Der Download von Luhmanns Zettelkasten ist geglückt
Eine multimediale CD versucht es mit der Systemtheorie von Niklas Luhmann - mit zwiespältigem Ergebnis.
 

Autor: Von Niels Werber
Niklas Luhmann, der 1998 verstorbene Soziologe, hat einen Zettelkasten hinterlassen, aus dessen Ordnung sein Werk hervorgegangen ist und in dessen Architektur umgekehrt seine Theorie sich verkörpert. Beinahe alles, was Luhmann gelesen und was er darüber gedacht hat, findet sich dort abgelegt. Die Einträge des Zettelkastens und die vielen Verknüpfungsangaben stellen das bestmögliche Modell von Luhmanns Denken dar. Es wäre sogar vorstellbar, neue Werke zu bislang unbearbeiteten Themen aus dem Zettelkasten zu generieren, indem man neue Pfade durch das Labyrinth der Verknüpfungen schlägt. Die Systemtheorie lebt gewissermassen in der Kartothek ihres Schöpfers.

Der Zettelkasten ist zweifellos ein altes und User-unfreundliches Medium. In der Zeit der Hypermedien läge es näher, die Potenziale eines Denkens in eine Multimedia-CD zu bannen. Eine solche CD liegt nun vor. Sie konnte zwar nicht Luhmanns Bewusstsein in Silizium brennen, aber versuchen, das System seines Zettelkastens zu simulieren und zugänglich zu machen: Die CD präsentiert Begriffe und ihre Vernetzung. Das alte Medium des Buchs mit seiner Linearität von Seite eins bis x konnte so vermieden werden, um dem Selbstverständnis der Systemtheorie gerecht zu werden, die sich als selbstbezügliche, rekursive Theorie versteht, deren Begriffe und Annahmen allesamt aufeinander vor- und zurückverweisen. Die für Luhmanns Hauptwerk, "Soziale Systeme", "gewählte Kapitelfolge ist nicht die einzig mögliche", heisst es dort im Vorwort, die vielen "Vorgriffe und Querverweisungen" hätten auch anders ausfallen können. Für seine "Theorieform" habe Luhmann keine angemessene mediale "Darstellungsform" finden können - ausser seinen in Buchform unpublizierbaren Zettelkasten. HTML aber stand ihm noch nicht zur Verfügung. Uns dagegen schon.

Labyrinth
Startet man die CD-ROM "Systemtheorie verstehen" von Theodor M. Bardmann (Texte) und Alexander Lambrecht (Design), wird deutlich, was Luhmann gemeint hat. Auf der ersten Seite finden sich die Hyperlinks "Zirkularität", "Innen/Aussen", "Struktur", "Methode", "Parasit", "Kontingenz", "Medium/Form", "Differenzierung", "Beobachtung", "Kommunikation", "Zeit", "Autopoiese" und "unmarked space", die gleichberechtigt dazu einladen, weitere Verknüpfungen herzustellen und so den Einstieg in die Theorie zu wagen. Diese Simultanpräsenz der Begriffe vermeidet die Linearität des Buchs und ihre Suggestion einer Reihenfolge vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Einfachen zum Komplexen oder vom Vergangenen zum Aktuellen.

13 Eingänge hat das Labyrinth: Aber nur einen können wir wählen. Man muss also mit einer Unterscheidung beginnen: diesen und nicht die anderen. Wählen wir den Hyperlink "Kommunikation", "hinter" dem sich gleichsam ein kleines neuronales Gewebe weiterer verlinkter Begriffe verbirgt. Die Komplexität nimmt von Ebene zu Ebene zu. Mancher Hyperlink verweist auf Konzepte weiter, mit denen Kommunikation erklärt werden kann: Information, Mitteilung, Verstehen; manche auf Fragen, die mit dem Kommunikationsbegriff zu klären sind: etwa die Beschreibung der Kommunikation als Handlung durch die Zurechnung eines Beobachters; mancher Hyperlink führt weiter zu Theorieelementen, die ihrerseits auf den Kommunikationsbegriff anwendbar sind: wie Zeit oder Zirkularität; und ein anderer verweist auf die Erklärung des Begriffs selbst. Je nach dem, welchem Link wir folgen, aktualisieren wir eine von vielen Möglichkeiten des Netzwerks, einen informativen Systemzustand zu generieren. Die CD funktioniert also ähnlich wie ein Gedächtnis.

