Benjamin, remixt Dichter mittleren Alters lasen Suhrkamp-Denker in Hamburg

Von Niels Werber

Autoren wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister und Josef Winkler befinden sich in einem Alter, wo die Rede vom "beeinflusst sein" mehr bedeutet als ein Modetrend oder eine Feuilletonlaune. Im Literaturhaus Hamburg trafen sie zum Auftakt einer Lesetour durch Deutschland zusammen. Begleitet wurden sie von einem Lektor des Hauses, doch handelte es sich hier um einen Vertreter des Wissenschaftslektorats. Und die Dichter lasen denn auch nicht ihre eigenen Werke, sondern aus den Büchern toter Denker: Niklas Luhmann, Walter Benjamin sowie der Schriftsteller Uwe Johnson und Peter Weiss. Natürlich sind auch diese Herren alle bei Suhrkamp verlegt, aber es ist schließlich Geburtstag, und außerdem sind die Theoretiker außerhalb des Verlages, lebende wie tote, ohnehin ziemlich knapp.

Winkler erzählte aus seiner Kärtner Kindheit eine Geschichte, die aus Hebels Hausfreund stammen könnte. Auf dem Hof gab es keine Bücher, nur Ratten, die der Bub und sein Vater gemeinsam totschlugen, worin ihre einzige Gemeinsamkeit bestand. Nähe und Zärtlichkeit gab's keine, endlich brachten Illustrierte Zeitschriften Nachrichten, Bilder und Abwechslung in diese Welt des 19. Jahrhunderts, in der Winkler dann aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, auf dem winzigen Regal einer Handelsschullehrerin, zu Autoren wie Camus und endlich auch Weiss fand. Als er aus dessen Abschied von den Eltern Passagen vortrug, welche den Tod des Vaters, seine Beerdigung und die Aneignung des Nachlasses durch die Hinterbliebenen schildern, war jedem klar, was diese Prosa für Winkler und sein Werk bedeuten musste. Nachdem Neumeister mit vollem Ernst versuchte, eine ganze Poetikvorlesung Johnsons noch einmal vorzulesen, unterhielt der Pop-Autor und Casual-DJ Meinecke das Publikum mit einem flotten Benjamin-Rap: Er sampelte all jene Stellen hintereinander, die er in seiner alten Schulausgabe unterstrichen hatte. Dem Benjamin des Kunstwerks-Aufsatzes hätte dieses Verfahren vermutlich unmittelbar eingeleuchtet.

Goetz las Luhmann. Dies kann niemanden überraschen, der je etwas von Goetz gelesen hat. "Der Soziologe Luhmann wird genannt als einzig maßgeblicher Philosoph", heißt es 1988 in Kontrolliert. "Die "Systemtheorie ist ein ultimatives Kunstwerk", dekretiert Goetz in den Texten zur Kunst (Heft 7, 1992). In Abfall für alle gesteht er: "Mich ERSCHÜTTERT Luhmanns Totale, immer wieder, und zwar weil ich finde, dass sie selbst so erschüttert ist. Bloß hat sich Luhmann angenehmerweise nie dafür interessiert, aus dem seinem Denken zugrunde liegenden existentiellen Beben eine Nummer zu machen, einen Auftritt." Freilich hat Luhmann nie in Literaturhäusern gelesen, aber er hat ja auch nie Bomberjacken getragen, sondern immer nur Tweedjacketts.

Goetz las aus Organisation und Entscheidung, einem Werk, das übrigens nicht im Suhrkamp Verlag erschienen ist (vgl. FR vom 30. 9. 2000). Luhmann selbst hat wunderbare Vorträge gehalten, die er frei, auf der Grundlage weniger Notizen entfaltete, seine Texte dagegen gelten mit Recht als schwer, aber sie können, anders als ein Vortrag, wieder und wieder gelesen werden. Was passiert nun, wenn man aus einem anspruchsvollen Beitrag zur Organisationssoziologie, der sich 400 Seiten für die Entwicklung seiner Thesen nimmt, einen Absatz herauslöst, um ihn vorzulesen? Er verwandelt sich in ein Kunstwerk. Nach nur fünf Minuten war den weit aufgerissenen Augenpaaren der gebannt lauschenden Zuhörer zweierlei anzusehen: dass Kommunikation auch nur mit minimaler Kopplung ans Bewusstsein erfolgreich stattfinden kann und dass sie intuitiv verstanden hatten: "Die Systemtheorie ist ein ultimatives Kunstwerk", unzugänglich, wie ein Gedicht von Celan oder Mallarmé. Luhmanns endlos verschachtelte Sätze, die ungewöhnliche Terminologie, die aufs Paradoxe und Tautologische versessene Stilistik verschmelzen in Goetz' Stimme zu einem Monolith irreduzibler Komplexität, die man nur zu bewundern oder zu belachen vermag.

Was ihn an Luhmann fasziniert, erläutert Goetz, sei denn auch nicht der wissenschaftliche Rang seines Werks, sondern das lebenslange "intellektuelle Exerzitium", mit dem sich der Autor bis in den Tod hinein der unlösbaren Aufgabe verschrieben habe, ein "weltadäquates" Theoriemodell zu entwerfen. Wie schon bei Techno, RAF und Rave interessiert Goetz sich für die Intensität eines Projektes mehr als für seinen Gehalt, angesichts dessen überwältigender Fülle man sich ohnehin besser in Bescheidenheit üben sollte.

Zu vielen Themen, die man Popautoren wie ihm zum öffentlichen Bedenken empfiehlt, wollte er daher lieber schweigen, bekannte Goetz. Die Wege der Luhmann-Wirkung werden unerforschlich sein, umfassen sie doch »Reden und Schweigen«.

[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau 2000
Dokument erstellt am 14.09.2000 um 21:06:06 Uhr
Erscheinungsdatum 15.09.2000