Das Geheimnis der Minnesänger

Lieder von Liebe und Leid

Von Stephan M. Rother M.A.

Das Mittelalter, eine Epoche, von der uns der dichte Nebel der Jahrhunderte trennt und die dem Heute dennoch so nahe scheint, daß die amerikanische Kulturhistorikerin Barbara Tuchman sie als einen "fernen Spiegel" unserer eigenen Zeit apostrophierte.

Eine in sich zerrissene Epoche: Rohe Gewalt und tief empfundene Frömmigkeit, prunkvoller Reichtum und bittere Armut, vehemente philosophische Diskurse einer kleinen Schicht von Gebildeten und die derbe Lust der breiten Volksmassen, sie existieren Schulter an Schulter, ja manchmal scheinen sie einander geradezu zu berühren. Es ist die Zeit der Troubadoure und Minnesänger, gern gesehener Gäste an mittelalterlichen Fürstenhöfen, begabter Poeten, früher Verfechter der volkssprachlichen Dichtung ... doch wir greifen den Dingen vor. Das Geheimnis der Minnesänger ist heute unser Thema, Lieder von Liebe und Leid wie der Untertitel lautet, und deshalb muß die wohl schwierigste unter all den Fragen, die uns nun beschäftigen werden, ganz am Anfang stehen: Wer eigentlich waren die Minnesänger?
Beginnen wir mit der Vorstellung, die sich in den meisten mitteleuropäischen Köpfen einstellen wird, wenn das Gespräch auf den Minnesang kommt: Es ist das, was ich gerne als die "klassische Romeo und Julia-Situation" bezeichne. In einsamer Nacht kauert der Sänger unter dem Balkon einer holden Jungfrau, der er in aller Heimlichkeit sehnsuchtsvolle Lieder zuhaucht, deren Schönheit und Tugend er preist und die er zugleich auffordert, ihm seine sexuellen Wünsche zu erfüllen.

Aber ist das die authentische historische Aufführungsform? Ist das der "Sitz im Leben", wie es die Mediävisten, die Mittelalter-Wissenschaftler, ausdrücken, ist das der „Sitz im Leben“, welchen der Minnesang einnimmt? Ich will es Ihnen nicht verschweigen: Von unserer Vorstellung trifft das Wenigste zu.
Setzen wir noch einmal an - Minnesang, gut, da hat jemand gesungen, von "Minne" hat er gesungen. Minne, das ist "Höfische Liebe", doch was bedeutet das?
Was Liebe nun eigentlich ist, darüber gibt es ja schon heute, in der Neuzeit, höchst unterschiedliche Auffassungen. Bei Heinrich Heine etwa klingt das so:

     Sie saßen und tranken am Teetisch,
     und sprachen von Liebe viel.
     Die Herren, die waren ästhetisch,
     die Damen von zartem Gefühl.

     Die Liebe soll sein platonisch,
     der dürre Geheimrat sprach.
     Die Rätin lächelt ironisch
     und dennoch seufzet sie: „Ach!“

     Der Pfarrer öffnet den Mund weit:
     „Die Liebe sei nicht zu roh!
     Das schadet sonst der Gesundheit!“
     Das Fräulein lispelt: „Wieso?“

     Die Gräfin spricht wehmütig:
     „Die Liebe ist eine Passion!“
     Und präsentieret gütig
     die Tasse dem Herren Baron.

     Es war dort am Tisch noch ein Plätzchen,
     mein Liebchen, da hast Du gefehlt,
     und hättest so hübsch, mein Schätzchen,
     von Deiner Liebe erzählt.

Aber wie ist das im Mittelalter? Wie ist das mit der Minne, der höfischen Liebe?

