Niels Werber

Textkunst im Internet ? (Vorlesung 1. Juli 1998)

Zum Cyberspace als Medium der Literatur

Die Literaturwissenschaft müßte es eigentlich längst gewohnt sein, periodisch in der Umgebung der Literatur ein "Neues Medium" verorten zu müssen, das das alte abzulösen droht. Die Herausforderungen der neuen Speichermedien wie Photographie, Tonband, Kassette oder Videotape und der neuen Verbreitungsmedien des Radios, Films oder TV‘s hat die Literatur aber allen Unkenrufen zum Trotz überstanden. Aber als hätte man die These vom Ende des Buches nicht schon oft genug gehört, beginnt nun, angesichts des wiederum neuen Mediums Internet, der Chor vom Ende der Schönen Literatur erneut sein vielstimmiges wie altvertrautes Lied. Im Internet, so die Erwartung, werde aus dem hierarchischen, exklusiven, undemokratischen, linearen, abgeschlossenen, grauen, sedierenden Text aus Buchstaben endlich ein inkludierendes und aktivierendes, laterales und dynamisches, offenes und interaktives, multimediales und buntes Hyperdocument. Nicht nur ästhetische, sondern auch weitreichende gesellschaftspolitische und geschichtsphilosophische Hoffnungen knüpfen sich an diesen Wandel vom Buch zum Internet als Medium der "Literatur". Ohne diesen Hype hier promovieren zu wollen, kann man doch festhalten, daß dieser Schwanengesang vom Ende der Gutenberg-Galaxis doch auf eines nachdrücklich aufmerksam gemacht hat: die Literatur in Buchform befindet sich ohne Zweifel in einer erheblichen Konkurrenz zu anderen Medien und Formen. In einem jüngst erschienen Aufsatz einer Nummer der Modern Fiction Studies, die ganz der Literatur der Hypertexte gewidmet ist, heißt es: literarische Texte "exist in a changing ecology of media, in which they are situated". Sie konkurrieren um Aufmerksamkeit mit Film und Fernsehen, mit Theatern und Museen, mit Videogames und dem World Wide Web. Welche Chancen Literatur in diesem Wettbewerb hat, ist wohl erst zu ermessen, wenn man das Eigentümliche der Textkunst scharf gegen die Qualitäten der anderen Medien profiliert. Dies leitet über zu einem sehr grundsätzlichen Problem, zu der Frage nämlich, was denn das sei: Literatur.

I. Theoretische Problematik

Bevor wir hier die Frage nach den Medien der Literatur im allgemeinen und des Cyberspace als Medium der Literatur im besonderen stellen können, soll daher zumindest angedeutet werden, welcher Begriff von Literatur ich meinem Versuch einer Antwort unterlegen werde. Literatur möchte ich im folgenden als Textkunst verstehen. Ich möchte mit diesem Begriff der Textkunst betonen, daß es sich dabei um Kunst handelt, um Kunst, die ihre Formen der Sprache einprägt – also zunächst unabhängig davon, ob die Werke, die daraus hervorgehen, schriftlich fixiert sind oder nicht, ob sie als gesprochene Ereignisse mit dem Hauch der Stimme wieder vergehen oder ob sie mit technischen Mitteln dauerhaft gespeichert werden. Wenn ich von Literatur als Textkunst spreche, geht es mir darum, dieses Medium der Kunst von anderen Nutzungsformen desselben Mediums, nämlich des Mediums der Sprache zu unterscheiden: denn zwar ist wohl fast alles, was geschrieben steht, ein Text, aber längst nicht alles, was wir lesen, gilt als Kunst. Also nur dann, wenn die Sprache zum Medium der Kunst wird, haben wir es mit Literatur zu tun.

Ein Medium macht noch keine Kunst, erst seine Form. Die Kunst prägt ihren Medien ihre Formen ein, dies muß betont werden, denn es gibt unzählige andere Möglichkeiten, aus Wörtern Sätze zu bilden, aus Farben Bilder oder aus Schnippseln und Abfällen Collagen zu gestalten. Dies ist noch nichts Kunst- oder Literaturspezifisches, denn jede Kommunikation selektiert aus einem Medium, um das Angebot an Elementen des Mediums durch eine limitierte Auswahl und Reihenfolge miteinander zu verbinden. Form verbindet die gewählten Elemente eines Mediums so miteinander, daß erst in dieser Kopplung Form und Medium gleichermaßen sichtbar werden. Denn wir beobachten weder ungeformete Medien noch pure Formen; was wir wahrnehmen, ist immer geformt, nie nehmem wir die Farbe, den Ton, den Laut, den Raum an sich wahr; zugleich macht erst und nur die Form auf ihr Medium aufmerksam, denn am geformten Medium fällt ins Auge, daß das Medium auch andere Formen zuließe, das Gelb nicht im Kontrast zu grün, sondern zu Schwarz, Effi könnte auch Emma, und der Samstag Sonnabend heißen. Das Medium als Medium für Formen ist also nicht mit dem Material zu verwechseln, daß man sich ungeformt solange anschauen könnte, bis es der Künstler verwendet. Medien sind also weder Farben in Tuben noch Worte im Thesaurus, die ein Leben vor der Form führen, dann aber ausgewählt und arrangiert werden. Medien verstehen wir vielmehr als Möglichkeitsfeld der Form, als ihr Selektionshorizont. Diese Begriffsverwendung hat zwei Vorteile: zum ersten macht er auf die Kontingenz jeder Form aufmerksam, welche zumindest die Formen der Kunst mit ihrem Anschein von Notwendigkeit zu verleugnen suchen; wenn aber Form als die Restriktion von Möglichkeiten des Mediums verstanden wird, dann weiß man, daß es auch anders gegangen wäre. Das Werk muß also versuchen, uns in der Form, wie es ist, zu überzeugen, das heißt: es muß konkurrieren gegen alle anderen, nicht aktualisierten Formen des Mediums. Zum zweiten ist das Begriffspaar Medium und Form dynamisch aufeinander bezogen. Jede Form kann wiederum das Medium einer weiteren Form werden. Marshall McLuhan hat diese Einsicht schon 1964 in seiner These ausgedrückt, daß "der »Inhalt« eines Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Telegrafen." Genauso kann die Form des Bildungs- oder Kriminalromans zum Medium von Hollywood-Filmen werden, die Form des Stabreims zum Medium der Werbung oder die Form eines Universitätsskandals zum Medium einer College-Novel.

Ich wiederhole: Ob sie mit einem Stock Figuren in den Sand malen oder Farbbeutel an Häuserwände werfen, ob sie Stoffe zu Kleidern verarbeiten, mit einem Auto über Leinwände fahren oder einen Garten anlegen: Form ist in allen diesen Fällen nichts anderes als das konkrete Ergebnis einer Selektion aus einem Möglichkeitshorizont – es steht ein Pool von Operationen und Möglichkeiten zur Verfügung, verschiedene Farben, Töne oder auch Worte, aus dem aber immer nur Bestimmtes ausgewählt werden kann. Form heißt also immer: Verzicht auf Möglichkeiten, Reduktion von Komplexität. Welche Möglichkeiten es auch noch gegeben hätte, wird aber erst am jeweiligen Ergebnis sichtbar, an der Form des Mediums, nicht am Material, das etwa im Atelier herumliegen bleibt. Dies impliziert auch: jede Form ist kontingent, da das Medium immer auch andere Kopplungen zugelassen hätte. Andererseits limitiert das Medium das, was überhaupt Form werden kann: mit Plakafarben kann nur schlecht plastiziert werden, mit Buchstaben wird selten gemalt. Medien scheinen daher bestimmte Formungen als wahrscheinlich anzubieten: etwa Buchstaben Worte und Worte Sätze, und die Schwierigkeit, aus einem Medium Unvorhergesehenes zu formen, könnte die Faszination der Kunst dafür erklären, mit Worten zu malen, Bilder in den Stein zu meißeln, statt sie aus Beton zu gießen, oder für eine Plastik Würfel oder Käfer statt Ton zu verwenden. Man könnte vermuten, daß Kunst immer etwas mit der Unwahrscheinlichkeit der jeweiligen Differenz von Medium und Form zu tun hat. Jedenfalls fällt die Form in vielen Fällen nur deshalb auf, weil das Medium ungewohnt ist, aus dem die Form selektiert. Die Kunst unserer Zeit, in der Forminnovationen so selten geworden sind, daß man schon mehrfach ihr Ende ausgerufen hat, setzt daher verstärkt auf die überraschende Verwendung von Medien: der Künstler malt mit seinem eigenen Blut, formt seinen eigenen Körper, verarbeitet seine eigenen Exkremente. Der Soziologe und Anthropologe Arnold Gehlen hat schon 1960 in seinen Zeit-Bildern festgestellt, daß die Kunst in ihrer Geschichte bereits alle nur denkbaren Formen benutzt hat und in eine Phase des ewigen Recyclings eingetreten ist. Gehlen verkündete die

  • bedeutende Neuigkeit: Von jetzt an gibt es keine kunstimmanente Entwicklung mehr! Mit einer irgendwie sinnlogischen Kunstgeschichte ist es vorbei, selbst mit der Konsequenz der Absurditäten vorbei, die Entwicklung ist abgewickelt, und was nun kommt, ist bereits vorhanden: Der Synkretismus des Durcheinanders aller Stile und Möglichkeiten, das Posthistoire.
  • Ich zitiere Gehlen deshalb so ausführlich, weil vor dem Hintergrund seiner These des Posthistoire die Attraktivität neuer Medien verständlich wird, da es der Kunst an neuen Formen zu mangeln scheint.

