Lieder von Liebe und Leid
Das Mittelalter, eine Epoche, von der uns der dichte Nebel der Jahrhunderte trennt und die dem Heute dennoch so nahe scheint, daß die amerikanische Kulturhistorikerin Barbara Tuchman sie als einen "fernen Spiegel" unserer eigenen Zeit apostrophierte.
Eine in sich zerrissene Epoche: Rohe Gewalt und tief empfundene Frömmigkeit,
prunkvoller Reichtum und bittere Armut, vehemente philosophische Diskurse
einer kleinen Schicht von Gebildeten und die derbe Lust der breiten Volksmassen,
sie existieren Schulter an Schulter, ja manchmal scheinen sie einander
geradezu zu berühren. Es ist die Zeit der Troubadoure und Minnesänger,
gern gesehener Gäste an mittelalterlichen Fürstenhöfen,
begabter Poeten, früher Verfechter der volkssprachlichen Dichtung
... doch wir greifen den Dingen vor. Das Geheimnis der Minnesänger
ist heute unser Thema, Lieder von Liebe und Leid wie der Untertitel lautet,
und deshalb muß die wohl schwierigste unter all den Fragen, die uns
nun beschäftigen werden, ganz am Anfang stehen: Wer eigentlich waren
die Minnesänger?
Beginnen wir mit der Vorstellung, die sich in den meisten mitteleuropäischen
Köpfen einstellen wird, wenn das Gespräch auf den Minnesang kommt:
Es ist das, was ich gerne als die "klassische Romeo und Julia-Situation"
bezeichne. In einsamer Nacht kauert der Sänger unter dem Balkon einer
holden Jungfrau, der er in aller Heimlichkeit sehnsuchtsvolle Lieder zuhaucht,
deren Schönheit und Tugend er preist und die er zugleich auffordert,
ihm seine sexuellen Wünsche zu erfüllen.
Aber ist das die authentische historische Aufführungsform? Ist
das der "Sitz im Leben", wie es die Mediävisten, die Mittelalter-Wissenschaftler,
ausdrücken, ist das der „Sitz im Leben“, welchen der Minnesang einnimmt?
Ich will es Ihnen nicht verschweigen: Von unserer Vorstellung trifft das
Wenigste zu.
Setzen wir noch einmal an - Minnesang, gut, da hat jemand gesungen,
von "Minne" hat er gesungen. Minne, das ist "Höfische Liebe", doch
was bedeutet das?
Was Liebe nun eigentlich ist, darüber gibt es ja schon heute,
in der Neuzeit, höchst unterschiedliche Auffassungen. Bei Heinrich
Heine etwa klingt das so:
Sie saßen und tranken am Teetisch,
und sprachen von Liebe viel.
Die Herren, die waren ästhetisch,
die Damen von zartem Gefühl.
Die Liebe soll sein platonisch,
der dürre Geheimrat sprach.
Die Rätin lächelt ironisch
und dennoch seufzet sie: „Ach!“
Der Pfarrer öffnet den Mund weit:
„Die Liebe sei nicht zu roh!
Das schadet sonst der Gesundheit!“
Das Fräulein lispelt: „Wieso?“
Die Gräfin spricht wehmütig:
„Die Liebe ist eine Passion!“
Und präsentieret gütig
die Tasse dem Herren Baron.
Es war dort am Tisch noch ein Plätzchen,
mein Liebchen, da hast Du gefehlt,
und hättest so hübsch, mein Schätzchen,
von Deiner Liebe erzählt.
Aber wie ist das im Mittelalter? Wie ist das mit der Minne, der höfischen Liebe?
Was ist Minne ?
Andreas Capellanus und Gaston Paris
Andreas Capellanus - oder "Andre le Chapellain", wie ihn die kultivierteren
seiner Zeitgenossen angesprochen haben mögen - um die Mitte des 12.
Jahrhunderts Hofkaplan - also Geistlicher - der Eleonore von Aquitanien,
der "Königin der Troubadoure", dieser Andreas Capellanus hat uns in
seinem Werk "De Amore" - "Über die Liebe" etwas hinterlassen, das
einer Definition so nahe kommt, wie wir das von einem mittelalterlichen
Schöngeist erwarten dürfen. Daß er sich dabei ziemlich
großzügig in der "Ars amatoria", der "Liebeskunst", des römischen
Dichters Ovid bedient, darf übrigens bei einem mittelalterlichen Autor
nicht überraschen. Die Antike war das große Vorbild für
die Menschen des 12. und 13. Jahrhunderts. Niemand - und am wenigsten Andreas
Capellanus - vermochte sich der Faszination des längst in den Staub
gesunkenen römischen Imperiums zu entziehen.
Wie aber stellt Andreas Capellanus Minne und Höfische Liebe dar?
Er gibt Ratschläge: Wie erwirbt man Liebe, wie behält man sie,
doch er fügt zugleich eine Warnung vor der dunklen, der verhängnisvollen
Seite der Liebe an, welche einzig und allein - und das finden wir immer
wieder in der mittelalterlichen Minnetheorie - auf die Schlechtigkeit der
Frauen zurückzuführen ist.
Im vorigen Jahrhundert hat der französische Mediävist Gaston
Paris versucht, die Theorien des Andreas Capellanus und anderer mittelalterlicher
Autoren zusammenzufassen. Höfische Liebe sei stets ungesetzlich, verwirkliche
sich in der bewußten Unterordnung des Mannes unter die Frau und sei
zugleich Ausdruck des männlichen Bemühens, im Sinne eines Codex
höfischer Verhaltensregeln besser und vollkommener zu werden. Minne
und höfische Liebe, das sei "eine Kunst, eine Wissenschaft, eine Tugend".
Ein Codex, ja ein ganzes System höfischer Verhaltensregeln. Höfischer
Verhaltensregeln? Die erste Bedingung für die Existenz von Minne,
für das Singen von Minneliedern ist die höfische Umgebung, der
prächtige, kultivierte Hof eines Königs, eines Herzogs oder eines
mächtigen Grafen. Nur in dieser Umgebung und nur zwischen den Angehörigen
der kleinen gesellschaftlichen Elite, die im 12. und 13. Jahrhundert zur
"höfischen" oder "hoeveschen" Gesellschaft zu rechnen ist, ist Minne
überhaupt möglich. Für die breite Masse der Bevölkerung
steht sie sozusagen per definitionem außerhalb jeder Erfahrung.
Die höfische Liebe sei "ungesetzlich", heißt es weiter.
Das scheint zu unserer Romeo und Julia-Pose zu passen, wenn wir uns vielleicht
in Erinnerung rufen, daß die beiden Liebenden von Verona ja weder
den Segen ihrer Familien noch den der offiziellen Kirche hatten. Aber das
ist hier gar nicht gemeint: Höfische Liebe ist ungesetzlich, weil
die Dame, deren Schönheit und erotische Attraktivität in so hohen
Tönen gepriesen wird, die Dame, deren sexuelle Gefügigkeit der
Minnevortrag gerade erreichen will, weil diese Dame verheiratet ist. Aber
das ist noch keineswegs alles, denn der Minnesänger schreitet zur
Tat - und das will in diesem Falle natürlich nur sagen: zum Gesang
- nun keineswegs nächtens und halb verborgen zwischen den Ziersträuchern
im Garten des zumindest potentiell gehörnten Ehemannes sondern in
aller höfischen Öffentlichkeit, auf dem gesellschaftlichen Ereignis
par exellance, der herrschaftlichen Festtafel.
Die Vortragssituation
Darbietungen von Gauklern und Hofnarren sind vorausgegangen. Manchmal geht es auch härter zur Sache. Kaiser Heinrichs VI. von Hohenstaufen, der Sohn Friedrich Barbarossas, schätzt es ganz besonders, wenn sein Hofnarr vor den Augen der versammelten höfischen Festgesellschaft gefangene Rebellen zu Tode foltert. Und dabei ist er auch noch höchst erfinderisch: So wird einer der Anführer des Aufstandes an den Füßen aufgehängt und dann zunächst einmal gepufft und geknufft, daß es dem Kaiser und seinen Gästen eine Freude ist, eine grausame Freude. Dann aber holt der Hofnarr einen schweren Stein hervor und bindet ihn dem unglücklichen Gefangenen an die Zunge und ... an dieser Marter ist die bedauernswerte Kreatur dann verendet.
Dann tritt der Minnesänger vor. Er ist ein Mann von Adel, den meisten der Festgäste ebenbürtig, ausgenommen dem Gastgeber, dem König, Herzog oder Grafen, selbst. Der Minnesänger beginnt mit seinem Vortrag. In der charakteristischen Form der Minnecanzone preist er die Schönheit einer edlen Dame, die er seine frouwe, seine Herrin, nennt. Ihr Lebenswandel sei tugendhaft, berichtet er, dennoch wünsche er sich, daß sie seine Wünsche erhörte. Die Dame sei hier unter den Anwesenden: Alle anderen Damen überstrahle sie in ihrer Schönheit: Ihre Haare sind blond, ihre Haut weiß, die Augen blau, die Lippen rot, der Hals wohlgeformt und ... Hände und Füße auch. Über welche Körperteile die Dame dazwischen aber noch verfügen mag, das darf kaum angedeutet werden, denn das wäre unhöfisch.
Aber das blonde Haar zumindest, das darf im Regelfall nicht fehlen. Es ist so etwas wie das oberste Schönheitsideal des Mittelalters. Natürlich, Schönheitsideale können wechseln. Heute blondes Haar, morgen schwarzes, heute ein schlanker Körper, morgen ein fülliger. Schon Heinrich Heine hat sich damit auseinandergesetzt:
Welcher Frevel, Freund, abtrünnig
Wirst du deiner fetten Hanne,
und du liebst nun jene spinnig
dürre, magre Marianne!
Läßt man sich vom Fleische locken,
das ist immer noch verzeihlich;
aber Buhlschaft mit den Knochen,
diese Sünde ist abscheulich!
Das ist Satans böse Tücke,
er verwirret uns die Sinne:
Wir verlassen eine Dicke,
und wir nehmen eine Dünne!
Der Minnesänger fährt fort und er führt aus, wie genau
er sich den Lohn für seine Preisungen vorstellt - dieser Lohn ist
natürlich sexueller Natur. Die ganze Zeit hindurch hat er ganz deutlich
gemacht, um welche Dame es ihm dabei eigentlich geht. Wie gesagt, sie befindet
sich unter den Anwesenden, sie sitzt am Tisch des Herzogs, ja, es handelt
sich um niemand anderen als die Herzogin selbst.