Was ist Minne ?
Andreas Capellanus und Gaston Paris

Andreas Capellanus - oder "Andre le Chapellain", wie ihn die kultivierteren seiner Zeitgenossen angesprochen haben mögen - um die Mitte des 12. Jahrhunderts Hofkaplan - also Geistlicher - der Eleonore von Aquitanien, der "Königin der Troubadoure", dieser Andreas Capellanus hat uns in seinem Werk "De Amore" - "Über die Liebe" etwas hinterlassen, das einer Definition so nahe kommt, wie wir das von einem mittelalterlichen Schöngeist erwarten dürfen. Daß er sich dabei ziemlich großzügig in der "Ars amatoria", der "Liebeskunst", des römischen Dichters Ovid bedient, darf übrigens bei einem mittelalterlichen Autor nicht überraschen. Die Antike war das große Vorbild für die Menschen des 12. und 13. Jahrhunderts. Niemand - und am wenigsten Andreas Capellanus - vermochte sich der Faszination des längst in den Staub gesunkenen römischen Imperiums zu entziehen.
Wie aber stellt Andreas Capellanus Minne und Höfische Liebe dar? Er gibt Ratschläge: Wie erwirbt man Liebe, wie behält man sie, doch er fügt zugleich eine Warnung vor der dunklen, der verhängnisvollen Seite der Liebe an, welche einzig und allein - und das finden wir immer wieder in der mittelalterlichen Minnetheorie - auf die Schlechtigkeit der Frauen zurückzuführen ist.
Im vorigen Jahrhundert hat der französische Mediävist Gaston Paris versucht, die Theorien des Andreas Capellanus und anderer mittelalterlicher Autoren zusammenzufassen. Höfische Liebe sei stets ungesetzlich, verwirkliche sich in der bewußten Unterordnung des Mannes unter die Frau und sei zugleich Ausdruck des männlichen Bemühens, im Sinne eines Codex höfischer Verhaltensregeln besser und vollkommener zu werden. Minne und höfische Liebe, das sei "eine Kunst, eine Wissenschaft, eine Tugend".
Ein Codex, ja ein ganzes System höfischer Verhaltensregeln. Höfischer Verhaltensregeln? Die erste Bedingung für die Existenz von Minne, für das Singen von Minneliedern ist die höfische Umgebung, der prächtige, kultivierte Hof eines Königs, eines Herzogs oder eines mächtigen Grafen. Nur in dieser Umgebung und nur zwischen den Angehörigen der kleinen gesellschaftlichen Elite, die im 12. und 13. Jahrhundert zur "höfischen" oder "hoeveschen" Gesellschaft zu rechnen ist, ist Minne überhaupt möglich. Für die breite Masse der Bevölkerung steht sie sozusagen per definitionem außerhalb jeder Erfahrung.
Die höfische Liebe sei "ungesetzlich", heißt es weiter. Das scheint zu unserer Romeo und Julia-Pose zu passen, wenn wir uns vielleicht in Erinnerung rufen, daß die beiden Liebenden von Verona ja weder den Segen ihrer Familien noch den der offiziellen Kirche hatten. Aber das ist hier gar nicht gemeint: Höfische Liebe ist ungesetzlich, weil die Dame, deren Schönheit und erotische Attraktivität in so hohen Tönen gepriesen wird, die Dame, deren sexuelle Gefügigkeit der Minnevortrag gerade erreichen will, weil diese Dame verheiratet ist. Aber das ist noch keineswegs alles, denn der Minnesänger schreitet zur Tat - und das will in diesem Falle natürlich nur sagen: zum Gesang - nun keineswegs nächtens und halb verborgen zwischen den Ziersträuchern im Garten des zumindest potentiell gehörnten Ehemannes sondern in aller höfischen Öffentlichkeit, auf dem gesellschaftlichen Ereignis par exellance, der herrschaftlichen Festtafel.

Die Vortragssituation

Darbietungen von Gauklern und Hofnarren sind vorausgegangen. Manchmal geht es auch härter zur Sache. Kaiser Heinrichs VI. von Hohenstaufen, der Sohn Friedrich Barbarossas, schätzt es ganz besonders, wenn sein Hofnarr vor den Augen der versammelten höfischen Festgesellschaft gefangene Rebellen zu Tode foltert. Und dabei ist er auch noch höchst erfinderisch: So wird einer der Anführer des Aufstandes an den Füßen aufgehängt und dann zunächst einmal gepufft und geknufft, daß es dem Kaiser und seinen Gästen eine Freude ist, eine grausame Freude. Dann aber holt der Hofnarr einen schweren Stein hervor und bindet ihn dem unglücklichen Gefangenen an die Zunge und ... an dieser Marter ist die bedauernswerte Kreatur dann verendet.