    Encore: Um welche Formen und Medien es sich auch immer handeln mag: jede bestimmte Differenz von Medium und Form, jedes bestimmte Ergebnis einer Selektionssequenz verdankt seine Kontur den anderen Möglichkeiten, die nicht aktualisiert, sondern negiert worden sind. Wenn Kunst so als Formung eines Mediums betrachtet wird, ist dann Textkunst diejenige Kunst, der Sprache Form zu geben?

    Ja, das ist sie allerdings – doch gilt dies für jeden Text, mehr noch: Kommunikation generell hat es mit einer Relation von Medium und Form zu tun. Jede Kommunikation ist kontingent, man kann immer anderes und auch anders kommunizieren. Der Weg, den wir bisher genommen haben, kommt hier an eine abgründige Stelle, denn er zwingt uns, nach einem weiteren Kriterium Ausschau zu halten, das es uns erlaubt, Kommunikation der Kunst und besonders der Textkunst von anderen Handhabungen der Differenz von Medium und Form zu unterscheiden. Damit ist die Frage erneut gestellt, was Literatur als Kunst betrachtet eigentlich sei.

    Da jede Kommunikation das Ergebnis einer Selektion ist, kann es nur die besondere Art und Weise dieser Auswahl sein, welche die Textkunst von anderen Texten unterscheidet. Man muß hier den Kommunikationsbegriff noch genauer fassen, nämlich als Selektionsofferte, die man dann verstanden hat, wenn man an ihr Information und Mitteilung zu unterscheiden vermag. Die Information der Kommunikation könnte eine andere sein, und sie könnte auf eine andere Weise mitgeteilt werden: etwa mündlich, brieflich, telephonisch, als Bild oder als Blumenstrauß, als Telegramm oder als Pralinenschachtel. Information und Mitteilung der Kommunikation bilden – wie Medium und Form – zwei Seiten einer Unterscheidung, die sich reziprok verändern: es ist nicht mehr dieselbe Information, wenn man etwa als Geburtstagsgruß an einen Freund oder eine Freundin eine e-mail oder einen Brief schreibt, diesen Brief mit dem Computer schreibt oder mit dem Füller, dazu weißes Kopierpapier benutzt oder lieber lindgrünes Büttenpapier mit persönlichem Wasserzeichen verwendet. Auch wenn dieselbe Buchstabenkette aufgeschrieben wird und die mathematisch orientierten Kommunikationstheoretiker im Gefolge von Shannon und Weaver, z.B. Friedrich Kittler, überhaupt keinen Unterschied feststellen könnten, haben wir es bei jeder anderen Mitteilungsart auch mit einer ganz anderen Kommunikation zu tun. Man könnte hier vermuten, daß es im Falle der Textkunst um solche Kommunikationen geht, bei denen das Wie der Mitteilung eine größere Rolle spielt als das Was der Information. Nicht der Weltgehalt, die Fremdreferenz der Kommunikation wäre das für die Literatur entscheidende, sondern die besondere Form der Mitteilung, der Verweis, auf die Art der Darstellung, also die selbstreferentielle Seite der Kommunikation.

    Anscheinend sind es also bestimmte Typen eines Selektionsprogramms, welche die Formgebungen der Textkunst von anderen Verwendungen desselben Mediums differenzieren. Vor nicht allzu langer Zeit wäre man bei der Suche nach solchen Typen schnell auf eine Antwort gestoßen, nämlich auf die literarischen Gattungen. Ein Gedicht, ein Drama, ein Epos unterscheidet sich aufgrund einer je einzigartigen Selektionsanweisung von allen anderen Sprachverwendungen. Metrik und Vers, Chor und Akte, Haupthandlung und Episode könnte man als jene Unterscheidungen im Medium der Sprache verstehen, welche die Textkunst von anderen Texten abhebt. Leider könnte man heute gegen einen solchen Unterscheidungsversuch einwenden, daß die Roman- und Dramenhelden längst so sprechen wie alltägliche Bekannte auf der Straße und die Gedichte der Dichter kaum noch zu unterscheiden sind von den Texten der Werber, von Gebrauchsanleitungen oder von Fußballmannschaftsaufstellungslisten.

    Ein aktueller Versuch wäre derjenige, Literatur als diejenige Sprachverwendung zu bezeichnen, die ihre Selbstreferenz zur Schau stellt, also darauf aufmerksam macht, wie gesagt wird, was gesagt wird – Michel Foucault hat hier vom Glitzern der Signifikanten gesprochen und dabei an Mallarmé gedacht, bei Paul de Man finden Sie ähnliches in der These von der rhetorischen Selbstdistanzierung der Form des Textes von seiner Botschaft. Wohlmöglich wäre Literatur also diejenige Form, welche die Differenz der Sprache selbst, also die Differenz von Signifikant und Signifikat oder von Rhetorik und Botschaft, oder die Differenz der Kommunikation, also die Differenz von Information und Mitteilung zum Thema macht. Diese raffinierten Vorschläge der Diskurstheorie und des Dekonstruktivismus haben allerdings den Nachteil, daß sie hochexklusiv sind – zwar würden Mallarmé und Joyce inkludiert werden, nicht aber Liebesromane und Thriller. Und andererseits nutzt längst auch die Werbung die Möglichkeit, den Blick des Rezipienten vom Inhalt auf die Form und wieder zurück zu lenken, so daß sich trotz aller Bemühungen Textkunst nach wie vor kaum von anderen Textformen durch textimmante Kriterien allein unterscheiden läßt. Erst der Kontext, der Buchdeckel, auf dem "Roman" steht, oder der Hinweis "Anzeige" über der konkreten Poesie des Werbeslogans schaffen Klarheit darüber, ob es sich um Textkunst handelt oder nicht. Damit könnte man zufrieden sein, doch zeigen diese textexternen Abgrenzungen, die mit Hinweisen auf Paratexte oder Kontexte auskommen, unfreiwillig, aber überaus deutlich, daß auf der literaturimmanenten Ebene der Medien und Formen kein Unterschied zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen Textkunst und Sprache zu erkennen ist.

    Wenn diese Diagnose aber zuträfe, dann könnte man über die Medien der Literatur auch nichts Spezifisches mitteilen, denn alles, was man über die Mnemotechniken der oral poetry, die reich illustrierten Handschriften des Mittelalters, über die Einflüsse von Buchdruck und Grafik, Brief und Post, Zeitschriften und Zeitungen, Photographie und Kino, Telegraph und Telephon, Radio und Fernsehen und natürlich auch des Cyberspace auf die Textkunst sagen könnte, gälte auch für andere, nicht-literarische Textformen. Die Zauberformeln der Neuesten Medien wie Interaktivität, Multidimensionalität, Multimedialität, Instantanität, Immersion, Offenheit oder Nicht-Lineararität sind keine literarischen, sondern sie deuten qualitative Standards an, derer sich jeder Content zu bedienen vermag. Von der Erfindung der Schrift wie vom Buchdruck, von der Rotationspresse wie vom Cyberspace profitieren eben alle Textformen, nicht allein die Textkunst – und wollte man etwa Spezifisches sagen, müßte man eben wissen, was denn Textkunst sei.

    Wenn es sich so verhält, dann muß der in jüngster Zeit vielfach geäußerte Vorschlag auf offene Ohren stoßen, die Literaturwissenschaft aufzulösen und in eine allgemeine Medienwissenschaft zu überführen, die den unendlichen Vorzug hätte, ihren Objektbereich: nämlich die verschiedenen Medien, präzise definieren und unterscheiden zu können, während die Literaturwissenschaft an der Aufgabe verzweifelt, was denn Literatur überhaupt sei. Was dagegen ein Telephon ist oder ein Computer, ein Buch oder ein Fernsehschirm, eine Theaterbühne oder ein Konzert läßt sich leicht angeben, während die Unterscheidung der Textkunst von anderen Textsorten als so heikel gilt, daß man versucht ist, den Bedarf einer solchen Unterscheidung erst gar nicht aufkommen zu lassen, um stattdessen unauffällig weiterzumachen wie bisher.

