaft wieder zusammen. So viele Wahlen wurden verloren, so viele Waren wurden von niemandem nachgefragt, so viele Quotenblütenträume sind zerplatzt. Man wünscht sich daher nach dem Zerfall der Öffentlichkeit ein Medium, das den Kontrollverlust wettzumachen im Stande ist. Das Internet verspricht als direkte elektronische Demokratie der Politik eine permanente Echtzeitrückmeldung ihrer Wähler, die digitale Agora, und es verspricht der Wirtschaft einen gläsernen Konsumenten, dessen Konsumwünsche kein Geheimnis sind, das in teuren Trial and error-Versuchen entschlüsselt werden müsste. Norman Spinrad hat in seinem großartigen visionären Roman Pictures at Eleven die Einstellung von Politik und Ökonomie auf die neue Technologie der Meinungsforschung und Einschaltquotenberechnung in Echtzeit beschrieben: man handelt ad hoc und flexibel je nach Quote und Profil.

Die Entwicklung zu diesem Szenario scheint wirtschaftlich unvermeidlich zu sein, ob es die "electronic democracy" der "instapolls" und "rating numbers" ist, bleibt abzuwarten. Noch zählen die Presseabteilungen der Berliner Ämter die Erwähnungen ihrer Minister in Handarbeit, aber der countdown für die e-politics läuft.

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Dokument erstellt am 16.11.2000 um 21:24:22 Uhr
Erscheinungsdatum 17.11.2000