Auf der untersten Ebene des Hypertextes führt ein Fliesstext in die Begriffsgeschichte der Kommunikation ein und schliesst mit Luhmanns Theorie der Autopoiesis. Was diesem Zeitungsartikel hier unmöglich ist, gelingt der CD: Die im Fliesstext verwendeten Termini sind "highlighted", und wenn man sie mit der Maus antippt, erscheint ein kleines Feld mit einer prägnanten Erklärung, mit der man so lange Vorlieb nehmen kann, bis man den ausführlichen Artikel dazu liest. So kann man nach Belieben vor- und rückgreifen.

Durch das mehrdimensionale Netzwerk der Systemtheorie kann man nicht nur von Hyperlink zu Hyperlink surfen. Eine Menüleiste bietet die wichtigsten Begriffe von A wie "Abbildungstheorie" bis Z wie "Zwei-Seiten-Form". Man kann dort Artikel abrufen, die für Orientierung sorgen, wenn man auf der Ebene der Details den Überblick zu verlieren meint: Was war noch gerade ein System? "Ein geordneter Zusammenhang von Elementen, die sich durch Grenzziehung von einer dazugehörigen Umwelt unterscheiden." Ach so! Zitate aus dem Schrifttum Luhmanns sowie einschlägiger Gelehrter von Dirk Baecker bis Michel Serres bereichern die Erläuterungen Bardmanns. Von den Zitaten führen Hyperlinks direkt ins Literaturverzeichnis. Wer nun hofft, hier könne man sich mit den "copy" und anderen Befehlen alles gleich in die eigene Arbeit hineinsampeln, wird enttäuscht: Zwar gibt es eine Ausdruckfunktion für die Fliesstexte, doch muss jedes Zitat mühselig abgeschrieben werden. Auch das CD-ROMs so auszeichnende Mittel der Volltextsuche fehlt, mit der sich nach Themen wie Liebe oder Wirtschaft oder Namen wie Parsons oder Kant suchen liesse. Womit wir bei den Mängeln angelangt wären:

Unterschied zu Unterschied
Sie wollen Luhmann oder die "Systemtheorie verstehen"? Nun: "Verstehen ist die Einheit der Unterscheidung von Mitteilung und Information." Mitteilung ist "die Anschlussstelle für Verstehen, die auf den Mitteilenden verweist", Information dagegen "die Anschlussstelle für Verstehen, die auf den Inhalt einer Mitteilung verweist". Verstanden? Wenn nicht, dann holen Sie sich einen Nachschlag: "Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht." Macht dies einen Unterschied für Sie?

Viele Passagen sind so komprimiert formuliert, dass auch hundert synaptische Verbindungen zu anderen Begriffsfeldern sie nicht verständlicher machten. Luhmann dagegen hat sich nie damit begnügt, aus seinem hoch konzentrierten Zettelkasten ebenso abstrakte Bücher zu generieren, sondern sich immer um Beispiele von grösster Anschaulichkeit bemüht. Auch darin lag seine besondere Originalität. Von der CD-ROM bekommen wir aber gleichsam den Geist pur, ohne Fleisch.

Experten auf Video
Systemtheorie kann nicht anschaulich gemacht werden, indem man sehr abstrakt formulierte Textsequenzen durch Hyperlinks vernetzt und mit Kurzdefinitionen garniert. Als Lernsoftware für den Einsteiger eignet sich die CD deshalb kaum, erst den Fortgeschrittenen wird sich das Labyrinth der Theorie so erschliessen, dass ein Grad des Verstehens nahekommt, das der ausdauernde Leser der systemtheoretischen Bücher erreicht. Der Download des Zettelkastens mag geglückt sein, keinesfalls aber die Wiederauferstehung Luhmanns. Für die Unverdaulichkeit mancher Passage wird man ein wenig von den Videosequenzen entschädigt, auf denen sich die Experten zu Wort melden, und - wie es sich für Interviews gehört - zu einer Prägnanz und Anschaulichkeit finden, die den verlinkten Ausführungen oft fehlt. So wird im Quick-Time Format Luhmanns Denken wirklich lebendig.

Theodor M. Bardmann, Alexander Lambrecht: Systemtheorie verstehen. Eine multimediale Einführung in systemisches Denken. CD-ROM mit Lehrbuch. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1999. 99 Fr.