    Ich kann das hier skizzierte Problem nicht lösen – aber es ist nun zumindest benannt, bevor es umgangen wird. "Umgangen", denn ich werde die Frage nach der Textkunst zurückstellen und nun endlich zur Sache dieser Vorlesung kommen, was denn das Internet als Medium der Literatur sei. Ich werde dabei einen Umweg einschlagen, indem ich nämlich nicht etwa Texte im Cyberspace beobachte, sondern vielmehr die literatur- oder medientheoretische Semantik, die sich zur Rolle der Literatur im Netz der neuen Medien bereits gebildet hat. Wir beobachten also nicht Textkunst im Cyberspace als solche, da uns eine Definition des Objektbereichs schwerfällt, um stattdessen Beobachter dabei zu beobachten, was und wie sie beobachten, wenn sie Literatur im Cyberspace beobachten. Ich werde also hier eher soziologische und vor allem: wissenssoziologische Beobachtungen anstellen, um Ihnen zumindest andeuten zu können, was einer gepflegten Semantik als Literatur im Cyberspace gilt. Nach diesem Durchgang durch die Semantik der Neuen Medien werde ich die Frage nach dem Kunstcharakter der Literatur in den Neuesten Medien noch einmal stellen.

    II. Historische Semantik

    Die Begriffe Cyberspace, Internet, Docuverse und WWW bezeichnen ein noch sehr junges, zunächst einmal technisches Phänomen. Die Multimedialität und Speichermöglichkeiten der Personal Computer werden mit einem weltumspannenden Leitungsnetz untereinander verbunden, so daß dank der potentiell lichtschnellen Übertragungsraten ein globaler, n-dimensionaler Datenraum entsteht, der die bekannten Raum- und Zeitverhältnisse der Weltgesellschaft fundamental verändert. In diesem Raum ist alles möglich, was immer nur digital ist, die virtuelle Welt des Cyberspace ist das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten, denn jenseits der rigiden physikalischen Beschränkungen der wirklichen Welt steht hier nichts der Realisierung selbst der unmöglichsten Projekte entgegen. An der Westküste der USA, wo Zeitschriften wie Wired diese Ideologie der neuen Kommunikationsverhältnisse produzieren, ist der Cyberspace das bessere Hollywood, eine Traumfabrik, die Träume wirklich wahr werden läßt. Ewige Jugend, makellose Schönheit, heldenhafter Mut, barbarische Stärke, morbide Eleganz, angsteinflößende Omnipotenz, göttliche Macht – alles ist möglich, vorausgesetzt, man ist online. Experten jeder Couleur wie Bill Gates oder Howard Rheingold, Nicholas Negroponte oder R.U. Sirius, John Perry Barlow oder Esther Dyson glauben beispielsweise, daß im Cyberspace alle ethnischen Differenzen und physischen Behinderungen ihre Bedeutung verlieren und die User sich eine neue Identität selbst erschaffen, sie glauben an die Demokratisierung und Humanisierung der Welt, an den weltweiten, friktionsfreien Kapitalismus, an telematische Heimarbeit, Telemedizin oder Kunst für alle, an die klassenlose Gesellschaft der Nutzer, an die Überwindung des Nationalstaates. In einem Buch über den Cyberspace von Thomas Mandel und Gerard van der Leun aus dem letzten Jahr heißt es kurz und bündig: "Das Netz ist in jeder Hinsicht ein Lösungsmittel." Es ist ein "Universal-Lösungsmittel" für alle nur denkbaren Probleme.

    Man könnte nun die literarischen Wurzeln dieser utopischen Programme freilegen, doch darum soll es hier nicht gehen. Vielmehr möchte ich Ihnen vorführen, was für die Literatur innerhalb dieser cyberdelischen Utopien herausspringen soll. Um eines gleich vorwegzunehmen: erwartet wird jedenfalls das Ende der Literatur, wie wir sie kennen. Literatur, wie wir sie kennen; das klingt altmodisch und scheint allein schon dadurch vom Neuen entwertet zu werden. Alte Literatur, das bedeutet innerhalb der Semantik der Neuesten Medien eine Literatur,

    Diese Eigenschaften gingen der Literatur im WEB verloren. Die Webliteratur entstehe dagegen in der Interaktivität einer Gemeinschaft von Usern, die Hierarchie zwischen Autor und Leser mache einer many-to-many-Kommunikation Platz. Der Hypertext sei kein geschlossener, sondern offener Text, sein Corpus sei nicht abgeschlossen, sondern veränderbar, die Rezeption erfolge nicht linear, sondern hyperdimensional, jeder Leser klicke sich auf seine Art durch das Rhizom seiner Links. Jeder Leser werde so auch zum Autor, der den Text verändere und fortschreibe. Produktion und Rezeption falle so in einem Prozess zusammen. Kein juristisches copyright mache aus dem Text eine heilige Schrift, von dem sich kein Jota rauben ließe. Die Webliteratur sei vielmehr eine Literatur von allen für alle, Kosten entstünden keine, der Zugang sei ubiquitär, sie sei also in hohem Maße inklusiv statt exklusiv. Der Text bestehe nicht mehr nur aus Worten, die bisweilen mit Bildern garniert würden, sondern sei multimedial. Ton- und Bildspur seien ein Teil des Hyperdokuments. Die Integration des Tastsinns befinde sich in Vorbereitung. Die Ausdehnung des Textes sei potentiell unendlich, dank seiner Hyperlinks falle der Text letztlich mit dem Cyberspace selbst zusammen und sei so Buch und Bibliothek zugleich, lesbar und begehbar.

    Ich könnte Ihnen nun leicht an ein paar Beispielen deutlich machen, wie weit es mit diesen Dingen tatsächlich steht. Statt Interaktivität stößt man auf simple Effekte, die per Mausklick ausgelöst werden; statt multimedial fasziniert zu werden, wartet man lange auf die Übertragung der Dateien; statt Immersion erleben wir Distanz, statt im Cyberspace verloren zu gehen, bereitet uns der flimmernde Bildschirm in der wirklichen Welt müde Augen und Kopfschmerzen; und nach wie vor gibt es Autoren und Leser, gibt es sequentielle Rezeption – was auch sonst –, deutlich erkennbare Textgrenzen und sogar das gute alte Urheberrecht. Ich sagte, dies wäre leicht, doch könnte man hier eben so leicht einwenden, diese Makel seien noch technischen Mängeln geschuldet, die bald behoben sein würden – und tatsächlich verdoppeln sich ja alle 18 Monate Bandbreite, Datendurchsatz, Prozessorleistung und Bildschirmauflösung. Von Technikern möchte ich mir aber kein Ressentiment vorwerfen lassen müssen. Ich werde daher versuchen, denjenigen Teil der Erwartungen zu isolieren, der nicht allein dem technischen Stand der Dinge geschuldet ist, sondern eine spezifisch kulturelle Prägung aufweist. Ich meine die Versprechen der Interaktion und der Aufhebung der Asymmetrie von Autor und Rezipient. Denn diese beiden Versprechen der Webliteratur sind uns nicht aus der Technikgeschichte, sondern aus der Geschichte der Ästhetik gut bekannt, es scheint, als ob dasselbe Problem im Laufe der Zeit verschiedene Lösungsvorschläge evoziert hätte, deren Vokabular dann tatsächlich vom jeweils technisch Machbaren abhinge.