Die im Minnesang verehrte Dame ist verheiratet und in aller Regel ist
der Ehemann während des Minnevortrages anwesend. Und in aller Regel
ist dieser Ehemann niemand anderer als der Dienstherr unseres Minnesängers
himself.
Um diese Dinge wirklich zu begreifen, müssen wir versuchen, unser
neuzeitliches Denken hinter uns zu lassen, wir müssen anders, müssen
mittelalterlich denken. Wer nämlich nicht weiß, welche Rolle
Öffentlichkeit im Leben des mittelalterlichen Menschen gespielt hat,
der kann weder nachvollziehen, welche gesellschaftliche Funktion der Minnesang
eigentlich erfüllte, noch kann er erfassen, warum der mächtige
Ehemann angesichts so eindeutiger Angebote, die unter seinen Augen an seine
Frau gerichtet werden, so ruhig bleibt, warum er nicht als ritterlicher
Herr seine Ehre gefährdet sieht und den Minnesänger zum Duell
herausfordert um diese wiederherzustellen.
Der Gedankengang läuft in mittelalterlichen Gehirnwindungen völlig
anders und das hängt mit einem weiteren Element der höfischen
Liebe zusammen: Sie gilt nämlich als unerfüllbar. Der Minnesänger
lobt die Schönheit und die Tugend der Dame. Und auf diese Tugend kommt
es nun ebenfalls an. Sie wissen vielleicht, was Henry Miller, der alte
Schwerenöter, über die Tugend gesagt hat:
„Tugend nennt man die Summe der Dinge, die wir aus Trägheit, Feigheit
und Dummheit nicht getan haben.“
Gewährte die Dame ihrem Sänger die Erfüllung seiner
Begierden, so wäre sie logischerweise nicht länger als tugendhaft
zu bezeichnen und führte so den gesamten Minnegedanken ad absurdum.
Minne, das ist Liebe und Leid, das Leid eben der unerfüllten Liebe
und die beiden Elemente sind untrennbar miteinander verbunden.
Der Herzog weiß ganz genau, daß seine Ehefrau dem Minnesänger ihre Liebe niemals gewähren wird, daß sie es schlicht und einfach nicht kann. Das bedeutet aber auch, daß der Minnesänger, im Zweifelsfall ein gutaussehender junger Mann, die Schönheit einer Dame preist, die nur einer erringen konnte und heute noch besitzt, nämlich gerade der Herzog in seiner Eigenschaft als Ehemann. Wenn wir nun noch wissen, daß der Minnesänger in der Regel ein Dienstmann des Herzogs war, dann wird uns klar, daß das Minnelied zwar formal an die Dame gerichtet wird, daß indirekt aber vor allem dem Herzog geschmeichelt und gedient werden sollte.
Und der Dienstgedanke ist in der so hierarchischen mittelalterlichen
Gesellschaft eine ganz zentrale Lebensmaxime. Dienst drückt sich nicht
nur in den landwirtschaftlichen Abgaben der Bauern oder im Kriegsdienst
der Ritter aus, er wird, stark ritualisiert, eben auch verwirklicht im
Minnesang.
Genau in dieser Situation ist er anzusiedlen, der "Sitz im Leben" des
Minnesangs.
Literarische Beispiele
Tristan und Isolde, Lancelot und Guinevere
Die Liebessehnsucht der Minnesängers: Erfüllbar oder unerfüllbar
? Nun, etwas schwieriger wird es nun allerdings, wenn wir betrachten, daß
in der höfischen Literatur, genauer im höfischen Roman, die bloße
Verehrung einer Dame in Minnesänger-Pose sehr wohl und noch dazu recht
schnell in sexuelle Aktion umschlagen konnte:
Tristan ist sicherlich das beste Beispiel dafür. Die Geschichte
von Tristan und Isolde gehört zu den beliebtesten mittelalterlichen
Romanen, was aber nicht bedeutet, daß sie besonders viel gelesen
worden wäre, denn des Lesens und Schreibens kundig ist im Mittelalter
nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung, den wir zum ganz
überwiegenden Teil mit dem Klerus, der Geistlichkeit, identifizieren
können. Nur einige wenige Laien konnten Lesen und Schreiben: Wolfram
von Eschenbach, der Dichter - oder richtige, der deutschsprachige Bearbeiter
- des Parzival, war einer von ihnen, von Walther von der Vogelweide vermuten
wir es aufgrund der vielen Anklänge an Ovid. Die meisten Schriftkundigen
des Mittelalters waren Geistliche, und wenn nicht, so hatten sie mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit doch eine Klosterschule besucht.
Von mittelalterlichen Autodidakten berichtet keine uns bekannte Quelle.
Auch Gottfried von Straßburg, der den erfolgreichsten mittelalterlichen
Tristanroman verfaßte, war ein Geistlicher. Er war der Verfasser,
doch auch viele andere werden den Tristan vorgetragen haben, denn das ist
der übliche Weg, auf dem der mittelalterliche Mensch mit Literatur
in Berührung kommt. Er wird Zeuge eines Vortrages. Ob Tristan, Parzival,
Lancelot, oder, den Bereich des höfischen Versepos, dem die genannten
Romane zugehören verlassend und den Boden eines eng verwandten Genres,
des Heldenepos nämlich, betretend, das Nibelungenlied, all diese Romane,
jeder einzelne von ihnen tausende von Versen lang, sie werden nicht nur
vorgetragen sondern sogar vorgesungen: Tausende von Versen auf ein und
dieselbe Melodie.
Tristan jedenfalls, die Hauptfigur auch in Gottfrieds Roman, ist der
Neffe des Königs Marke von Cornwall. Zugleich ist er ein idealer Ritter:
Er ist tapfer und wohlerzogen und er gilt als einer der besten Minnesänger
seiner Zeit. Kostproben seines Talentes liefert er des Abends in der Festhalle
der herzoglichen Burg. Da König Marke bereits ein älterer Herr
ist und noch dazu söhnelos, fällt Tristan die Aufgabe zu, das
Land Cornwall gegen räuberische Eindringlinge zu verteidigen, seefahrende
Wikinger, die König Markes auf einer zerklüfteten Halbinsel gelegenes
Königreich bedrängen. Im Duell mit Morolt, dem Anführer
der Wikinger, gelingt es Tristan, die Eindringlinge zu besiegen und zurück
ins Meer zu treiben, doch um welchen Preis: Die Klinge des Morolt war vergiftet
und nun siecht Tristan dahin und obwohl König Marke in aller Herren
Länder nach den besten Ärzten der Welt forschen läßt,
kann ihm niemand helfen und es geht Tristan schlechter und schlechter.
Seine Wunde hat sich entzündet und sondert einen so abstoßenden
Gestank ab, daß Tristan auf eigenen Wunsch hin aus der königlichen
Burg hinaus in eine abgelegene Hütte oberhalb der Küste gebracht
wird, wo man für ihn sorgt. Gesellschaftlich aber ist er trotz all
seiner Tapferkeit, seiner Tugend und seines höfischen Verhaltens erledigt.
So will er auf keinen Fall weiterleben und er sieht nur eine Hoffnung
für sich: Wenn auch sonst niemand das Geheimnis des Giftes kennt,
das in seinem Körper wütet, diejenigen, die es gebraut haben,
werden es wissen. Einzig die irischen Wikinger können ihm nun noch
helfen. In Verkleidung, als Kaufmann getarnt, bricht Tristan allein nach
Irland auf und tatsächlich gelingt es ihm, sich in die Gunst der irischen
Königsfamilie einzuschmeicheln und - obwohl seine Tarnung zuletzt
durchschaut wird - offenbart man ihm das Geheimnis des Giftes, rettet so
sein Leben und pflegt ihn gesund.
Dort in Irland hat Tristan auch die Tochter des Königspaares kennengelernt,
die blonde Isolde. Sie ist ein wunderschönes junges Mädchen,
und dazu muß sie, wie wir eben gesehen haben, auch blond sein. Natürlich
fällt Tristan auf, wie schön Isolde ist, doch noch verliebte
er sich nicht in sie, obwohl sich die beiden sehr nahe kommen. Tristan
wird sogar der Gesangslehrer der Prinzessin Isolde. Dann aber kommt der
Tag, an dem er nach Cornwall zurückkehren muß und da ist Isolde
vielleicht doch ein wenig enttäuscht, denn sie hat doch Gefallen an
dem gutaussehenden und wohlerzogenen jungen Ritter gefunden.
Zu Hause in Cornwall berichtet Tristan seinem alten Onkel, dem König,
von seinen Abenteuern und natürlich erwähnt er auch die Prinzessin
Isolde, denn die ist wunderschön: Die ist blond, die blauäugig,
die hat weiße Haut und rote Lippen. Das genügt dem König.
Er braucht sie nicht zu sehen; er hat Tristans Schilderung gehört
und schon hat er sich in sie verliebt. Sofort fordert er Tristan auf, ein
mächtiges Schiff auszurüsten und in seines, des Königs,
Namen in Irland um die Hand der Prinzessin Isolde anzuhalten. Was immer
Tristan davon hält, er gehorcht und segelt los.
Dem Antrag eines so mächtigen Herrschers wie König Marke
und eines so redegewandten Liebesboten wie Tristan mögen sich die
Eltern der Isolde nicht verschließen und sie willigen ein. Doch Isoldes
Mutter, die alte Königin, ist doch voller Sorge, denn sie hat erfahren,
daß dieser König Marke schon ein älteres Semester ist und
wohl auch nicht mehr sonderlich ansehnlich und ihre Tochter ist doch noch
so jung und hübsch und da wäre es doch nur natürlich, wenn
sie statt auf den König ihr Auge auf einen anderen Mann würfe,
auf Tristan zum Beispiel, den gutaussehenden Brautwerber.
Doch dann hat die Königin einen Einfall: Sie nimmt Brangæne,
das ist die junge Zofe der Isolde beiseite und vertraut ihr eine kostbare
kleine Phiole an, ein winziges Fläschchen mit einem mächtigen
Zaubertrank. Diesen Trank soll die Brangæne der Isolde einflößen
kurz bevor diese den König Marke erblickt, denn der Trank hat die
geheime Macht, daß derjenige, der ihn trinkt sich auf der Stelle
in den nächsten Menschen verliebt, den er ansieht. Und damit, glaubt
die Königin, hat sie für das Lebensglück ihrer Tochter bestens
vorgesorgt. Getrost kann sie am Kai stehen und dem nach Cornwall davonsegelnden
Schiff nachwinken.