Dann tritt der Minnesänger vor. Er ist ein Mann von Adel, den meisten der Festgäste ebenbürtig, ausgenommen dem Gastgeber, dem König, Herzog oder Grafen, selbst. Der Minnesänger beginnt mit seinem Vortrag. In der charakteristischen Form der Minnecanzone preist er die Schönheit einer edlen Dame, die er seine frouwe, seine Herrin, nennt. Ihr Lebenswandel sei tugendhaft, berichtet er, dennoch wünsche er sich, daß sie seine Wünsche erhörte. Die Dame sei hier unter den Anwesenden: Alle anderen Damen überstrahle sie in ihrer Schönheit: Ihre Haare sind blond, ihre Haut weiß, die Augen blau, die Lippen rot, der Hals wohlgeformt und ... Hände und Füße auch. Über welche Körperteile die Dame dazwischen aber noch verfügen mag, das darf kaum angedeutet werden, denn das wäre unhöfisch.

Aber das blonde Haar zumindest, das darf im Regelfall nicht fehlen. Es ist so etwas wie das oberste Schönheitsideal des Mittelalters. Natürlich, Schönheitsideale können wechseln. Heute blondes Haar, morgen schwarzes, heute ein schlanker Körper, morgen ein fülliger. Schon Heinrich Heine hat sich damit auseinandergesetzt:

     Welcher Frevel, Freund, abtrünnig
     Wirst du deiner fetten Hanne,
     und du liebst nun jene spinnig
     dürre, magre Marianne!

     Läßt man sich vom Fleische locken,
     das ist immer noch verzeihlich;
     aber Buhlschaft mit den Knochen,
     diese Sünde ist abscheulich!

     Das ist Satans böse Tücke,
     er verwirret uns die Sinne:
     Wir verlassen eine Dicke,
     und wir nehmen eine Dünne!

Der Minnesänger fährt fort und er führt aus, wie genau er sich den Lohn für seine Preisungen vorstellt - dieser Lohn ist natürlich sexueller Natur. Die ganze Zeit hindurch hat er ganz deutlich gemacht, um welche Dame es ihm dabei eigentlich geht. Wie gesagt, sie befindet sich unter den Anwesenden, sie sitzt am Tisch des Herzogs, ja, es handelt sich um niemand anderen als die Herzogin selbst.
Die im Minnesang verehrte Dame ist verheiratet und in aller Regel ist der Ehemann während des Minnevortrages anwesend. Und in aller Regel ist dieser Ehemann niemand anderer als der Dienstherr unseres Minnesängers himself.
Um diese Dinge wirklich zu begreifen, müssen wir versuchen, unser neuzeitliches Denken hinter uns zu lassen, wir müssen anders, müssen mittelalterlich denken. Wer nämlich nicht weiß, welche Rolle Öffentlichkeit im Leben des mittelalterlichen Menschen gespielt hat, der kann weder nachvollziehen, welche gesellschaftliche Funktion der Minnesang eigentlich erfüllte, noch kann er erfassen, warum der mächtige Ehemann angesichts so eindeutiger Angebote, die unter seinen Augen an seine Frau gerichtet werden, so ruhig bleibt, warum er nicht als ritterlicher Herr seine Ehre gefährdet sieht und den Minnesänger zum Duell herausfordert um diese wiederherzustellen.
Der Gedankengang läuft in mittelalterlichen Gehirnwindungen völlig anders und das hängt mit einem weiteren Element der höfischen Liebe zusammen: Sie gilt nämlich als unerfüllbar. Der Minnesänger lobt die Schönheit und die Tugend der Dame. Und auf diese Tugend kommt es nun ebenfalls an. Sie wissen vielleicht, was Henry Miller, der alte Schwerenöter, über die Tugend gesagt hat:
„Tugend nennt man die Summe der Dinge, die wir aus Trägheit, Feigheit und Dummheit nicht getan haben.“
Gewährte die Dame ihrem Sänger die Erfüllung seiner Begierden, so wäre sie logischerweise nicht länger als tugendhaft zu bezeichnen und führte so den gesamten Minnegedanken ad absurdum. Minne, das ist Liebe und Leid, das Leid eben der unerfüllten Liebe und die beiden Elemente sind untrennbar miteinander verbunden.

Der Herzog weiß ganz genau, daß seine Ehefrau dem Minnesänger ihre Liebe niemals gewähren wird, daß sie es schlicht und einfach nicht kann. Das bedeutet aber auch, daß der Minnesänger, im Zweifelsfall ein gutaussehender junger Mann, die Schönheit einer Dame preist, die nur einer erringen konnte und heute noch besitzt, nämlich gerade der Herzog in seiner Eigenschaft als Ehemann. Wenn wir nun noch wissen, daß der Minnesänger in der Regel ein Dienstmann des Herzogs war, dann wird uns klar, daß das Minnelied zwar formal an die Dame gerichtet wird, daß indirekt aber vor allem dem Herzog geschmeichelt und gedient werden sollte.