    Solange es technische Medien gibt, welche mit Mitteln der Speicherung und Übertragung von Zeichen die Kommunikation auch von Abwesenden über Raum und Zeit hinweg ermöglichen, wird der Verlust der Interaktion beklagt. Es wäre eine sehr interessante soziologische Frage, warum das Gespräch unter Anwesenden der Verwendung von Schrift und viel später auch anderen Medien jahrtausendelang so sehr vorgezogen wird, daß es von Platon bis ins 18. Jahrhundert hinein üblich ist, ein Gespräch mit dem Leser wenigstens zu simulieren oder einen Dialog abzudrucken. Im 18. Jahrhundert simulieren alle bedeutenderen Konzepte von Gesellschaft wie etwa der Salon, die Gemeinde oder der Markt Interaktion, ja Gesellschaft schlechthin meint im Grunde noch eine Gesellschaft von Anwesenden. Dieses Primat des Gesprächs hat sich in der literarischen Semantik nachhaltig niedergeschlagen: "Jede schöne Ahndung und Andeutung, die in der Seele liegt, strebte er im Gespräch mit ähnlich Gesinnten ans Licht zu bringen und zu entwickeln", liest man etwa in Schlegels Lucinde. Und Schiller lädt im Vorwort der Horen den "zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung" ein, zu einem Gespräch mit einer "achtungswürdigen Gesellschaft", deren "Sprecher" Schiller selbst sei. Und um ein letztes Beispiel zu geben, sei Goethe zitiert, der alle Hauptgattungen der Literatur in Bezug auf das Gespräch definiert: "Epos, Dialog, Drama, Theaterstück lassen sich sondern. Epos fordert mündliche Überlieferungen an die Menge durch einen Einzelnen; Dialog Gespräch in geschlossener Gesellschaft, wo die Menge allenfalls zuhören mag; Drama Gespräch in Handlungen, wenn es auch nur vor der Einbildungskraft geführt würde; Theaterstück alles dreies zusammen". Vom Buchdruck keine Spur! Diese Konzeptionen von Gesellschaft und von Literatur als Interaktion von Anwesenden läßt die Rolle technischer Medien entweder weit zurücktreten oder weist ihnen alternativ die Rolle des Bösewichts zu. So kann Friedrich Maximilian Klingers Roman Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt (1791/94) in der Erfindung des Buchdrucks nur eine Teufelei sehen, die dazu diene, "die Bücher, das gefährliche Spielzeug der Menschen, die Fortpflanzung des Wahnsinns, der Irrtümer, der Lügen und Greuel, die Quelle des Stolzes, und die Mutter peinlicher Zweifel, auf eine leichte Art tausend und tausendmal zu vervielfältigen". Und in einer der Geschichte Peter Clausens, einem Roman Knigges aus den Jahren 1783/85, eingefügten Utopie heißt es:

  • Keine Bücher, keine Schriften durften mit auf die Insel genommen, ebensowenig durfte dort irgend etwas geschrieben werden, und alle wissenschaftlichen Kenntnisse wurden durch mündliche Überlieferung fortgepflanzt, so wie auch Jeder, der etwas zu wissen glaubte, seine Feyerstunden dazu anwenden konnte, diese Kenntnisse seinen Kindern und Freunden vorzuerzählen. War die Sache der Mühe werth, so pflanzte sie sich fort, die Thorheiten dagegen vergaß man.
  • Das menschliche Gedächtnis und der Nutzen sind die Filter, welche die Insel der Seligen schützen vor jenen "Lehren" und "Meinungen, die keiner begreift", aber welche "durch die Leichtigkeit der Mitteilung" in Druckform "bis in die Hütte des Bettlers dringen", um "alle Stände" in Unfrieden und Aufruhr zu setzen. Dies ist keine Kritik der "Inhalte" des Mediums, wie man sie von der zeitgleichen Romanschelte kennt, sondern eine Kritik des Mediums Buchdruck selbst. Favorisiert wird eine orale Kultur, die vergißt, was sie nicht benötigt, und kontrolliert, wer wem wann Zugang zum Wissen verschafft – für das Internet wird selbstredend das genaue Gegenteil zur Forderung erhoben. Der Freiherr von Eichendorff macht den Buchdruck für den Beginn der prosaischen Epoche, also nach Hegel eigentlich für den Beginn der Moderne, verantwortlich. Aus seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands gebe ich Ihnen ein sehr interessantes, und daher einmal etwas längeres Zitat, das beinahe sämtliche Vorbehalte gegen das gedruckte Wort versammelt:
  • Den letzten und nicht geringsten Stoß nach der Prosa hin gab endlich auch die Erfindung der Buchdruckerkunst, indem nun gar an die Stelle des lebendigen Worts der Buchstabe, in die Stelle des persönlichen mimischen Sprechers der einsame Leser trat. Das gedruckte Buch hat, wie der Rechenknecht für das Gedächtnis, für den Geist überhaupt etwas Mumienhaftes, Stationäres und Abgemachtes, worauf sich zu jeder Zeit bequem ausruhen läßt, während die lebendige Tradition, solange sie wirklich lebendig, notwendig in einer beständigen Fortbildung begriffen ist. Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisse ideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen bestimmten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeitraubenden Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast [...] seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt.
  • Das lebendige, persönliche Gespräch unter wohlbekannten Anwesenden, auf deren Widerhall und Verständnis, auf deren Sinn für Qualität man rechnen konnte, wird von dilettantisch produzierten Büchern aus kalten, toten Buchstaben ersetzt, die einsam von einem anonymen Publikum konsumiert werden. Es gibt keine Poesie mehr, nur noch Prosa, keine lebendige Dichtung mehr, sondern wohlfeile Waren auf einem "Plundermarkt". Angesichts dieser Abwertung der mediengestützen Kommunikation kann es nicht überraschen, wenn man sich von solchen künstlerischen Verfahren Heil für die sterbende Kunst verspricht, die unvermittelt zu sein versprechen. Dies könnte wenigstes die Hoffnung erklären, die Friedrich Schlegel in die Sympoesie gesetzt hat. Ich zitiere Ihnen aus dem Athenäums-Fragment Nr. 125:
  • Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich des Gedankens nicht erwehren, zwei Geister möchten eigentlich zusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbunden alles sein was sie könnten.
  • Verbindung statt Trennung, Gemeinschaftswerk statt Asymmetrie. Und im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, einem symphilosophischen Werk Hegels, Schellings und Hölderlins aus dem Jahre 1795 oder 1796, finden wir dieselbe Hoffnung auf eine "neue Epoche", die sich wie bei Schlegel auf die Ablösung der Kommunikation durch die Interaktion und auf die Verschmelzung der asymmetrischen Rollen des Autors und Lesers stützen. Ich zitiere:
  • So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen [und dies ist selbstverständlich nur unter Anwesenden möglich, NW], die Mythologie muß philosophisch werden, um das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern.
  • Die Differenz zwischen Leistungs- und Klientenrolle, zwischen "Weisen" und "Volk" werde getilgt im Gemeinschaftswerk der "Neuen Mythologie", welche die moderne Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Wissens- und Leistungsbezirke zu überwinden verstehe. Und um ein allerletztes Beispiel für den Zusammenhang zwischen Interaktion und Entdifferenzierung zu geben, sei Schiller angeführt, dessen ästhetischer "Staat des schönen Scheins" in der Gesellschaft Anwesender Zuhause ist. "Wo ist er zu finden", dieser Staat, fragt Schiller im letzten Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793/94). Die Antwort lautet:
  • Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der Tat nach möchte man ihn wohl nur [...] in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht.
  • Den "verwickelten Verhältnissen" der Moderne, welche die Menschen zu "Formularen" (S. 584) degradiert, voneinander isoliert und von ihrer sozialen Umwelt, ja selbst der Familie entfremdet haben, wird der "auserlesene Zirkel" entgegengestellt, in denen der Mensch Mensch ist. Die von der arbeitsteiligen Gesellschaft der Moderne zu "Bruchstücken" zersplitterten Personen, die nur noch eine "fragmentarische" Beziehung zum "Ganzen" unterhalten, werden dort wieder zu ganzen Menschen (S. 584), welche in den ästhetischen Staat qua Interaktion voll inkludiert werden, was dagegen bei Hof allenfalls simuliert wird. In diese Elite und zu dieser Ganzheit findet man durch ästhetische Erziehung am Leitfaden der Kunst.

    Diesen Programmen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist gemeinsam, daß sie – wie Gerhard Plumpe in seinen Studien zur Ästhetischen Kommunikation der Moderne und den Epochen moderner Literatur herausgearbeitet hat – von der Kunst eine Aufhebung der funktionalen Differenzierung erhoffen. Es scheint, als ob diese Erwartung sich um 1800 regelmäßig mit einem Verzicht auf technische Medien verbindet, da sich in der geselligen Interaktion vertrauter Anwesender erheblich leichter die Wirkungsmacht sozialer Systemdifferenzierung ausblenden läßt. Die der Technik geschuldete Anonymität zwischen Autor und Publikum im Zeitalter des Buchdrucks und die von der Sozialstruktur der Moderne verantwortete Anonymität zwischen Individuum und Sozialsystemen werden aufeinander projiziert und mit ein- und derselben Alternative konfrontiert – der Interaktion, an der nicht Rollen, sondern Menschen teilnehmen, in der keine Asymmetrie zwischen dem aktiven "Produzenten" und den passiven "Konsumenten" besteht, sondern ein interaktiver Austausch: "Widerhall" und "Verständnis", wie Eichendorff es formulierte. Zu dieser Utopie der Interaktion gehört zudem typischerweise ein unscharfer Kunstbegriff, denn selbstverständlich sollen die Früchte der Sympoesie oder ästhetischen Republik nicht allein auf die Kunst als ein Teilsystem der modernen Gesellschaft beschränkt bleiben, denn dann agierte man ja nur wieder in einer spezifischen Rolle, der des Produzenten oder Konsumenten, man hätte also nur die Illusion, als Mensch inkludiert zu sein; stattdessen soll die Entdifferenzierung von der Kunst ausgehend die gesamte Gesellschaft erfassen und am Vorbild des Verschmelzungs-Modells der Interaktion reorganisieren. Dies ist eine typisch moderne Utopie, denn es geht hier nicht um eine Re-Stratifizierung, um die Wiederherstellung der ständischen Schichtung, sondern um die Reintegration spezifisch moderner Differenzen in einer neuen Gesamtheit: der "Welt" etwa oder dem "Leben". Es geht nicht allein um "ästhetische Kunst", so Schiller, sondern dezidiert um "Lebenskunst" (S. 618), die Kunst wird ins Leben überführt, und der neue, ästhetische Mensch wird – mit einer Formulierung Bettine von Armins – zum "vollendeten Kunstwerk seiner selbst". Diese Formulierung greift hier den Begriff des in sich selbst Vollendeten auf, den Karl Philipp Moritz 1785 eingeführt hatte, um zwischen Kunst und Nicht-Kunst die "Grenzlinien schärfer [zu] ziehen". Bettine von Arnim bezieht diesen Begriff nun auf den Menschen – und reißt damit die von Moritz geschaffene Grenzlinie wieder ein. Die "Kunst" solle "eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst sein", heißt es ähnlich bei Schlegel. Indifferenz ist also der Preis dieses holistischen Kunstbegriffs, der noch das Leben und die Wissenschaften umfassen soll.