Doch die wirklichen Verwicklungen beginnen gerade erst: Das Schiff
gerät in einen schrecklichen Sturm, einen Sturm, der die Reisenden
weit von ihrem geplanten Kurs in eine unbekannte Gegend des Meeres verschlägt.
Nur allzu schnell gehen die Trinkwasservorräte zur Neige und schon
müssen Tristan und seine Begleiter befürchten, elend zu verdursten,
als sie in der Ferne eine Insel erblicken.
Das Schiff legt am Ufer der Insel an, und Besatzung und Passagiere
machen sich auf die Suche nach einer Quelle. Das heißt, nicht alle
Passagiere, denn Isolde verspürt keine Lust auf die Teilnahme an einer
ermüdenden Suche und als seine zukünftige Königin befiehlt
sie Tristan, zu ihrem Schutz bei ihr zu bleiben. Der mag sich diesem Ansinnen
nicht verweigern, obwohl er spürt, daß dieser Wunsch zum guten
Teil aus der Enttäuschung der Isolde resultiert, daß nicht er
selbst sie um ihre Hand gebeten hat. Doch er macht gute Miene zum bösen
Spiel.
Nach einer Weile aber wird Isolde von einem schrecklichen Durst überfallen,
was nicht verwunderlich ist, denn die Wasserrationen sind in den letzten
Tagen schon klein genug gewesen. So weist sie Tristan an, überall
auf dem Schiff nach Trinkwasser zu suchen und wieder gehorcht er, wenn
auch ohne viel Hoffnung auf Erfolg, denn das letzte Wasser war vor dem
Landgang verteilt worden. Mehrfach will er aufgeben, doch immer wieder
ermahnt ihn Isolde, seine Suche fortzusetzen, sie auf die privaten Habseligkeiten
der Reisenden auszudehnen, denn werde nicht sie, Isolde, bald ihrer aller
Königin sein. Ein weiteres Mal folgt Tristan ihren Anweisungen und
er fängt gleich mit seinem eigenen Gepäck und dem seiner Begleiter
an - ohne Erfolg. Erst ganz zum Schluß macht er sich über die
Habseligkeiten der Isolde und ihrer Zofen her. Und da, zwischen den persönlichen
Gegenständen der Brangæne, der scheinbar so unschuldigen kleinen
Zofe, stellt er fest, daß diese doch ein winziges Fläschchen
mit einer offensichtlich trinkbaren Flüssigkeit gehortet hat.
Stolz bringt er die Phiole der Isolde. Gierig ergreift sie das Fläschchen
und will es schon an den Mund setzen, doch dann hält sie inne. Tristan
soll zuerst trinken, denn man weiß ja nie, ob das Fläschchen
nicht etwa Gift enthält. Und ein letztes, verhängnisvolles Mal
gehorcht Tristan. Und so trinken sie beide und ihr Schicksal ist besiegelt.
Bei Gottfried von Straßburg spielt sich das folgendermaßen
ab (zitiert nach Marold, Leipzig 1906: v.11687-11689; 11709/11711):
si tranc ungerne und über lanc
und gap do Tristande unde er tranc
und wanden beide, ez wære win.
(...) ouwe Tristan unde Isot,
diz tranc ist iuwer beider tot!
Neuhochdeutsch also:
Sie trank ungern und zu lange
und gab dann Tristan und er trank
und sie glaubten beide, es wäre Wein.
(...) O Weh, Tristan und Isolde,
dieser Trank ist Euer beider Tod!
Gottfried von Straßburg, wir dürfen nicht vergessen, ein
Geistlicher, läßt in seiner Version keine Gelegenheit aus, zu
betonen, was für eine scheußliche Sache die Liebe doch ist und
daß sie eigentlich nur in die Katastrophe führen kann. Und in
diesem Falle hat er auch recht, denn das Verhängnis ist nicht mehr
aufzuhalten. Als Tristan, Isolde und ihre Begleiter endlich doch noch in
Cornwall anlangen, haben sich die beiden Liebenden ihrer Leidenschaft hingegeben
und augenblicklich beginnen die Probleme:
Wenn wir uns erinnern: Tristan hatte die Aufgabe gehabt, in Irland
um die Hand der Jungfrau Isolde anzuhalten, und die Betonung liegt jetzt
auf Jungfrau. Die Jungfrau Isolde kann Tristan dem König nicht mehr
bringen; das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Jungfrau Isolde,
die gibt es nicht mehr. Was also tun: Tristans Blick fällt auf die
Zofe Brangæne. Ist nicht Brangæne die eigentlich Schuldige?
Hätte sie nicht den Zaubertrank auf dem Schiff zurückgelassen,
Tristan und Isolde hätten den Trank überhaupt nicht konsumieren
können. Also soll Brangæne jetzt helfen.
Die Hochzeitszeremonie ist vorüber. König Marke gefällt
die junge Prinzessin über alle Maßen. Tristan hat seine Schilderung
nicht übertrieben. Isolde dagegen kann an dem alten Herrn keinen sonderlichen
Gefallen finden. Ein Fest wird gefeiert in der Halle von König Markes
Burg und dann beginnt die Hochzeitsnacht. Nun müssen Tristan und Isolde
handeln. Es gelingt ihnen, anstelle der Isolde die Brangæne in das
abgedunkelte Hochzeitsgemach zu schmuggeln und so findet König Marke
das, was er erwartet hat, daß nämlich seine Gemahlin als Jungfrau
in die Ehe gegangen ist.
Tristan und Isolde aber tun in dieser Nacht kein Auge zu, allerdings
aus anderen Gründen als der König und seine vermeintliche Braut.
Am nächsten Morgen nämlich, wenn sich die Sonne über der
zerklüfteten Küste von Cornwall erhebt, wird der König natürlich
bemerken, daß die falsche Frau neben ihm im Hochzeitsbett liegt.
Noch vor Tagesanbruch müssen die beiden Damen ausgetauscht werden.
Und so klopft Tristan eine Stunde vor Tagesanbruch vorsichtig an die
Tür des Hochzeitsgemach, öffnet und fragt: Lieber Onkel, verläuft
Alles zu Eurer Zufriedenheit? - Ja, danke Tristan, kommt die Antwort, heute
nacht werde ich Deine Hilfe nicht brauchen.
Dann verabschiedet sich Tristan diskret und schließt die Tür,
denn dieser Augenblick hat genügt, damit Brangæne das Zimmer
verlassen und Isolde zum König ins Bett schlüpfen konnte. Den
Rest der Nacht verbringt König Marke nun tatsächlich mit seiner
Gemahlin, genau wie alle folgenden Nächte. Einen Unterschied hat er
niemals bemerkt. Brangæne geht währenddessen in ein Kloster,
denn auf eine standesgemäße Eheverbindung braucht sie nun nicht
mehr zu hoffen. Heutzutage würde Gottfried von Straßburg mit
dieser Geschichte ein reicher Mann werden, die Studios in Hollywood würde
sich um ihn reißen.
Für unser Thema, für den Minnesang aber wird es jetzt erst
richtig interessant, denn von Stund an herrscht auf König Markes Burg
nun das Leben einer jeden höfischen Gesellschaft: Beim abendlichen
Fest treten Artisten und Gaukler auf und am Ende erhebt sich Tristan. Er
tritt vor die Gesellschaft hin und beginnt mit dem Vortrag eines Minneliedes:
Oh Herrin Isolde, Ihr seid so wunderschön. Euer Haar ist blond, Eure
Lippen sind rot, Eure Augen sind blau, Eure Haut ist weiß, Euer Hals
ist schlank und wohlgeformt und Eure Hände sind einfach verehrungswürdig.
Und auch Eure Tugend kann man nicht hoch genug loben. Ach, wie gerne würde
ich mit Euch kosen, am liebsten heute Abend um acht unter der alten Eiche.
Und König Marke hört sich das an und er nickt beifällig
und denkt sich dabei: Ach der gute Junge, eigentlich meint er es ja nur
gut mit mir. Denn er kann ja nicht ahnen, daß am Abend um acht sich
die beiden Liebenden tatsächlich heimlich treffen und sich ihren Begierden
hingeben.
Die Tristan-Geschichte endet am Ende dann aber tatsächlich tragisch.
Tristan und Isolde werden verraten, Tristan muß fliehen und findet
ein kurzzeitiges Glück in den Armen einer anderen Isolde, der Isolde
Weißhand (wieder eines jener so gelobten Attribute weiblicher Schönheit),
am Ende aber, als er im Sterben liegt, sehnt er sich dann doch nach "seiner"
Isolde, König Markes Gemahlin mit dem goldenen Haar, die dann aber
zu spät kommt und tot über seinem Körper zusammenbricht.
Da klärt nun Brangæne alles auf und König Marke verzeiht
den Liebenden - wovon diese nun natürlich auch nichts mehr haben,
aber immerhin läßt er sie Seite an Seite beisetzen.
Gottfried von Straßburg hat den Tristan übrigens nicht mehr
selbst zu Ende bringen können, aber er hat verschiedene Fortsetzer
gefunden und die Geschichte ist uns eben auch aus vielen anderen Quellen
überliefert, in Deutschland ebenso wie in Frankreich.
Worauf es in der Tristan-Geschichte ankommt, daß die Minnesituation
des Liedes hier eben nicht nur Pose ist, daß die Höfische Liebe
zumindest in einem höfischen Versepos durchaus erfüllt.
Mit Lanzelot und Ginover verhält es sich etwas anders. Die Entschuldigung
"nicht zurechnungsfähig" besteht hier nicht. Lanzelot, der edle und
mit ritterlichen Tugenden zuhauf gesegnete Ritter, er vermag sich der erotischen
Attraktion der Königin nicht zu verweigern.
Der Höfische Roman zelebriert hier also keineswegs das "als ob",
er feiert das "es geschieht".
Sicherlich, die Ereignisse münden letztendlich jeweils in die
Katastrophe, niemand wird das ernsthaft bestreiten wollen, doch das ändert
nichts an der Tatsache, daß das Minnebedürfnis eben nicht Vision
bleibt, sondern daß die Liebenden ihre erotischen Wünsche in
die Tat umsetzen. Die Vereinigung der Liebenden wird nicht allein im Vortrag
vor der Kulisse des höfischen Festes ersehnt, nein, sie wird - wenn
sie so wollen als Variation des vorgegebenen Themas - in der Realität
des höfischen Romans verwirklicht.