Und der Dienstgedanke ist in der so hierarchischen mittelalterlichen Gesellschaft eine ganz zentrale Lebensmaxime. Dienst drückt sich nicht nur in den landwirtschaftlichen Abgaben der Bauern oder im Kriegsdienst der Ritter aus, er wird, stark ritualisiert, eben auch verwirklicht im Minnesang.
Genau in dieser Situation ist er anzusiedlen, der "Sitz im Leben" des Minnesangs.

Literarische Beispiele
Tristan und Isolde, Lancelot und Guinevere

Die Liebessehnsucht der Minnesängers: Erfüllbar oder unerfüllbar ? Nun, etwas schwieriger wird es nun allerdings, wenn wir betrachten, daß in der höfischen Literatur, genauer im höfischen Roman, die bloße Verehrung einer Dame in Minnesänger-Pose sehr wohl und noch dazu recht schnell in sexuelle Aktion umschlagen konnte:
Tristan ist sicherlich das beste Beispiel dafür. Die Geschichte von Tristan und Isolde gehört zu den beliebtesten mittelalterlichen Romanen, was aber nicht bedeutet, daß sie besonders viel gelesen worden wäre, denn des Lesens und Schreibens kundig ist im Mittelalter nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung, den wir zum ganz überwiegenden Teil mit dem Klerus, der Geistlichkeit, identifizieren können. Nur einige wenige Laien konnten Lesen und Schreiben: Wolfram von Eschenbach, der Dichter - oder richtige, der deutschsprachige Bearbeiter - des Parzival, war einer von ihnen, von Walther von der Vogelweide vermuten wir es aufgrund der vielen Anklänge an Ovid. Die meisten Schriftkundigen des Mittelalters waren Geistliche, und wenn nicht, so hatten sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit doch eine Klosterschule besucht. Von mittelalterlichen Autodidakten berichtet keine uns bekannte Quelle.
Auch Gottfried von Straßburg, der den erfolgreichsten mittelalterlichen Tristanroman verfaßte, war ein Geistlicher. Er war der Verfasser, doch auch viele andere werden den Tristan vorgetragen haben, denn das ist der übliche Weg, auf dem der mittelalterliche Mensch mit Literatur in Berührung kommt. Er wird Zeuge eines Vortrages. Ob Tristan, Parzival, Lancelot, oder, den Bereich des höfischen Versepos, dem die genannten Romane zugehören verlassend und den Boden eines eng verwandten Genres, des Heldenepos nämlich, betretend, das Nibelungenlied, all diese Romane, jeder einzelne von ihnen tausende von Versen lang, sie werden nicht nur vorgetragen sondern sogar vorgesungen: Tausende von Versen auf ein und dieselbe Melodie.
Tristan jedenfalls, die Hauptfigur auch in Gottfrieds Roman, ist der Neffe des Königs Marke von Cornwall. Zugleich ist er ein idealer Ritter: Er ist tapfer und wohlerzogen und er gilt als einer der besten Minnesänger seiner Zeit. Kostproben seines Talentes liefert er des Abends in der Festhalle der herzoglichen Burg. Da König Marke bereits ein älterer Herr ist und noch dazu söhnelos, fällt Tristan die Aufgabe zu, das Land Cornwall gegen räuberische Eindringlinge zu verteidigen, seefahrende Wikinger, die König Markes auf einer zerklüfteten Halbinsel gelegenes Königreich bedrängen. Im Duell mit Morolt, dem Anführer der Wikinger, gelingt es Tristan, die Eindringlinge zu besiegen und zurück ins Meer zu treiben, doch um welchen Preis: Die Klinge des Morolt war vergiftet und nun siecht Tristan dahin und obwohl König Marke in aller Herren Länder nach den besten Ärzten der Welt forschen läßt, kann ihm niemand helfen und es geht Tristan schlechter und schlechter. Seine Wunde hat sich entzündet und sondert einen so abstoßenden Gestank ab, daß Tristan auf eigenen Wunsch hin aus der königlichen Burg hinaus in eine abgelegene Hütte oberhalb der Küste gebracht wird, wo man für ihn sorgt. Gesellschaftlich aber ist er trotz all seiner Tapferkeit, seiner Tugend und seines höfischen Verhaltens erledigt.
So will er auf keinen Fall weiterleben und er sieht nur eine Hoffnung für sich: Wenn auch sonst niemand das Geheimnis des Giftes kennt, das in seinem Körper wütet, diejenigen, die es gebraut haben, werden es wissen. Einzig die irischen Wikinger können ihm nun noch helfen. In Verkleidung, als Kaufmann getarnt, bricht Tristan allein nach Irland auf und tatsächlich gelingt es ihm, sich in die Gunst der irischen Königsfamilie einzuschmeicheln und - obwohl seine Tarnung zuletzt durchschaut wird - offenbart man ihm das Geheimnis des Giftes, rettet so sein Leben und pflegt ihn gesund.