    Tatächlich beschreibt sich aber die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts selbst – etwa in der Philosophie Hegels – ja gerade anhand dieser Differenzen zwischen Politik und Kunst, Wissenschaft und Religion, anhand des Plurals von Rollen im Gegensatz zum einen Individuum. Auch Schlegel, auch Schiller und Hölderlin wußten um diese Funktionsdifferenzierung, doch hofften sie noch auf die Überwindung dieser Differenzen – und das Leitbild, dem sie folgten, war die "lebendige", orale Interaktion im Gegensatz zur "kalten", mediengestützten Kommunikation.

    Ich habe Ihnen die Lage um 1800 deshalb so ausführlich präsentiert, um Sie für die Faszination zu sensibilisieren, die von denjenigen Techniken ausgehen mußte, die versprachen, die asymmetrische Kommunikation einer funktionsdifferenzierten Gesellschaft, die Menschen nur in Bezug auf Leistungsrollen inkludiert, in eine egalitäre Interaktionsgemeinschaft zurückzuverwandeln, ohne dies wie Schiller oder Eichendorff auf eine Elite begrenzen zu müssen. Rund 100 Jahre später stehen zwei Möglichkeiten auf der Tagesordnung, die gleichermaßen als Erben der romantischen Beschreibung der Gesellschaft und ihrer utopischen Neugestaltung verstanden werden können: 1. Die Errichtung eines elitären Staates im Staate aus dem Geist der Dichtung bei Stefan George, eine Utopie der Entdifferenzierung, in der Interaktion durch Exklusivität hergestellt wird, übrigens auch durch die handwerkliche Exklusivität der Gedichtbände und Lesungen im kleinsten Kreis, und 2. die technische Lösung, die in Brechts Radiotheorie ihren bekanntesten Niederschlag gefunden hat.

    Während Brecht zunächst (1927) die Erfindung des Radios ob seiner Verwendung belächelt ("Es war ein kolossaler Triumph der Technik, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept endlich der ganzen Welt zugänglich machen zu können. [...] Ein epochale Angelegenheit, aber wozu?"), entdeckt er 1932 sein Potential. Brecht hofft, daß eine neue Allianz von Medium und Form, von Radio und Kunst in der Lage sei, die defizitäre, auf der Entfremdung und der Vereinzelung des Menschen basierende arbeitsteilige Gesellschaft zu kurieren: "Die Kunst muß dort einsetzen, wo der Defekt liegt." (S. 124) Folglich müsse die Kunst sich der Vereinzelung entgegenstellen und kollektive Formen entwickeln. Dazu müsse sie im Radio aufgehen und es verwandeln: der Rundfunk darf nicht länger eine Masse voneinander separierter Personen mit Nonsense berieseln, sondern es muß sein Publikum einbeziehen, es zu einem Kollektiv verschweißen. 1932 konstatiert Brecht: Noch

  • hat der Rundfunk eine Seite, wo er zwei haben müßte. Er ist ein Distributionsapparat, er teilt lediglich zu. [...] Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. (S. 129)
  • Die Zauberformel hieße heute natürlich Interaktion und das Medium Internet. Brecht will das Auseinanderklaffen von einem Sender und vielen Empfängern abschaffen. Diese Symmetrisierung stehe auf der Tagesordnung der Geschichte, da sie unmittelbar in der Technik selbst implementiert sei und der lange, ungewisse Weg einer ästhetischen Erziehung so überflüssig gemacht werde: Brechts "Vorschläge" "der Propagierung und Formung einer anderen Ordnung" bilden "doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung" (S. 134). Während andere Medien der Kunst wie etwa die Literatur sich vor allem dadurch auszeichneten, daß sie in Bezug auf die soziale Ordnung "folgenlos" blieben (S. 130), dränge der Rundfunk durch die Kollektivierung von Sendern und Empfängern auf ihre revolutionäre Veränderung. Die Aufhebung der Kunst in dieser künftigen "anderen Ordnung" gehört zur Logik dieser Utopie, denn für die autonome, bürgerliche Kunst wäre dort kein Platz mehr. Walter Benjamin schreibt im gleichen Jahr in seinen Reflexionen zum Rundfunk, daß das Radio die "Konsumentenmentalität" der "stumpfen, unartikulierten Massen" (II,3, S.1506) in ihr Gegenteil verwandeln würde. Zwar werde noch versucht,
  • die grundsätzliche Trennung zwischen Ausführenden und Publikum, die durch ihre technischen Grundlagen Lügen gestraft wird, in ihrem Betrieb zu verewigen. [Doch] jedes Kind [um nicht Brecht sagen zu müssen. NW] erkennt, daß es im Sinne des Radios liegt, beliebige Leute und zu beliebiger Gelegenheit vors Mikrophon zu führen.
  • In der Sowjetunion habe man längst die "naturgemäßen Folgerungen aus den Apparaten" gezogen und ein unendliches, kritisches Selbstgespräch der Massen installiert, während in Deutschland der Stumpfsinn des one-way-broadcasting vorherrsche. (ebd.) Exakt wie bei Brecht haben bei Benjamin die alten Medien jene Konsumhaltung zu verantworten, die vom neuen Medium als natürliche und unmittelbare Folge der Technik abgelöst und in eine Konsumenten und Produzenten gleichstellende Interaktion überführt werde. Die neue Technik und ihre neuen Kommunikationsverhältnisse lassen "die Haltung der Massen [...] umschlagen". (ebd.) Um es nochmals zu betonen: Es geht auch hier nicht um Inhalte oder Messages. Es ist vielmehr die "technische und formale Seite [...], an der allein das Sachverständnis der Hörer sich schulen und dem Barbarentum entwachsen könnte." (II,3, S. 1507). Der elitären Flucht des George-Kreises aus der Moderne wird die technische Utopie einer Interaktion der Massen entgegengestellt.

    Nach dem Radio, das als Volksempfänger vorführt, wozu Broadcasting fähig ist, das Kino. Benjamin erwartet 1936 die Abschaffung der typisch modernen, quantitativen wie qualitativen Asymmetrie von Produzent und Rezipienten vom Film, dessen Technik die Differenzierungen dieser Funktionsrollen tilge. Denn zum einen nehme das Publikum die gleiche Haltung zu den Darstellern des Films ein wie Cutter und Kameramann (I, 2, 488). Es fühle sich nicht in die Darsteller ein, wie einst bei Theaterstücken, sondern kopiere die "Haltung" der "Apparatur" (ebd.). Die technische Apparatur des Films symmetrisiert die Perspektiven des Publikums und der Produzenten. Benjamin vergißt nicht darauf hinzuweisen, daß der Film grundsätzlich "jedem eine Chance [gibt], vom Passanten zum Filmstatisten aufzusteigen." Andy Warhol wird diesen Satz aufgreifen und populär machen. Bei Benjamin heißt es: "Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden." (I, 2, 493) Benjamin weist darauf hin, daß schon das Medium der Zeitung die jahrhundertealte Ungleichheit zwischen Autor und Leser nivelliert habe, da mit "der wachsenden Ausdehnung der Presse [...] immer größere Teile der Leserschaft [...] unter die Schreibenden" fielen (ebd.). Seine Hoffnungen in die Sürrealisten aus dem Jahre 1929, deren Werke zu einer kollektiven Innervation und diese zu einer revolutionären Entladung führen sollten, hat er nunmehr aufgegeben, da das Publikum selbst die Werke der Avantgarde kontemplativ und vereinzelt rezipiere. Doch aus dem "rückständigsten" Bilderbetrachter werde der "fortschrittlichste" Kinogänger (I, 2, 496). Denn der Film erzwinge die "simultane Kollektivrezeption" (I, 2, 497) und damit die progressive Selbstorganisation der Massen zum Kollektiv (I, 2, 498). Hans Magnus Enzensberger hat in seiner Benjamin-Lektüre herausgestellt, daß die Kunst nun "alle Autonomie-Ansprüche" aufgebe und "durch die Medien und in ihnen aufgehoben" werde. Der Film verändere den "Gesamtcharakter der Kunst", die "gesamte Funktion der Kunst" (Benjamin) derart, daß Enzensberger von ihrem "Ende" sprechen möchte, insofern sie nämlich aufgehe in "einer viel allgemeineren Produktivität" (S. 124), nämlich der "Interaktion" der Massen (S. 128). Aufhebung der Kunst bedeutet aber nicht anderes als die Entdifferenzierung der Funktionsdifferenzierung – oder in Benjamins Worten: Der Film hat "die Tendenz, die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft zu befördern." (S. 35)