Bis in unsere Zeit wird daher über Erfüllbarkeit und Unerfüllbarkeit
von Minne heiß debattiert und gestritten. Wir können diese Frage
nicht endgültig beantworten
Die Rolle der Frau
Eine andere Frage aber muß an dieser Stelle aufgeworfen werden:
Bisher sah es so aus, als habe die höfische Dame, vor den Augen und
Ohren der höfischen Gesellschaft verehrt und gepriesen - ob sie wirklich
so weißhäutig, so blond, so blauäugig und rotlippig war,
scheint übrigens eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben
- ein recht angenehmes Leben geführt. Wenn wir nun aber erfahren,
daß der Adressat all dieser Lobpreisungen im Grunde ihr Ehemann war,
so stellt sich doch die Frage, wie das Leben einer höfischen Dame
in der Realität aussah. Wohlgemerkt: Das Leben einer höfische
Dame. Was die einfachen Frauen, mittelhochdeutsch "wîben" genannt,
anbetraf, betrieben die Minnesänger weniger Aufwand. Da war es nicht
nötig, erst lange zu werben, um dann wahrscheinlich doch nichts gewährt
zu bekommen. Daß das Interesse der Minnesänger an "armen wiben"
jedenfalls beträchtlich war, zeigt etwa ein Lied des Hartmann von
Aue. In diesem heißt es:
"Sag Hartmann gen wir schouwen, ritterliche
frouwen."
darauf die Antwort:
"Ich mac mir baz vertrîben die zît mit armen wîben."
Auf neuhochdeutsch etwa die Frage an Hartmann:
"Sag, Hartmann, wollen wir die höfischen Damen bewundern.",
darauf seine recht eindeutige Antwort:
"Ich mag mir die Zeit lieber mit armen Frauen vertreiben."
Denn wohin ich auch komme, so fügt er hinzu, von denen gibt es überall genug. Und singt nicht auch Walther von der Vogelweide:
"Ich wil mîn lob keren an wîben die kunen danken".
"Ich will die Frauen loben, die wissen wie man sich bedankt."
Und es erfordert keine allzu große Fantasie, sich auszumalen,
welchen Lohn Walther sich da vorstellte. Einfachen Frauen gegenüber
mußte also nicht die Rücksicht walten, die den höfischen
Damen, sei die Minne nun erfüllbar oder unerfüllbar, jedenfalls
angebracht erschien. Nicht selten scheint es zu dem etwas merkwürdig
anmutenden Arrangement gekommen zu sein, daß eine höfische Dame,
die die Wünsche eines Minnesängers nicht erhören wollte
(oder durfte) diesem sozusagen als Ersatz ihre Kammerzofe für die
Nacht überließ. Das wurde als kleine Gefälligkeit betrachtet
und ist auch in der höfischen Literatur, nämlich wiederum im
Tristan, bezeugt: Da muß Brangaene, die Zofe der Isolde, kurzfristig
für ihre Herrin einspringen, damit Isoldes Bräutigam nicht bemerkt,
daß seine frisch angetraute keine "juncfrouwe" mehr ist.
Und daß die Ritter mit den „armen wiben“ nicht eben zimperlich
umgingen, ist uns allenthalben bezeugt. So heißt es etwa in einer
Handschrift aus dem Kloster von Benediktbeuren, den legendären, in
Teilen von Carl Orff neu vertonten Carmina Burana:
„Er graif mir an den wizen lîp
non absque timore,
er sprah: „ich mache dich ein wîp,
dulcis et cum ore!“
Er warf mir uof daz hemdelin
Corpore detecta,
er rante mir daz purgelîn
cupide erecta.“
In meiner neuhochdeutschen Übertragung heißt das etwa:
„Er griff mir an den weißen Leib
nicht ohne Angst und Bangen.
Er sprach: „Ich mache dich zum Weib,
nach Dir geht mein Verlangen.“
So warf er hoch mir das Gewand,
entblößt des Leibes Zierde,
hat mit dem Spieße mich gerammt
in tierischer Begierde.“
Schreckliche Taten! So etwas müßte doch, wenn wir von heutigen
Maßstäben ausgehen, hart bestraft worden sein. Das Mittelalter
aber denkt anders. Derartige Gewalttäter, nun, sie finden vielleicht
nicht unbedingt den ungeteilten Beifall der höfischen Gesellschaft,
doch daß man sich voller Abscheu von ihnen abwendet, davon ist auch
nichts zu spüren. So heißt es über den 1196 verstorbenen
Herzog Konrad von Schwaben, einen Sohn Kaiser Friedrich Barbarossas:
„Er war ein Mann, der sich gänzlich dem Ehebruch, der Hurerei,
der Schändung und jeglichen Schwelgereien und Unzüchtigkeiten
hingab. Weiterhin war er tüchtig und kühn im Kampf und freigebig
gegenüber seinen Freunden.“
Das sind Widersprüche innerhalb ein und derselben Person, die
das Mittelalter ganz einfach nicht als Widersprüche empfunden hat.
Der Markgraf Opizo von Este in Norditalien etwa verliert im Jahre 1240
bei einem Turnierkampf, in dem er für die Ehre einer wunderschönen
jungen Dame in die Schranke getreten war, ein Auge. Es ist der einzige
verbürgte Fall dieser Art im gesamten 13. Jahrhundert. Markgraf Opizo
von Este also das Idealbild eines mittelalterlichen Ritters und Frauenschützers?
Kaum, denn der gleiche Chronist berichtet von dem gleichen Mann: „Es wurde
von ihm behauptet, daß er die Töchter und Ehefrauen sowohl der
Vornehmen, als auch der einfachen Leute in Ferrara vergewaltigte. Er stand
sogar in dem Verdacht, mit seinen eigenen Schwestern und den Schwestern
seiner Frau verkehrt zu haben.“
Wirklich vorbildlich verhalten sich die höfischen Ritter dagegen
nur in der Literatur: Keinem geringeren als Hartmann von Aues Iwein, dem
berühmten Artusritter, gelingt es wahrhaftig, eine ganze Nacht mit
einer ihm nicht verwandten Dame in ein und dem selben Zimmer zu verbringen,
ohne über sie herzufallen. Eine für mittelalterliche Männer
offenbar schier unglaubliche Vorstellung; jedenfalls bemerkt Hartmann von
Aue dazu: „Wer sich nun darüber wundert, der weiß nicht, daß
ein anständiger Mann sich alles dessen enthalten kann, dessen er sich
enthalten will. Doch gibt es, weiß Gott, deren nur sehr wenige.“
Gawein, Iweins Kollege in König Artus Tafelrunde, gehört jedenfallls
nicht dazu, so berichtet jedenfalls der Minnesänger Wirnt von Grafenberg:
„Einer schönen Jungfrau tat er gegen ihren Gewalt an, so daß
sie weinte und schrie.“
Der Einzige, auf den dann wirklich noch Verlaß ist, das ist König
Artus selbst. Als dieser, wie uns in Wolfram von Eschenbachs Parzival erzählt
wird, dahinterkommt, daß der Ritter Urians eine vornehme Jungfrau
vergewaltigt hat, will er ihn zunächst kurzerhand aufhängen lassen.
Erst auf die Fürbitte der wunderschönen Königin Guinevere
hin begnadigt er Urians dazu, vier Wochen lang mit der königlichen
Hundemeute aus einem Abfalltrog fressen zu müssen.
Das waren wiederum Frauen in der Literatur, doch wie erging es nun wirklich
einer Frau, aus den höchsten Kreisen der mittelaterlichen Gesellschaft,
wie sah das tatsächliche Leben einer "frouwe" des Minnesangs aus?
Von Liebe jedenfalls war bei den hochadeligen Eheschließungen
des Mittelalters eher selten die Rede. Oft genug bekam die Braut ihren
Bräutigam noch nicht einmal während der Hochzeitszeremonie zu
sehen. Noch Jahrhunderte nach der Blütezeit des Minnesangs sprach
man von einem Ehevollzug "in procuratio" wie er etwa im Jahre 1514 zwischen
der achtzehnjährigen Maria Tudor, der Schwester des englischen Königs
Heinrich VIII., und dem für mittelalterliche Verhältnisse greisen,
zweiundfünfzigjährigen König Ludwig XII. von Frankreich,
vorgenommen wurde: König Ludwig war schwerkrank, gebrechlich und litt
unter Gicht, daher bestieg sein Bevollmächtigter Longeville, Marquis
von Rothelin, im Namen des Königs das Ehebett und berührte unter
der Decke mit seiner nackten Wade die nackte Wade der Prinzessin. Damit
galt die Ehe zwischen Maria und Ludwig als vollzogen. Ludwig XII. starb
erwartungsgemäß einige Monate später. Nun war der Weg frei
zu einer der wenigen tatsächlich auf Liebe basierenden Verbindungen
in der Geschichte mittelalterlichen Herrschergeschlechter: Im Mai 1515
wurde die Ehe zwischen Maria und ihrem Geliebten Charles Brandon, dem Herzog
von Suffolk, vollzogen - diesmal natürlich auf die herkömmliche
Weise.
Von der 1270 gestorbenen Margarethe, der Tochter Kaiser Friedrichs
II., wissen wir, daß sich das Verhältnis zu ihrem Ehemann, dem
Markgrafen Albrecht dem Entarteten von Meißen, eher unerquicklich
gestaltete, daß sie schwer mißhandelt und in aller Öffentlichkeit
betrogen wurde, bis ihr nichts anderes mehr blieb als die Flucht in ein
Kloster, wo sie bald darauf starb. Das Kloster war die einzige Alternative
zur Ehe, doch natürlich nahmen die Klöster in der Regel nur unverheiratete
Frauen auf, der Fall der Kaisertochter hatte bestimmte Begleitumstände.