Dort in Irland hat Tristan auch die Tochter des Königspaares kennengelernt, die blonde Isolde. Sie ist ein wunderschönes junges Mädchen, und dazu muß sie, wie wir eben gesehen haben, auch blond sein. Natürlich fällt Tristan auf, wie schön Isolde ist, doch noch verliebte er sich nicht in sie, obwohl sich die beiden sehr nahe kommen. Tristan wird sogar der Gesangslehrer der Prinzessin Isolde. Dann aber kommt der Tag, an dem er nach Cornwall zurückkehren muß und da ist Isolde vielleicht doch ein wenig enttäuscht, denn sie hat doch Gefallen an dem gutaussehenden und wohlerzogenen jungen Ritter gefunden.
Zu Hause in Cornwall berichtet Tristan seinem alten Onkel, dem König, von seinen Abenteuern und natürlich erwähnt er auch die Prinzessin Isolde, denn die ist wunderschön: Die ist blond, die blauäugig, die hat weiße Haut und rote Lippen. Das genügt dem König. Er braucht sie nicht zu sehen; er hat Tristans Schilderung gehört und schon hat er sich in sie verliebt. Sofort fordert er Tristan auf, ein mächtiges Schiff auszurüsten und in seines, des Königs, Namen in Irland um die Hand der Prinzessin Isolde anzuhalten. Was immer Tristan davon hält, er gehorcht und segelt los.
Dem Antrag eines so mächtigen Herrschers wie König Marke und eines so redegewandten Liebesboten wie Tristan mögen sich die Eltern der Isolde nicht verschließen und sie willigen ein. Doch Isoldes Mutter, die alte Königin, ist doch voller Sorge, denn sie hat erfahren, daß dieser König Marke schon ein älteres Semester ist und wohl auch nicht mehr sonderlich ansehnlich und ihre Tochter ist doch noch so jung und hübsch und da wäre es doch nur natürlich, wenn sie statt auf den König ihr Auge auf einen anderen Mann würfe, auf Tristan zum Beispiel, den gutaussehenden Brautwerber.
Doch dann hat die Königin einen Einfall: Sie nimmt Brangæne, das ist die junge Zofe der Isolde beiseite und vertraut ihr eine kostbare kleine Phiole an, ein winziges Fläschchen mit einem mächtigen Zaubertrank. Diesen Trank soll die Brangæne der Isolde einflößen kurz bevor diese den König Marke erblickt, denn der Trank hat die geheime Macht, daß derjenige, der ihn trinkt sich auf der Stelle in den nächsten Menschen verliebt, den er ansieht. Und damit, glaubt die Königin, hat sie für das Lebensglück ihrer Tochter bestens vorgesorgt. Getrost kann sie am Kai stehen und dem nach Cornwall davonsegelnden Schiff nachwinken.
Doch die wirklichen Verwicklungen beginnen gerade erst: Das Schiff gerät in einen schrecklichen Sturm, einen Sturm, der die Reisenden weit von ihrem geplanten Kurs in eine unbekannte Gegend des Meeres verschlägt. Nur allzu schnell gehen die Trinkwasservorräte zur Neige und schon müssen Tristan und seine Begleiter befürchten, elend zu verdursten, als sie in der Ferne eine Insel erblicken.
Das Schiff legt am Ufer der Insel an, und Besatzung und Passagiere machen sich auf die Suche nach einer Quelle. Das heißt, nicht alle Passagiere, denn Isolde verspürt keine Lust auf die Teilnahme an einer ermüdenden Suche und als seine zukünftige Königin befiehlt sie Tristan, zu ihrem Schutz bei ihr zu bleiben. Der mag sich diesem Ansinnen nicht verweigern, obwohl er spürt, daß dieser Wunsch zum guten Teil aus der Enttäuschung der Isolde resultiert, daß nicht er selbst sie um ihre Hand gebeten hat. Doch er macht gute Miene zum bösen Spiel.
Nach einer Weile aber wird Isolde von einem schrecklichen Durst überfallen, was nicht verwunderlich ist, denn die Wasserrationen sind in den letzten Tagen schon klein genug gewesen. So weist sie Tristan an, überall auf dem Schiff nach Trinkwasser zu suchen und wieder gehorcht er, wenn auch ohne viel Hoffnung auf Erfolg, denn das letzte Wasser war vor dem Landgang verteilt worden. Mehrfach will er aufgeben, doch immer wieder ermahnt ihn Isolde, seine Suche fortzusetzen, sie auf die privaten Habseligkeiten der Reisenden auszudehnen, denn werde nicht sie, Isolde, bald ihrer aller Königin sein. Ein weiteres Mal folgt Tristan ihren Anweisungen und er fängt gleich mit seinem eigenen Gepäck und dem seiner Begleiter an - ohne Erfolg. Erst ganz zum Schluß macht er sich über die Habseligkeiten der Isolde und ihrer Zofen her. Und da, zwischen den persönlichen Gegenständen der Brangæne, der scheinbar so unschuldigen kleinen Zofe, stellt er fest, daß diese doch ein winziges Fläschchen mit einer offensichtlich trinkbaren Flüssigkeit gehortet hat.
Stolz bringt er die Phiole der Isolde. Gierig ergreift sie das Fläschchen und will es schon an den Mund setzen, doch dann hält sie inne. Tristan soll zuerst trinken, denn man weiß ja nie, ob das Fläschchen nicht etwa Gift enthält. Und ein letztes, verhängnisvolles Mal gehorcht Tristan. Und so trinken sie beide und ihr Schicksal ist besiegelt. Bei Gottfried von Straßburg spielt sich das folgendermaßen ab (zitiert nach Marold, Leipzig 1906: v.11687-11689; 11709/11711):