    Ich fasse zusammen: Brecht und Benjamin erwarteten von den neuen Medien, erst vom Radio, dann vom Kino, eine Umstellung der Kommunikationsverhältnisse vom asymmetrischen Broadcasting auf symmetrische Interaktion. Im Verlauf dieses Prozesses, der gleichsam vom technischen Telos der Medien angetrieben wird, steht die Aufhebung der Kunst in einer anderen Gesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, die nicht länger funktionsdifferenziert kommuniziert.

    Ich brauche hier kaum zu erwähnen, daß Radio und Film nicht gerade gehalten haben, was Brecht und Benjamin versprochen haben. Immer noch gibt es das autonome Kunstwerk, gibt es Kunst als spezifisches Sozialsystem der Gesellschaft, gibt es die asymmetrische Unterscheidung von Künstlern und Rezipienten. Man könnte fast annehmen, daß die Kritiker der Moderne und ihrer Kunst beim nächsten neuen Medium Vorsicht walten ließen, ehe sie die alten Utopien revitalisierten. Doch zeigt Enzensbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien von 1970, daß dem nicht so ist. Im Gegenteil: vom Fernsehen, vom Video, vom Xerox-Kopierer erwartet Enzensberger all das, was sich Brecht und Benjanim so offenkundig vergeblich von Radio und Film versprochen haben. Enzensbergers Kernthese ist die, daß "die elektronische Technik keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger kennt". Die faktische "Differenzierung von Sender und Empfänger" werde nur aus "politischen Gründen" gezogen und spiegele die "gesellschaftliche Arbeitsteilung" wider (S. 99), die es abzuschaffen gelte. In der technischen Struktur der "elektronischen Medien" selbst liege ein "Potential", das nur auf seine "Entfesslung" warte, um aus einer Berieselungsanlage passiver Konsumenten ein System "der Interaktion freier Produzenten" zu machen (S. 107). Im "Gegensatz zu den älteren Medien wie dem Buch oder der Tafelmalerei, deren exklusiver Klassencharakter offensichtlich" sei, "heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien [...] auf" und schaffen das "kulturelle Monopol" der "Eliten" ab. "Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär" (S. 107). Die Interaktion der Massen gelingt also medientechnisch, Enzensbergers Vision muß sich nicht auf die Zirkel und Kreise à la Schiller und George beschränken. Die Hierarchien der alten Kommunikationsverhältnisse, die Asymmetrien zwischen Produzent und Konsumenten, Autor und Publikum werden aufgelöst und von "Kommunikationsnetzen" abgelöst, "die auf dem Prinzip der Wechselwirkung aufgebaut sind: eine Massenzeitung, die von ihren Lesern geschrieben und verteilt wird, ein Videonetz politisch arbeitender Gruppen usw. " (S. 112). In diesen "netzartigen" (S. 112) "neuen Formen der Interaktion" (S. 115) erfülle sich das "Verlangen nach einer neuen Ökologie, nach einer Entgrenzug der Umwelt, nach einer Ästhetik, die sich nicht auf die Sphäre des »Kunstschönen« beschränkt." (S. 114). Der die Leser und Autoren isolierende Buchdruck, der "Feedback und Wechselwirkung" kaum zuläßt, das geschlossene Werk in Buchform (S. 127), seien überholt: "Längst hinfällig ist die Vorstellung vom abgeschlossenen Werk" (S. 123).

    Auch in Enzensbergers Baukasten finden sich alle Symptome des diagnostizierten Syndroms: egalitäre Interaktion statt hierarchische Asymmetrie, Entdifferenzierung statt Funktionsdifferenzierung, Lebenskunst des Kollektivs statt autonomer Kunst für vereinzelte Subjekte. Enzensberger selbst gibt folgende, polarisierende Zusammenfassung (S. 116):
     
     
     
    Repressiver Mediengebrauch  Emanzipatorischer Mediengebrauch
    Zentral gesteuertes Programm Dezentralisierte Programme
    Ein Sender, viele Empfänger Jeder Empfänger ist ein potentieller Sender
    Immobilisierung isolierter Massen Mobilisierung der Massen
    Passive Konsumentenhaltung Interaktion der Teilnehmer, feedback
    Produktion durch Spezialisten Kollektive Produktion

    Das war 1970. Zwei Jahre später, 1972, hat Jean Baudrillard in seinem Requiem für die Medien die hier skizzierten Theorien Brechts, Benjamins und Enzensbergers zu Grabe getragen. Baudrillard löst die Diskussion von der Ebene der technischen Potentiale ab, auf der sie bisher geführt wurde, und definiert Medien als "dasjenige, [was] die Antwort für immer untersagt" (S. 91). Die elektronischen Medien sähen zwar eine "formale »Umkehrbarkeit«" vor in Form von "Leserzuschriften, telephonischem Eingreifen von Hörern, Meinungsumfragen", aber "freilich ohne irgendeiner Antwort Platz zu lassen" (S. 108f), d. h. nicht ohne das Feed-Back nicht schon vorausgeplant und eingebaut zu haben. Tatsächlich schließen die Medien Interaktion aus (S. 105). Die Vorstellung, Massenmedien anders zu verwenden, etwa emanzipatorisch oder revolutionär, die Vorstellung, die hierarchische Kommunikation in Interaktion zu verwandeln, verkennt Baudrillard zufolge gerade den eigentlichen Charakter der "Massenmediatisierung" (S. 99), der nämlich genau darin besteht, in jeder "Form" einen "originalen Austausch" von Leuten, die "sich antworten", auszuschließen (S. 110). The Medium is the message, wird McLuhan zitiert, und das heißt für Baudrillard, daß die "Form" der Massenmedien gleichgültig gegen ihre Botschaften oder Inhalte immer dieselbe ist (S. 96). Und diese Form ist Baudrillard zufolge die einer eindimensionalen Vektorisierung vom Sender zum Empfänger (S. 104), eine Form, an der sich auch dann nichts ändert, wenn der "Empfänger seinerseits zum Sender" wird (S. 104). Mit den Worten Niklas Luhmanns könnte man sagen, daß jede Kommunikation im Medium der Massenmedien sich den konstitutiven Codes, Programmen und Skripten unterwirft. Dies kann gar nicht anders sein, denn die "technisch bedingte Notwendigkeit einer Kontaktunterbrechung", der Auschluß einer "Interaktion unter Anwesenden" (S. 11), "führt zur Standardisierung", zur "Differenzierung der Programme, jedenfalls zu einer nicht individuengerechten Vereinheitlichung" (S. 12). Dies hat seine Gründe in der Tatsache, daß "Sendebereitschaft" und "Einschaltinteresse" nicht "zentral koordiniert werden können" (S. 12). Weil man den Zuschauer als Individuum nicht kennt, muß massenhaft Verschiedenes gesendet werden, so daß sich ein "Angebot" ergibt, dem der einzelne das entnimmt, "was ihm paßt" (S. 10ff). Die Einschaltquote entscheidet über Erfolg oder Mißerfolg – also genau jene statistische Verfahren, die laut Baudrillard Interaktion simulieren, tatsächlich aber auschließen. Die Massenmedien trennen Sender und Empfänger technisch und schieben sich zwischen beide wie ein auf beiden Seiten verspiegeltes Glas. In Luhmanns Gesellschaft der Gesellschaft heißt es: "Der Informationsgeber sieht im Medium der kurrenten Information sich selbst und andere Sender. Der Informationsnehmer sieht sich selbst und andere Informationsnehmer und lernt nach und nach, was man hochselektiv zur Kenntnis zu nehmen hat, um im jeweiligen Sozialkontext mitwirken zu können. Der Spiegel selbst ist intransparent." (S. 1102) Vermittlung ist überflüssig, es genügt, daß die Sender sich anhand der Einschaltquoten untereinander vergleichen und die Empfänger ihre aus den Medien übernommene "öffentliche Meinung" (S. 1102) als eigene in der Interaktion mit anderen Zuschauern vertreten können. Je nach Erfolg verändern dann die Sender und die Empfänger die Sendungen, die sie senden oder empfangen. Die Möglichkeit einer Antwort durch den Spiegel hindurch ist unmöglich.