Die Engländerin Christina von Marykate etwa leistete im 12. Jahrhundert
bereits als Kind ein Keuschheitsgelübde, das von den Eltern aber nicht
weiter beachtet wurde. Als sie sich den Zudringlichkeiten des Bischofs
Ralph von Durham aus Durham County, der Heimat des Popsängers Tom
Jones, mit dem unser Bischof auch in seinem, nun, Temperament, gewisse
Ähnlichkeit aufweist, verweigerte, bewog dieser die Eltern dazu, ihre
Tochter mit Gewalt zur Ehe zu zwingen. Unter abenteuerlichen Umständen
gelang es der gottesfürchtigen Christina auch jetzt, ihre Keuschheit
zu bewahren, obwohl die Eltern versuchten, sie gerade mit ihrer Frömmigkeit
zu erpressen. Wenn sie nicht an abendlichen Orgien teilnähme, die
sie in Bezug auf körperliche Liebe auf den Geschmack bringen sollten,
verboten sie ihr, am folgenden Tag den Gottesdienst zu besuchen.
Schließlich floh auch Christina und verbrachte den Rest ihrer
Tage als Einsiedlerin in der Wildnis.
Das Leben in den Klöstern war hart und zum Teil entbehrungsreich.
In mancher Hinsicht war dem eine Ehe vorzuziehen. Selbst ein wenig Bildung
wurde einer verheirateten Dame zugestanden: Die Bibel sollte sie lesen
können, sich auf das Handarbeiten verstehen und vor allem sollte sie
charmant plaudern können, insbesondere die Tapferkeit und höfische
Gesinnung der Männer bewundern. Aber diese Gespräche durften
nie zu ernsthaft werden, Beteiligung an den Staatsangelegenheiten etwa
wurde Frauen in der Regel nicht zugestanden, auch wenn wir eine Reihe von
Ausnahmen wie die schon genannte Eleonore von Aquitanien, ihre Enkelin
Blanca von Kastilien oder Constanze d'Hauteville, die Mutter Kaiser Friedrichs
II., kennen.
Die Vorschriften an adlige junge Damen waren streng. Oberste Instanz
bei Streifällen waren zumindest in Frankreich die sogenannten „Liebeshöfe“,
deren bekanntestem keine geringere als Eleonore von Aquitanien herself
vorstand: Welchen höfischen Ritter junge Damen denn nun erwählen
sollten, wurde Eleonore zum Beispiel gefragt, wenn ein junger, über
beleumundeter Mann und ein alter, aber mit allen Tugenden geschmückter
um sie würben? Natürlich solle sie sich für die Tugend und
nicht für die Jugend entscheiden. Naja, das gibt einem ja noch Hoffnung.
Hauptaufgabe der Frauen war die Bestätigung der männlichen
Eitelkeit. Selbst wenn sich die Dame dem Minnesänger verweigerte,
wurde daraufhin nicht primär ihre Tugendhaftigkeit gelobt, sondern
es war Teil der Minnesänger-Pose. Gerade in der Erfahrung der Zurückweisung
erlebte der Minnesänger seine Disziplinierung zu einem Mann von Welt.
Er wurde gerade durch diese Erfahrung zu einem bewunderten Mitglied der
Gesellschaft. Einige Mediävisten haben dies auf die Spitze getrieben
und dem Minnesang eine neurotische oder gar eine masochistische Komponente
unterstellt. Ist letzteres nicht mehr zu überprüfen, so sind
dagegen psychologische Momente im Werk einiger Minnesänger doch überraschend
deutlich sichtbar.
In Wahrheit aber haben wir es hier mit mehr oder minder feststehenden
Verhaltensmustern zu tun, einer Lebenseinstellung, die von Fall zu Fall
mit Leben erfüllt wurde. Die Minnesangkultur war ein "Liebesspiel"
im wahrsten Sinne des Wortes, die Freizeitbeschäftigung der Reichen
und Schönen des Mittelalters, der "High Society" und "Jeunesse Doree".
Das konnte durchaus auch jene Romeo-und-Julia-haften, riskanten Balkonkraxeleien
beinhalten, wie wir sie in der Manessischen Liederhandschrift in der Darstellung
des Grafen Kraft von Toggenburg bewundern können. Andererseits gab
es aber vor allem im 14. Jahrhundert auch genug Minnesänger, die von
derlei nichts wissen wollten. So sang etwa der 1353 verstorbene Minnesänger
Reinhart von Westerburg am Hofe Kaiser Ludwigs des Bayern:
„Ob ich durch si den Hals zubreche,
wer reche mir den schaden dan?“
Auf neuhochdeutsch:
„Wenn ich mir ihretwegen den Hals breche,
wer zahlt mir dann den Schaden.“
Der Kaiser soll sich hierüber jedoch nach Aussage der zeitgenössischen
Limburger Chronik sehr aufgeregt und den Minnesänger gezwungen haben,
sich für seine Ausfälle zu entschuldigen.
Immerhin, so fragwürdig die Aufwertung der höfischen Dame
in der Welt des Minnesangs erscheinen mag, so ist sie doch als Fortschritt
zu verbuchen gegenüber der Frühzeit des Mittelalters, als Alkuin,
der große Gelehrte am Hofe Karls des Großen seine Leser vor
den „gekrönten Tauben, die in den Räumen des Palastes herumfliegen.“
warnte - gemeint waren die Töchter des Kaisers - und die Chronisten
über das „beschmutzte kaiserlicheLager“ jammerten.
Die Entstehung des Minnesangs
Gattungen, Liebeshof der Eleonore
Der Minnesang wurde, wenn wir so wollen, geboren in Frankreich, im Oeuvre
der Troubadours und Trouveres. Ihre Vorbilder finden sich in der Kultur
der Muslime in Spanien. Sogar die Bezeichnung „Troubadour“ ist aus dem
Arabischen abgeleitet. In der Sprache des Propheten Mohammed bedeutet „tarraba“
soviel wie „Singen“ oder „Musizieren“. Eine besondere Brisanz erhält
das muslimische Vorbild aus der Tatsache, daß in der christlichen
Minnesangkultur der Kampf gegen die Heiden, und gemeint waren damit immer
zuerst die Moslems, eine der vornehmsten Pflichten des christlichen Ritters
und Minnesängers war. Das „Kreuzlied“ etwa war neben dem „Tagelied“
und der bloßen Frauenlob eine dritte wichtige Gattung innerhalb des
Minnesangs, in der der Minnesänger mit sich selbst einen schweren
Kampf auszutragen hatte, ob er die Liebe zu seiner „frouwe“ an erste Stelle
stellen und in ihrer Nähe bleiben sollte oder ob der Liebe zu Gott
der Vorzug zu geben wäre, ob also der Aufbruch zu einem Kreuzzug angesagt
war.
Der Frauendienst, der Gottesdienst - eine für heutige Augen etwas
ungewöhnliche Art von Gottesdienst zweifellos - und der Herrendienst,
sie waren die drei Abhängigkeiten und Verpflichtungen des höfischen
Ritters und viele dieser Ritter litten, wie eben gezeigt, auch sehr im
Spannungfeld dieser Erwartungen. Schuld war aber wie üblich die „frouwe“,
denn sie war es ja schließlich, die den Ritter von seiner christlichen
Kreuzzugspflicht abhielt.
Mochten muslimische und spanische Vorbilder Vorläufer gebildet
haben, der "Liebeshof" der Eleonore von Aquitanien aber war das Sprungbrett,
von dem aus sich die Minnesang-Kultur im 12. Jahrhundert über ganz
Europa ausbreitete. Andreas Capellanus, Chretien de Troyes, der Verfasser
der altfranzösischen Artus-Epen, Guillaume le Marechal, der als idealer
Ritter und Minnesänger angesehen wurde und Eleonores Sohn, der spätere
englische König Richard Cœur de Lion, Richard the Lionheart, zu deutsch
Richard Löwenherz, sie alle waren dort Zeitgenossen.
Wenn wir uns um einen Vergleich in unseren Tagen bemühen, so kommt
der Eleonore Jackie Kennedy-Onassis sehr nahe. Beide waren sie nacheinander
mit zwei überaus einflußreichen Männern verheiratet. Beide
waren sie so etwas wie modische Vorreiter und für beide war der Hof
des Königs Artus ein bedeutendes Vorbild: An Eleonores Hof in Poitiers
entstanden die Artusepen des Chretien de Troyes und der innere Zirkel der
Vertrauten um John F. Kennedy wurde auch als "Camelot" bezeichnet. Eleonore
ist eine Frau, die noch heute fasziniert, doch auch in ihrer eigenen Zeit
rankten sich bereits sagenhafte Geschichten um diese erstaunliche mittelalterliche
Dame: An der Spitze einer ganzen Kompanie barbusiger Amazonen sei sie auf
den Kreuzzug gegen die Stadt Damaskus ausgeritten. Was aber ganz Europa
am meisten faszinierte an dieser Frau, das war die bewunderte Minnesang-Kultur
ihres Hofes. Dies war ein Ideal, das in ganz Europa für Furore sorgte.
Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert versuchte auch in Deutschland
jeder Fürstenhof diesen "Liebeshof" zu kopieren.
Manessische Liederhandschrift
Was wir über die deutsche Minnelyrik dieser Zeit wissen, haben wir einigen wenigen Handschriften zu verdanken, deren berühmteste zu Recht die famose "Manessische Liederhandschrift" ist, die wohl in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts im Auftrage der Züricher Patrizierfamilie Manesse entstand und die Lieder von insgesamt 144 Minnesängern sowie in kostbaren Malereien deren Porträts versammelt. Angefangen mit berühmten Persönlichkeiten wie Kaiser Heinrich VI. oder dem tragischen letzten Staufer Konradin überliefert diese Handschrift nach ihrer Reihenfolge innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie auch die Minnelieder bedeutender Minnesänger wie Walther von der Vogelweide, Tannhäuser oder Frauenlob. Wir wissen nicht, ob diese Minnelieder erst damals, etwa einhundert Jahre nach ihrer Entstehung erstmals, schriftlich festgehalten werden oder ob wir mit verlorenen schriftlichen Vorlagen rechnen müssen. Gemeinsamkeiten mit anderen etwa gleichzeitigen Handschriften lassen vermuten, daß wir in der Tat Verluste zu beklagen haben.
Früher und „klassischer“ Minnesang
Die erste Generation deutscher Minnesänger wird durch Männer
wie den Kürenberger, Friedrich von Hausen, Reinmar den Alten und Heinrich
von Morungen verkörpert. Zunächst zögernd wird auch der
Versbau der provencalisch-aquitanischen Schule des Eleonore Hofes übernommen,
vor allem aber die "Hohe Minne" ist es, die diese Männer in ihren
Bann zieht: Die edle Frau ist für den Sänger unerreichbar. Er
darf ihre Vorzüge loben, doch eine Erfüllung der Liebessehnsucht
ist unmöglich.