    Baudrillard hat sich deutlich ausgedrückt. Niemand außer Leo Kirch würde heute noch das Fernsehen als interaktives, egalitäres Medium loben. Seitdem gibt es aber neue Medien, und was bleibt, sind die alten Hoffnungen. Heute sind es Computer und ihre Vernetzung im Internet, die zu neuen Spielen mit dem alten Baukasten eingeladen haben. So prophezeit etwa Norbert Bolz, Asymmetrie und Distanz zwischen Produzent und Rezipienten würden elektronisch im Hypermedium des multimedialen Hypertextes liquidiert: "Erstmals sind die technischen Behelfe bereitgestellt, um die alte Utopie zu implementieren: die Differenz zwischen Autor und Leser einzuziehen." Die Datanauten im docuverse seien interaktiv derart verschaltet, daß "literarische Arbeit als kollektiver Prozeß erkennbar" werde. Hypermedia erfüllten den alten "Traum" der medialen Interaktion im "Zweiwegkabelfernsehen". Die tendenziell "fascistische" "Medienwirklichkeit des Broadcasting" werde endlich aufgebrochen durch die "neuen Möglichkeiten einer dialogisch geschalteten, reversiblen, vernetzten Kommunikation". Noch 1990 schrieb Bolz mit einer gewissen Skepsis: "Die medientechnologische Entzauberung des Menschen [...] provoziert revolutionsromantische Immediatutopien reziprok kommunizierender Kollektive." Nunmehr, nach der Rezeption diverser cyberdelischer Publikationen von Leary, Landow und Glaser, überschreitet er aber selbst begeistert "eine Scheidelinie, die Weltalter trennt", um zu verkünden: "wir nehmen heute Abschied von den linearen Aufschreibesystemen, die man Kultur oder Geist genannt hat", und stoßen vor ins "Weltalter der Algorithmen". Die neue "telematische Technik [...] befreit den einzelnen aus der Gefangenschaft der Subjektivität und sprengt zugleich den Panzer des Anderen. Das mag dann Proxemik heißen: die Silbe Tele- als Anweisung auf Intensität, Nähe und die Intersubjektivität dichter Vernetzung. Dann würde hinter dem Schleier des Anderen der Nächste erkennbar." Der eschatologische Ton ist hier unverkennbar, es ist der Sound der Romantik. Die "telepathische Vollendung der Telekommunikation" macht aus dem entfremdeten Anderen den sympathetischen Nächsten. So werden im Medium der Unmittelbarkeit endlich doch noch alle Menschen Brüder. Telos der Entwicklung ist ein Interaktionsparadies, dessen Teilnehmer nicht mehr von ihrer Umwelt entfremdet und voneinander isoliert sind, sondern im Cyberspace quasi organisch miteinander verschaltet werden: "Der Grenzwert dieser Obsession ist elektronische Telepathie: das totale Interface". Die biokybernetischen Kommunikationssysteme der nahen Zukunft vernetzten "ZNS und Computer direkt", um schließlich die mittelalterliche Vorstellung zu realisieren, nach der "Engel ohne Vermittlung der Sprache kommunizieren". Ziel ist also die wahrhaft unmittelbare Interaktion aller mit allen. Das jüngste Medium hebt so den Sinn aller Medien auf: nämlich zu vermitteln und zugleich die Differenz zu wahren. Dieses Pfingstwunder wäre auch das Ende der Gesellschaft als System der Kommunikation.

    Wie Bolz angedeutet hat, spielt im Internet die Differenz von Autor und Leser keine Rolle mehr und wird das abgeschlossene Kunstwerk seiner Grenzen entledigt. Für die Literatur bedeutet das: "Die Poesie soll von allen gemacht werden!", wie ein Aufsatztitel von Heiko Idensen emphatisch fordert. Er schreibt:

  • Im Gebrauch digitaler Informationsnetzwerke bricht der für die abendländische Kultur konstitutive wesentliche Unterschied zwischen Schreiben und Lesen, Senden und Empfangen, Bezeichnen (Codieren), Interpretieren (Decodieren) zusammen: Produktion, Verbreitung, Interpretation, Kommentierung, Retrieval von Informationen spielen sich in einem hypermedialen Netzwerk offener Verweis-, Navigations- und Strukturierungsoperationen ab. (S. 146)
  • Was immer man nun "am Computer" tue, es sei Poesie im Sinne einer "Poetik des offenen Kunstwerks": "Sie lesen und schreiben. Sie senden und empfangen. Sie spielen Theater. Sie suchen ..." (S. 148) – alles gehört dazu. Wenn die Poesie von allen gemacht werden soll, ist auch alles Poesie. Eine Unterscheidung zwischen Literatur und Nicht-Literatur spielt hier keine Rolle mehr: "Hypermediale Erzählweisen, Postmoderne Literatur, Videoclips, interaktive Spiele, expanded books, Edutainment, Dokudrama ..." (S. 160), "telematische Spielwelten" und "Adventure-Environments" befreien Leser, Autor und Werk aus der Gefängniszelle der Gutenberg-Galaxis und ermöglichen neue Formen der "Partizipation und Interaktion" (S. 161). Der Cyberspace ist kein Medium der Kunst, sondern ist selber ins Softlife überführte Kunst: ein neuer "Schreib-, Spiel- und Aktionsraum", in dem "gelebt" werden kann (S. 163).

    Um noch einen weiteren Beleg zu geben. Uwe Wirth schreibt in seinem Aufsatz Literatur im Internet, daß im Zeitalter des Buches der Buchdeckel die

  • Grenze zwischen Text und Kontext [markierte]. Diese Grenze entfällt im Internet. Insofern ist Literatur im Internet durch den Verlust des Buch- und Werkcharakters ausgezeichnet. Sie löst den Literaturbegriff von seinem "»klassischen Träger«, dem Buch. Der Begriff des Textes ist nicht mehr an die Form des Buches gebunden. Im Internet bekommt Derrida uneingeschränkt recht, wenn er behauptet: »There is nothing outside the text.« Ja, man muß diese dekonstruktivistische Parole vielleicht sogar noch ergänzen und sagen: »There is nothing outside the hypertext.« (S. 324)
  • Internet-Literatur verknüpfe sich durch ihre offene Struktur und die Möglichkeit unendlicher Verweisungen durch Hyperlinks zur unendlichen Bibliothek (S. 325). Wirth spricht von der "Hyper-Intertextualität" des Internets (S. 325). Von Textkunst ist keine Rede, nur von Textualität. Im hyper-intertextuellen Cyberspace sind alle unterschiedlichen Codierungen und Diskursformen aufgehoben, jeder Text verweist auf alle anderen, die Welt des Docuverse ist zwar operativ digital, aber semantisch ganz und gar entdifferenziert. Selbstverständlich wird hier auch der Leser vom passiven Konsumenten zum "CoAutor" (S. 332), der mit dem Hypertext interagiert.