Nach einigen Jahrzehnten aber beginnt das Leid der unerfüllten
Liebe zum Topos zu werden, zum bloßen Versatzstück der Minnedichtung.
Formen und Inhalte nutzen sich ab im Laufe der Zeit, manchmal geht das
sehr schnell, manchmal finden wir dieselben alten Bilder noch nach Jahrhunderten.
Wenn um 1190 Heinrich von Morungen singt:
"Vrouwe, mine swaere sich,
e ich verliese minen lip.
Ein wort du spraeche wider mich:
Verkere daz, du saleic wip!
Du sprichest iemer neina neina nein,
neina neina nein
daz brichet mir min herze enzwein.
Maht du doch eteswenne sprechen ja,
ja ja ja ja ja ja ja?
daz lit mir an dem herzen na."
Du sagst nein, nein, nein, das zerbricht mit das Herz, dann ist diese
Metapher, ist dieses Bild was die volkssprachliche deutsche Dichtung anbetrifft
noch neu und unbekannt. Wir sollten uns hüten, das damit zu vergleichen,
wenn in unserer Zeit, nach mehr als achthundert Jahren deutschsprachiger
Liebesdichtung ein Howard Carpendale singt:
"Sie sagt no, no, no und das macht mich nicht froh."
Doch auch bereits die mittelalterlichen Dichter empfanden die mangelnde
Variationsmöglichkeit in der Poesie des Minnesangs. Dennoch verpflichtete
nach wie vor der "klassische" Minnesang. Wobei das Wort Klassik für
uns nicht geringe Risiken birgt, steht doch eine ganze Doktrin dahinter,
die davon ausgeht, daß auf die Klassik eine Phase des Epigonentums
und des Verfalls folgen muß. Alles was nach der Klassik des Minnesangs
anzusetzen ist, wäre demnach per definitionem minderwertig.
Minderwertig aber ist ein Adjektiv mit dem wir das Werk des Mannes
auf keinen Fall versehen, welcher um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert
zum großen Erneuerer des deutschsprachigen Minnesangs wurde. Und
- Sie ahnen es bereits - ich spreche von keinem geringeren als Walther
von der Vogelweide.
Walther von der Vogelweide
Wenn wir bedenken, als wie einflußreich die Minnedichtung Walthers
von der Vogelweide sich erwiesen hat und mit welcher Inbrunst das Leben
dieses wohl bedeutendsten Minnesängers deutscher Zunge seit bald zweihundert
Jahren untersucht und erforscht worden ist, dann muß es eigentlich
verwundern, wie wenig im Vergleich noch immer über die Biographie
des Menschen Walther bekannt ist.
Wir kennen weder Zeitpunkt und Ort seiner Geburt noch seines Todes.
Wir wissen auch nicht genau, welcher sozialen Schicht er entstammte, auch
wenn bestimmte Selbstaussagen in seinen Liedern es sehr wahrscheinlich
machen, daß er entweder ein Ministerialer, ein kleiner ritterlicher
Dienstmann, oder überhaupt kein Mann von Adel war. Ein einziges Mal
nur können wir Walther von der Vogelweide als historische Persönlichkeit
fassen, in einer Spesenrechnung des Bischofs von Passau aus den ersten
Jahren des 13. Jahrhunderts..
Walther von der Vogelweide: Seine Geburt können wir vielleicht
gegen 1170 ansetzen, seinen Tod gegen 1230, wobei wir uns darüber
im Klaren sein müssen, daß wir in beiden Fällen ohne weiteres
zehn Jahre danebenliegen können. Wo ist Walther von der Vogelweide
geboren: In Franken? In Südtirol? Im Innviertel? Es gibt höchst
unterschiedliche Theorien. Aus dem Inhalt seiner Lieder und Sprüche,
unserer Hauptquelle für Walther-Informationen, können wir leider
nichts entnehmen, erfolgversprechender erscheint da schon die Form dieser
Gedichte, insbesondere die Spuren von Dialekt, so es uns gelingt, den ursprünglichen
Walther-Dialekt herauszufiltern, denn auch für Walther von der Vogelweide
gilt, daß einhundert Jahre vergingen, bis diese Gedichte schriftlich
aufgezeichnet wurden und in einem Jahrhundert mündlicher Tradierung
waren sie beinahe mit Sicherheit tiefgreifenden Veränderungen unterworfen.
Der Dialekt mittelalterlicher Literatur findet sich in den gemeinhin
zugänglichen Ausgaben nur unvollkommen wieder. Um eine Lesbarkeit
in Studentenkreisen - es ist gespenstisch: man scheint von Seiten der Herausgeber
offenbar davon auszugehen, niemand werde den Walther "freiwillig" lesen
- zu gewährleisten, ist das Mittelhochdeutsch des 13. Jahrhunderts
für diese Ausgaben immer wieder "normalisiert" worden, das heißt,
es wurde eine mit unserem dudenkorrekten Neuhochdeutsch vergleichbare Kunstsprache
geschaffen, die aber im Mittelalter so überhaupt nicht existiert hat.
Dialekt und Goethe
Der Minnesang Walthers war dialektgeprägt, möglicherweise
stärker noch als unsere heutige mundartliche Dichtung. Wir müssen
durchaus mit dem Gedanken anfreunden, daß ein Lied, das Walther von
der Vogelweide am Babenberger Hof in Wien gesungen hat, etwa am Welfenhof
in Braunschweig nicht vollständig verstanden worden wäre. Die
Bedeutung der Dialekte in der Geschichte der deutschen Literatur wird meines
Erachtens bis in unsere Zeit noch nicht ausreichend gewürdigt. Weit
über das Mittelalter und die vorgebliche "Erfindung" der gesamtdeutschen
Sprache im Zuge der Lutherschen Bibelübersetzung blieb die deutsche
Literatur dialektgeprägt.
Noch Goethe reimt "Neische, du schmerzensreische.", ein in der Hochsprache
unmöglicher Reim, nicht aber in dem fürchterlichen Frankfurter
Dialekt, den dieser große Geist gesprochen hat. Ja, noch viel ärger:
Noch auf dem Totenbett, so ist ernsthaft vermutet worden, habe Goethe nicht,
wie von Eckermann berichtet als letzte Worte "Mehr Licht" gesprochen, sondern
er habe vielmehr "Meh' lischt" gesagt. Und damit haber er nicht etwa ausdrücken
wollen "Ich brauche mehr Licht", sondern er habe beabsichtigt, den Satz
"Meh' lischt nicht meh am Lebbe!" zu formulieren, "Mir liegt nichts mehr
am Leben!", er sei nur nicht mehr damit fertig geworden. Wie dem auch sei,
das ganze ist ohnehin nicht viel mehr als eine nett gemeinte Legende, waren
doch Goethes letzte Worte weder "Mehr Licht!" noch "Meh Lischt", sondern
"Geb mir doch mal einer das Pinkeltöpfsche.", doch das konnten die
Goethe-Biographen dem großen Literaten einfach nicht zumuten.
Walther, Reinmar und die „sumerlaten“
Im Waltherschen Oeuvre jedenfalls spielt der Dialekt eine noch viel
bedeutendere Rolle als in den Werken des Wahl-Weimarers. Dennoch läßt
sich seine Heimat nicht eindeutig ermitteln. Wir kennen jedoch die Stätte
seiner ersten Wirksamkeit. Es handelte sich um den Hof der mächtigen
Herzöge von Österreich aus der Familie der Babenberger in Wien.
Als junger Mann sang Walther dort offenbar einen recht konventionellen
Minnesang.
Er war allerdings nicht der einzige Minnesänger an diesem Hof.
Zu einem Mann, der wohl eine Generation älter war als Walther, Reinmar
dem Alten nämlich, bestand möglicherweise eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis,
das später dann in eine Rivalität umschlug. Zeitweise sind diese
Tatbestände ziemlich übertrieben worden, viele Lieder Walthers
und Reinmars wurden auf diesen Zwist hin ausgelegt, doch sicher sein können
wir uns nur bei einigen wenigen Liedbeispielen. Der "Sängerkrieg auf
der Wartburg", der von späteren Generationen als legendenumwobene
Ausschmückung dieser Geschehnisse zusammenfabuliert wurde, ist jedenfalls
kein historischer Bericht sondern selbst ein Werk der fiktionalen Literatur.
Wie aber haben wir uns so einen "real existierenden Sängerzwist"
vorzustellen? Haben sich die beiden Minnedichter in ihren Werken gegenseitig
verhöhnt und beleidigt? Nein, es sah doch etwas anders aus: Wenn Reinmar
etwa wieder einmal die Schönheit einer Dame besang und diese über
alle anderen Damen hervorhob, wenn er seine eigene Minderwertigkeit betonte
und die so ungeheure Überlegenheit der Dame über alle Maßen
betonte, wenn er sich eine Existenz ohne diese Dame gar nicht mehr vorstellen
konnte, wenn er also sang:
"Stürbe si, so bin ich tot.",
dann schlug Walther einen ganz neuen Weg ein, er löste sich von
den schon traditionellen Minnesangkonzepten des puren Frauenlobes und der
Unterordnung des Mannes. Walther griff dann den "Ton", also das Schema,
die Metrik, die Melodie Reinmars auf und betonte zur Klimax seinesVortrages:
"Stürbe ich, so ist si tot."
Wenn er, Walther, nicht mehr das Lob einer angebeteten Dame singe,
so würde niemand am Hofe diese Dame mehr verehren, niemand mehr ihre
Schönheit und Tugend preisen; sie wäre somit wirklich gesellschaftlich
"tot". Der Sängerzwist zwischen Reinmar und Walther ist also nicht
allein ein Streit um Lohn und Brot am Wiener Hof, sondern auch ein Streit
divergierender Auffassung darüber, was Minnesang eigentlich ist.
Walther aber ging noch weiter als in diesem Beispiel. Ein Höhepunkt
seiner neuen Sicht der Minne ist etwa das sogenannte "sumerlaten-Lied",
in dem er eine Dame kritisiert, die ihn, obwohl er sie immer gelobt und
gepriesen hat, nun nicht mehr beachtet. Soll er ihr dennoch auch weiterhin
sein Lob widmen?
Sol ich in ir dienste werden alt
die wile junget si niht vil
so ist min har dan also lihte von gestalt
daz si einen jungen danne wil.
selfiu got, her junger man,
so rehet mih und get ir alten hut mit sumerlaten
an.