    Vilém Flusser geht noch weiter, wenn er annimmt, daß im Internet die von Baudrillard beschriebene Form der Massenmedien: nämlich jede Operation ohne Ausnahme in Sender oder Empfänger zu zerlegen, einem entscheidenden Wandel unterzogen wird. In der "telematischen Gesellschaft" werde "es keine Sendezentren mehr geben, sondern jeder Knotenpunkt des Netzes wird zugleich empfangen und senden. dadurch werden die Entscheidungen überall im Netz getroffen werden und sich, wie im Gehirn, zu einer Gesamtentscheidung integrieren." Die Differenz zwischen Leistungs- und Klientenrollen verliert in diesem "Netz" der in Echtzeit interagierenden Knoten jede Bedeutung. Flussers Vision ist ein Gipfelpunkt des uns interessierenden Syndroms, und es kann nicht überraschen, daß ausdrücklich auch die Entdifferenzierung der Funktionsdifferenzierung vorgesehen wird: "Alles, was früher Wissenschaft, Technik, Politik und Kunst hieß, wird gegenwärtig [...] in vernetzter Zusammenarbeit und mit Hilfe von künstlichen Intelligenzen geleistet." Was einmal Literatur hieß, verliert hier jede distinkte Bedeutung. Und um an diesem Ort auch einmal Friedrich Kittler zu zitieren. Im Vorwort zu seinen Technischen Schriften schreibt er, man "kann nicht umhin festzustellen, daß die Unterschiede zwischen Schreiben und Programmieren gegen Null gehen. Es ist dieselbe Maschine, auf der Texte und virtuelle Bilder entstehen, dieselbe Jagd nach Redundanzen". (S. 9) Es ist nur konsequent, daß Kittler in seinem Beitrag zu Perspektiven der Germanistik den Studenten empfiehlt, lieber "die Sprachen C und Pascal zu lernen", als "Französisch und Italienisch". Einflußreiche Literaturwissenschaftler und Standesorganisationen suchen ihr Heil in einer "medienwissenschaftlichen Erweiterung philologischer Forschung", die "dort unverzichtbare Fachkompetenz bereitstellt, wo drängende Probleme der Mediengesellschaft nach neuen Lösungen suchen." Die Unterscheidung der Literatur, die Form der Textkunst werden so als Probleme der Literaturwissenschaft obsolet wie diese selbst. Das Problem, das ich zum Beginn der Vorlesung gestellt habe, wird so nicht gelöst, doch wird die Lösung überflüssig gemacht. Zusammenfassend läßt sich sagen: Das Gemeinsame der skizzierten Medientheorien der Kunst ist, daß sie den Kunst- und Literaturbegriff expandieren, im neuen Medium entdifferenzieren und so letztlich auflösen. Zum Reiz der Neuen Medien gehört es, daß unser Hauptproblem, was Kunst sei, dadurch gelöst wird, daß sich die Frage nach der Kunst nicht mehr stellt. Denn die neue Mediengesellschaft, die Brecht und Benjamin mit dem Radio und Film aufkommen sehen, die Enzensberger vom Fernsehen erwartet und die Bolz, Flusser und so viele andere im Internet verwirklicht sehen, ist eine entdifferenzierte Gesellschaft, welche kein distinktes System der Kunst und Literatur mehr aufweist. Die Frage nach der Textkunst als spezifischer Form eines Mediums ist aus der Sicht dieser Medienutopien eine reaktionäre, da sie an der arbeitsteiligen, "bürgerlichen" oder "kapitalistischen" Systemdifferenzierung der Gesellschaft festhält. Ich werde sie trotz allem hier noch einmal stellen.

    Kunst im WEB

    Die einschlägige Literatur zum Thema, die solche Begriffe wie Cyberspace, Docuverse oder virtuelle Welt im Titel trägt, suggeriert eine Einheit des Gegenstandsbereiches, die in Wahrheit allein eine technische ist. Der Cyberspace ist ein technisches Universum, aber ein soziales Multiversum. Nur weil dieselben technischen Voraussetzungen bestehen, folgt die Kommunikation im Internet noch lange nicht ein- und demselben Code. Die virtuelle Welt ist keine Gegengesellschaft, kein utopischer Raum, in der die Gesetze der realen Welt keine Gültigkeit mehr besitzen, die virtuelle Welt ist vielmehr ein Teil der Gesellschaft. Im Internet wird kommuniziert, weltweit sogar, und die Codes und Funktionen dieser Kommunikationen im Internet sind dieselben wie außerhalb. Man kann sehr leicht intime Kommunikation von politischer unterscheiden, den Zahlenfluß der Weltwirtschaft von den Diskursen der Wissenschaft, die Nachrichtendienste von der Pop- und Unterhaltungskultur. Niemand verwechselt seine private e-mail mit der Internet-Ausgabe der Newsweek, niemand hält die Oberfläche seines Online-Banking-Programms für Kunst, niemand verwechselt den Zweck des Werbebanners von Microsoft auf der Suchmaschinen-Site mit dem des Logos der CDU auf der Homepage der Konrad-Adenauer-Stiftung.

    Recht ist Recht, Politik ist Politik, Wirtschaft ist Wirtschaft, und Kunst ist Kunst – auch im Cyberspace. Also bleibt alles beim alten? – modern und funktionsdifferenziert? Ich glaube nicht alles! Wenn ich auch davon überzeugt bin, daß die moderne Systemdifferenzierung von einem neuen Medium nicht aufgehoben wird, sondern ganz im Gegenteil: daß die Funktionsdifferenzierung dem Cyberspace ihre Unterscheidungen einprägt, so ändert sich doch vieles innerhalb der einzelnen Sozialsysteme. Was die Kunst betrifft, so könnte es sein, daß die alten Gattungsdifferenzen im Internet unter Druck geraten. Dies liegt daran, daß Gattungsunterscheidungen wesentlich Unterscheidungen von Medien sind: Musik, Malerei und Literatur sind Gattungen der Kunst, die ihre Eigentümlichkeit innerhalb der Kunst ihrer grundsätzlichen medialen Differenz verdanken. Töne, Bilder und Texte artikulieren eine jeweils andere Differenz von Medium und Form.

    Mit der multimedialen Universalmaschine des Computers steht nun aber ein Medium zur Verfügung, das alle anderen Medien zu simulieren und zu integrieren vermag. In diesem Falle schließe ich mich der Ansicht Friedrich Kittlers an, der in Grammophon, Film, Typewriter schreibt: "Die Leute werden an einem Nachrichtenkanal hängen, der für beliebige Medien gut ist [...] In der allgemeinen Digitalisierung von Nachrichten und Kanälen verschwinden die Unterschiede zwischen einzelnen Medien. Nur noch als Oberflächeneffekt, wie er unterm schönen Namen Interface beim Konsumenten ankommt, gibt es Ton und Bild, Stimme und Text." (S. 7) Nur noch als Oberfläche gibt es Unterschiede, spricht der Technologe, und gerade darauf kommt es mir hier an. Für die Kommunikation von Menschen sind die Algorithmen der Maschinensprache ohne Bedeutung, die Digitalität ist nicht beobachtbar, nur ihre Effekte. Kittlers Zumutung an den Rezipienten, "im Synthesizersound der Compact Disc den Schaltplan selber zu hören" (S. 5), verkennt seine eigene Erkenntis von der Unhintergehbarkeit der Interfaces. Nur auf der Oberfläche also "gibt es Ton und Bild, Stimme und Text", und das neue daran ist, es gibt sie zugleich auf einer einzigen Oberfläche. Die Multimedialität der Hypertexte ermöglicht eine Simultanrezeption von Tonspuren und moving pictures, von gesprochener oder gesungener Stimme und geschriebenem Text, von gescannten Bildern oder programmierten Grafiken. Wenn ich hier auf meine Ausgangüberlegung zurückgreife, daß Kunst es mit einer bestimmten Beziehung zwischen Medium und Form zu tun hat, dann versteht sich, daß das Internet ein Medium ist, dessen künstlerische Formung besonders komplex ist. Der Cyberspace wird – um es ex negativo auszudrücken – als Medium der Kunst nicht genutzt, wenn man schlicht einen Warhol scannt, ein Rilke-Gedicht abschreibt oder eine Wagner-Oper digitalisiert, um diese Kunstwerke dann auf einer Homepage zu publizieren. Dann wird das Internet nur als Verbreitungs- und Speichermedium genutzt und ist genauso wenig ein Medium der Kunst wie ein Lastwagen, der Bilder einer Austellung transportiert. Nur wenn die spezifische mediale Qualität des Internets, nämlich alle Medien simulieren zu können, von der Form genutzt wird, erhält es Kunstqualität. Zu einer gelungenen Form wird vermutlich gehören, darauf zu verzichten, wie ein begeisterter Vorführer in einem Computer-Shop schlechtweg nur zu zeigen, was technisch alles geht.

    Dies würde aber bedeuten, daß Textkunst das Internet niemals als Medium der Kunst nutzen würde, da Textkunst per definitionem die multimedialen Möglichkeiten nicht nutzt, da Textkunst weder Bildkunst noch Tonkunst ist. Dasselbe gilt für Malerei und Musik. Nur eine Avantgarde von Künstlern weiß dies und versucht, den Cyberspace als Medium der Kunst zu erschließen. An den Werken, die bis jetzt vorliegen, läßt sich beobachten, daß die bildende Kunst sich der Schrift öffnet und daß umgekehrt die Literaten grafische Elemente in ihr Werk integrieren. Unter der Herausforderung, das Multimedium als Medium für Formen der Kunst zu verwenden, brechen die Gattungsdifferenzen zusammen – freilich nur im Cyberspace selbst, in der wirklichen Welt wird es weiterhin Texte und Bilder, Töne und Stimme geben. Im Cyberspace dagegen hat die Textkunst keine Zukunft. Sie wird dort immer nur aufgehoben werden.