Wenn ich altere in ihrem Dienst, wird sie dabei auch nicht jünger,
das wollen wir einmal feststellen. Und wenn sich mein Haar dann lichtet,
so daß sie einen Jüngeren will, dann sei Gott auf Eurer Seite,
dann rächt mich und verdrescht sie ordentlich mit sumerlaten, mit
dünnen Gerten, daß es so richtig weh tut.
Stellen wir uns hier die Reaktion des kultivierten Babenberger Hofes
vor, als dieses Gedicht vorgetragen wird. Stellen sie sich vor, daß
dieser Hof die ritualisierten, überaus verfeinerten Lieder der
Reinmar-Generation gewohnt ist, stellen sie sich vor, wie die Herzogin
zwischen ihren Damen sitzt und womöglich fühlt sie sich angesprochen!
Ich sage, stellen sie sich das vor, denn wir wissen nicht, wie dieses
Gedicht in Wien aufgenommen wurde, genauer gesagt wissen wir nicht einmal,
ob Walther es gewagt hat, es dort überhaupt vorzutragen, was wir aber
wissen, ist, daß Walther es auf einmal sehr eilig hatte, aus Wien
zu verschwinden. Allerdings muß ich hinzufügen, daß hier
neben Kritik an seinem "neumodischen" Minnesang mit Sicherheit auch andere
Faktoren eine Rolle gespielt haben, so etwa der überraschende Tod
Herzog Leopolds auf seinem Kreuzzug.
In seiner Frauenschelte konnte sich Walther übrigens in eine altehrwürdige
Tradition stellen, die es mit Minnesang ohne weiteres aufnehmen kann. So
hat schon sein und Andre le Chappelains großes Vorbild Ovid in seinen
„Remedia Amoris“, den „Heilmitteln gegen die Liebe“, tatkräftige Ratschläge
gegeben, wie man verhindern könne, sich aus Liebe allzusehr an eine
Frau zu binden:
„Wo du es kannst, verkehre die Vorzüge des Mädchens in Nachteile
und verfälsche dein Urteil ein wenig. Aufgeschwollen nenne sie, wenn
sie üppig ist; ist sie dunkel, nenne sie schwarz. Ist sie schlank,
so kannst du ihr Magerkeit zum Vorwurf machen.“
Wanderzeit und „politische Lyrik“
Walther, der offenbar kein sicheres Auskommen aus reichem Landbesitz
im Rücken hatte wie viele seiner Sängerkollegen, war also nun,
in den Jahren 1197/98 ein Minnesänger ohne feste Anstellung, er mußte
sich, um überleben zu können einen neuen Dienstherren finden.
Wir wissen, daß er weit herumgekommen ist, denn er berichtet davon
in seinen Liedern:
In Meißen ist er gewesen und am Hof des Landgrafen von Thüringen,
der sich zu dieser Zeit noch in der Stadt Eisenach befand und nicht auf
der nahegelegenen Wartburg auf die dann in der Sage der Sängerkrieg
verlegt wurde, am Hof des Grafen von Katzelnbogen, im Gefolge des Erzbischofs
Engelbert von Köln, vor allem aber am Hofe des Königs.
Nun war die Zeit der Wirksamkeit Walthers von der Vogelweide in Deutschland
eine überaus finstere, von schweren Bürgerkriegen zerrissene
Epoche. Noch wenige Jahre zuvor hatten die römischen-deutschen Kaiser
einen Höhepunkt ihrer Macht erlebt. Kaiser Heinrich VI., der älteste
Sohn Friedrich Barbarossas hatte 1194 das Erbe der normannischen Könige
im süditalienisch-sizilischen Königreich antreten können
und es sah so aus, als würde er auf einem gewaltigen Kreuzzug auch
das Heilige Land in sein gewaltiges Reich einfügen können. Doch
dazu sollte es nicht kommen: Heinrich VI. starb im September 1194 unter
ungeklärten Umständen in Messina und fast augenblicklich brach
die Machtstellung seiner Familie, der Hohenstaufen, in Italien zusammen.
In Deutschland sah sich nun Heinrichs jüngster Bruder, Philipp, Herzog
von Schwaben, vor die Aufgabe gestellt, die Nachfolge für seinen erst
zweijährigen Neffen, den noch in Italien weilenden Friedrich II. zu
sichern, doch das erwies sich als nicht durchführbar. Ein großer
Teil der deutschen Fürsten wollte einen anderen Mann auf dem deutschen
Thron sehen, nämlich Otto IV. aus der mächtigen Familie der Welfen.
Unter diesen Umständen schien es den Parteigängern der Hohenstaufen
unmöglich, das Königtum eines zweijährigen Kindes durchzusetzen
und sie drängten Philipp, selbst nach der Krone zu greifen.
Und wer befindet sich in diesem Augenblick bereits am Hofe Philipps
von Schwaben, wer beschwört ihn in bildergewaltiger Sprache, sich
die Krone aufs Haupt zu setzen: Sie ahnen es, kein anderer als Walther
von der Vogelweide. In seiner Argumentation holt er weit aus, aber hören
Sie gut zu, denn wenn sie eines von Walthers Werken kennen, wird es mit
ziemlicher Sicherheit der nun folgende "Reichston" sein.
"Ich saz uf eime steine
und dahte bein mit beine
dar uf satzt ich den elenbogen
ih hatte in mine hant gesmogen
daz kinne und ein min wange
do dahte ich vil ange
wie man zer welte solte leben
deheinen rat kund ich gegeben
wie man driu dinc erwurbe
desn keines niht verdurbe
die zweier sint ere und varnde guot
des michel ein ander schaden tuot
daz drite ist gotes hulde
der zweier übergulde.
Die hete ich gerne in einen schrin
doh leider desn mac niht gesin
daz guot und weltlich ere
und gotes hulde mere
zesamene in ein herze komen
stige und wege sint in benomen
untriuwe ist in der saze
gewalt vert uf der straze
fride unde reht sint sere wunt
die dreier enhabent geleites niht die zweie
enwerden e gesunt.“
Es ist die antike Philosophen- und Denkerpose in die Walther hier schlüpft:
Er sitzt auf einem Stein und schlägt die Beine übereinander,
er dacht sie übereinander, es ist nicht unser neuhochdeutsches "dachte",
das Präteritum von "denken". Auf das Knie stützt er seinen Ellbogen
und schmiegt Kinn und Wange in die Handfläche. In dieser Stellung
beginnt er nun in der Tat "nachzudenken", über den Zustand der Welt
nämlich, welcher gewährleisten solle, daß man zugleich
Reichtum, Ansehen und, was das wichtigste ist, die Gnade Gottes erwerben
könne.
"Doch die Verhältnisse die sind nicht so!" könnte man mit
einem Dichter unseres Jahrhunderts, mit Bertholt Brecht, sagen. Gewalt
und Verrat sind allenthalben unterwegs, es ist unmöglich, ein reiches,
angesehenes und gottesfürchtiges Leben zu führen. Philipp soll
die Krone aufsetzen, das ist Walthers Forderung in späteren Strophen,
und für Recht und Ordnung sorgen, dann wird auch der positive Zustand,
in dem man Besitz, Ehre und Gottes Gnade erwerben kann, wiederhergestellt.
Dieser Sangspruch Walthers von der Vogelweide, denn wir sprechen hier
nicht vom Lied, da diese Sprüche offenbar auch einzeln und nicht allein
im Kontext des Liedes vorgetragen werden konnten, ist so ziemlich das Einflußreichste
gewesen, was er verfaßt hat: Es ist die Geburtsstunde der politischen
Lyrik in deutscher Sprache. Walther hatte das Sangspruch-Genre bereits
vorgefunden, aber er hat es nach seinem eigenen Ermessen völlig neu
definiert. Und auch darin liegt ein großer Teil seiner Bedeutung
für die deutsche Literaturgeschichte. Etwas davon müssen auch
bereits seine Zeitgenossen empfunden haben, denn nicht umsonst wird Walther
von der Vogelweide in mittelalterlichen Handschriften, allen voran der
berühmten "Manessischen" durchgängig in jener Philosophenpose
dargestellt, in die er für den Reichston geschlüpft war. Wenn
nun einige moderne Walther-Interpreten behaupten, die Sangspruchdichtung
habe "zur Nachtseite" von Walthers Existenz gehört, so ist dies zwar
sehr anmutig formuliert, doch entbehrt es meines Erachtens jeder Grundlage.
Walther ist in den folgenden Jahren auch für andere Thronbewerber
tätig gewesen: Nach der Ermordung Philipps etwa für dessen einstigen
Gegner und schließlich sogar für den inzwischen zum Jüngling
- heute würde man wohl eher sagen "Teenager" - herangereiften Friedrich
II. Im 19. Jahrhundert hatte man mit diesem Verhalten Walthers von der
Vogelweide die allergrößten Probleme. Da hatte man sich den
großen Minnesänger so schön als "graue Eminenz" zurechtkonstruiert
und sah sich nun mit der Tatsache konfrontiert, daß eben dieser Mann
offenbar das politische Lager zu wechseln pflegte wie andere Leute ihre
Leibwäsche.
Honorierung
Dabei liegt genau da, nämlich ganz konkret bei der Leibwäsche,
die Erklärung. Erinnern wir uns an die Spesenrechnung des Bischofs
von Passau: Getragene Kleider, Verpflegung, ein bescheidenes Auskommen,
das war es, worum sich Walther von der Vogelweide bemühen mußte
und was ihn sein Leben lang beschäftigte: Die Angst ohne ein Engagement
erfrieren und verhungern zu müssen. Da konnte er einem Dienstherrn
nicht einfach den Rücken kehren, weil ihm dessen politische Couleur
nicht zusagte. Dort wird eine kleine Geldsumme notiert, die aufgewandt
wurde, um dem "cantor", wie es heißt, Walther von der Vogelweide
abgetragene Kleider zu verschaffen.
Abgetragene Kleider, das kommt überraschend. Das will weder mit
dem zusammenpassen, was wir bisher über die Minnesänger erfahren
haben, daß sie nämlich durchaus vermögende Männer
waren, Vertreter einer gesellschaftlichen Schicht, die durchaus Zugang
zum Hofe hatte, noch läßt sich das mit der Rolle vereinbaren,
die vor allem im 19. Jahrhundert für Walther von der Vogelweide in
Anspruch genommen wurde. Eine Art "graue Eminenz" der deutschen Politik
in den Jahren der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert hatte man da in dem
wandernden Sänger Walther erblicken wollen, doch heute herrscht im
Grunde Einigkeit darüber, daß dies seiner Stellung an den Höfen,
an denen er im Laufe seines Lebens diente, nicht gerecht wird. Er war angewiesen
auch auf die kleinsten Gaben. Er war kein reicher und angesehener Mann,
wohl aber ein Künstler mit Leib und Seele.
Aber Walther hat auch weiterhin Liebeslieder geschrieben und diese
gehören zum schönsten, obendrein aber wohl auch zum ehrlichsten
und eindringlichsten, was uns an mittelalterlicher Liebeslyrik erhalten
ist. Neben dem konventionellen Minnesang französischer Prägung
stehen dabei immer wieder Innovationen Walthers, zum Teil revolutionäre
Neuerungen, die vielleicht für den Vortrag bei Hofe nur bedingt geeignet
waren. So preist er die Schönheit einer Angebeteten, die er heimlich
beim Bade beobachtet hat.
Walther von der Vogelweide als Voyeur, als Spanner, das ist nicht nur
eine Vorstellung, die zugegebenermaßen sehr reizvoll erscheint, das
ist an sich auch ein unerhörter gesellschaftlicher Fauxpas: Die Regeln
für die Beschreibung einer höfischen Dame sind nämlich in
der Minnesangkultur ausgesprochen eng: Die Haare sind blond, die Haut ist
weiß, die Augen sind blau, die Lippen sind rot. Wir erinnern uns:
Sie sehen alle so aus, es gibt keine Ausnahme, es ist Konvention. Wie die
Dame wirklich aussah, scheint beinahe zweitrangig gewesen zu sein, was
zählt ist allein dieses Ideal: Die Haare sind blond, die Haut ist
weiß, die Augen sind blau, die Lippen rot, der Hals ist schmal und
wohlgeformt, die ... Hände sind ebenfalls schmal und wohlgeformt und
wenn es hochgekommt auch noch die Füße. Was sich aber dazwischen
befindet ... zwischen Hals und Kopf und Füßen, so darf eine
höfische Dame solche Körperteile überhaupt nicht haben,
denn das wäre unanständig. Was arme Frauen anbetrifft, wieder
erinnern wir uns, das ist etwas ganz anderes, aber eine höfische Dame
ist nicht nur eine Dame ohne Unterleib, sie ist im Grunde eine Dame völlig
ohne Leib.
Wenn Walther von der Vogelweide aber nun immer wieder sehr selbstbewußt
über Konventionen des Minnesangs hinwegstürmt, so bedeutet das
keinesfalls, daß er keine Grenzen gekannt habe. Nein, ganz im Gegenteil,
in der Welt des Minnesangs spuken weit extremere Geister umher als ein
Walther von der Vogelweide.
Neidhart und Oswald
Neidhart aus dem Reuenthal etwa verlegt in seinen Minneliedern die Minnesituation
von der höfischen Festtafel auf den Bauernhof. Der Knecht verkleidet
sich als ritterlicher Sänger und die dralle, dreiste Magd macht sich
als höfische Dame zurecht. Natürlich kann das nicht lange gutgehen:
Wüstes Krakelen, Saufgelage, Prügeleien, die Mägde und Bäuerinnen
geraten sich in die Haare, das ganze endet in einem derben Mißklang.
Damit konnte Walther von der Vogelweide wenig anfangen. In seinen späten
Gedichten bedauert er immer wieder, daß der höfische Minnesang
in Gefahr ist, durch derartige "dörperliche" Dichter verdrängt
zu werden. Nein, Walther von der Vogelweide ist nicht bereit, dem "dörperlichen"
Modetrend zu folgen. Er fühlt sich wohl auch zu alt dazu. Wichtiger
ist ihm jetzt ein festes Dach über dem Kopf und natürlich, das
Mittelalter ist ja sehr fromm, nach seinem Tode der Einzug ins Paradies.
Vom Wiener Hof mußte Walther verschwinden, Philipp von Schwaben
wurde ermordet, Otto IV. erwies sich als erschreckend geizig, Walther hat
das später in harten und verletzenden Worten betont. Noch immer hatte
der alternde Minnesänger kein Auskommen, keinen kleinen Bauernhof,
von dessen Einkünften er im Alter leben konnte, kein kleines Lehen,
nach dem er sich Zeit seines Lebens gesehnt hat.
Erst Friedrich II. ist es, der Walther um 1220 diesen sehnlichen Wunsche
erfüllt und der Dichter ist voll des Dankes über die Freigebigkeit
des jungen Königs, in dessen Diensten er für den Rest seines
Lebens stehen wird. Walther hatte angekündigt, er werde nun wieder
von Blumen und schönen Damen singen, doch das scheint er nicht wahrgemacht
zu haben.
Seine späten Lieder beschäftigen sich vor allem mit religiöser
Problematik, es finden sich etwa Aufrufe zum Kreuzzug Friedrichs II., vor
allem aber Klagen darüber, wie schlecht die Welt doch geworden sei.
Wir wissen dabei gar nicht genau, ob es sich hier wirklich durchgängig
um Alterslieder handelt oder ob Walther bei Gelegenheit schon viel früher
in das Kostüm des lamentierenden Alten geschlüpft ist, jedenfalls
sind viele dieser Lieder ausgesprochen eindringlich und ich will Ihnen
deswegen zumindest einen Teil der Elegie Walthers nicht vorenthalten, einen
Teil der Elegie, die sie auf der Audiocassettenversion dieses Vortrages
in der Fassung hören können, die ich exklusiv für diese
Cassettenproduktion mit der Musikgruppe König / Rother aufgenommen
habe.
Ouwe war sint verswunden alliu miniu jar
ist mir min leben getroumet oder ist es war
daz ich wande ez waere was daz allez ist
darnach han ich geslafen un enweiz es nicht
nu bin ich erwachet und ist mit unbekannt
was mir hievor was kündic als min ander
hant
mich grüezet maneger traege den ich bekande
e wol
diu welt ist allenthalben ungenaden vol
daz liut und lant dar innen von kind ich bin
erzogen
die sind mit worden frömde als ob es
si gelogen
die min gespielen e waren die sind nu traeg
und alt
gebreitet ist das velt verhouwen ist der walt
wenn niht daz wazzer flözze als ez wilent
floz
fürwar min ungelücke wande ih wurde
groz
da ih gedenke an manigen seneklichen tac
die mir sint entfallen sam in das mer ein
slac,
iemer mer ouwe.
Oweh, wohin sind alle meine Jahre verschwunden? Habe ich mein Leben
nur geträumt oder war das die Wahrheit? Glaubte ich nur, es wär
so gewesen wie es mir erschien? Demnach habe ich geschlafen und weiß
es nicht. Nun bin ich aufgewacht und mir scheint unbekannt was ich früher
so gut kannte wie meine eigene Hand. Viele grüßen mich nachlässig,
die ich einst gut kannte. Die Welt ist insgesamt so unfreundlich geworden.
Das Land und die Menschen meiner Kindheit sind mit fremd geworden, als
wäre alles eine Lüge. Diejenigen, die meine Spielgefährten
waren sind müde und alt geworden. Die Felder sind angewachsen, der
Wald ist abgeholzt. - Keine Einbildung in diesem Falle, sondern eine sehr
richtige Beobachtung, Walther beschreibt hier die hochmittelalterliche
Rodungswirtschaft. Wenn nicht das Wasser noch so flöße wie es
das einst getan hat, würde mein Unglück unermeßlich groß,
sobald ich an all die herrlichen Tage denke, die dahingeschwunden sind
wie ein Tropfen Wasser im Meer. Alle Zeit oweh!
Das Ganze endet dann allerdings doch etwas versöhnlicher: Walther
spricht von seiner neu erwachten Frömmigkeit und von seiner Hoffnung,
daß er auf seine alten Tage vielleicht doch noch das Meer überqueren
könne, um im Heiligen Land das Grab Jesu Christi mit seinen eigenen
Augen zu erblicken. Dann habe er seine Chance auf einen Platz im Paradies
und dann werde er niemals mehr oweh rufen, niemals mehr oweh.
Wir wissen nicht genau, wann Walther von der Vogelweide gestorben ist.
Wenn wir seine Kreuzzugslieder auf das Ende der 1220er Jahre ansetzen,
als sich die Kreuzzugspläne Kaiser Friedrichs II. mit zehnjähriger
Verspätung und unter schärfsten Sanktionen des Papstes konkretisierten,
dann muß Walther wohl gegen 1230 oder kurz danach gestorben sein.
Der Tod Walthers von der Vogelweide war natürlich nicht das Ende
des Minnesangs überhaupt, aber mit dem Tod Walthers oder spätestens
mit Neidhart hörte der Minnesang auf, ein schöpferisches Genre
zu sein. Die Formeln eines Heinrich von Morungen, eines Kürenbergers,
eines Reinmar, eines Walther, eines Neidhart werden noch immer wiederholt,
ein um das andere Mal, noch zweihundert Jahre lang, doch wir vermissen
das Neue, den frischen Wind. Von Oswald von Wolkenstein etwa, dem letzten
Minnesänger, wenn sie so wollen, der noch im 15. Jahrhundert Minnelieder
geschrieben hat, ist uns ein gewaltiges Œuvre überliefert, schon allein,
weil Oswald alles selbst notiert hat, aber er ist auch nicht mehr als ein
Epigone, der alte Formeln wieder aufgreift.
Die Bedeutung Oswalds, vor allem aber seine Beliebtheit, rührt
daher, daß er seinen Liedern Notenbeispiele beigegeben hat, so daß
wir sie heute in Text und Melodie nachempfinden können. Oswald-Lieder
sind daher bei mittelalterlich klingenden Ensembles heute heiß begehrt
und stark vertreten. Skepsis ist dagegen bei "mittelalterlichen" Vertonungen
von Walther-Liedern angebracht. Ja, es stimmt, es sind in mittelalterlichen
Handschriften Noten zum Kreuzlied, zum Ottenton, zum Reichston Walthers
überliefert, doch sie sind sehr unzuverlässig, weder die Tonhöhe
noch die Länge der Noten ist eindeutig ablesbar. Wer diesen Systemen
folgt, bewegt sich auf sehr dünnem Eis.