     si tranc ungerne und über lanc
     und gap do Tristande unde er tranc
     und wanden beide, ez wære win.
     (...) ouwe Tristan unde Isot,
     diz tranc ist iuwer beider tot!

     Neuhochdeutsch also:

     Sie trank ungern und zu lange
     und gab dann Tristan und er trank
     und sie glaubten beide, es wäre Wein.
     (...) O Weh, Tristan und Isolde,
     dieser Trank ist Euer beider Tod!

Gottfried von Straßburg, wir dürfen nicht vergessen, ein Geistlicher, läßt in seiner Version keine Gelegenheit aus, zu betonen, was für eine scheußliche Sache die Liebe doch ist und daß sie eigentlich nur in die Katastrophe führen kann. Und in diesem Falle hat er auch recht, denn das Verhängnis ist nicht mehr aufzuhalten. Als Tristan, Isolde und ihre Begleiter endlich doch noch in Cornwall anlangen, haben sich die beiden Liebenden ihrer Leidenschaft hingegeben und augenblicklich beginnen die Probleme:
Wenn wir uns erinnern: Tristan hatte die Aufgabe gehabt, in Irland um die Hand der Jungfrau Isolde anzuhalten, und die Betonung liegt jetzt auf Jungfrau. Die Jungfrau Isolde kann Tristan dem König nicht mehr bringen; das ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Jungfrau Isolde, die gibt es nicht mehr. Was also tun: Tristans Blick fällt auf die Zofe Brangæne. Ist nicht Brangæne die eigentlich Schuldige? Hätte sie nicht den Zaubertrank auf dem Schiff zurückgelassen, Tristan und Isolde hätten den Trank überhaupt nicht konsumieren können. Also soll Brangæne jetzt helfen.
Die Hochzeitszeremonie ist vorüber. König Marke gefällt die junge Prinzessin über alle Maßen. Tristan hat seine Schilderung nicht übertrieben. Isolde dagegen kann an dem alten Herrn keinen sonderlichen Gefallen finden. Ein Fest wird gefeiert in der Halle von König Markes Burg und dann beginnt die Hochzeitsnacht. Nun müssen Tristan und Isolde handeln. Es gelingt ihnen, anstelle der Isolde die Brangæne in das abgedunkelte Hochzeitsgemach zu schmuggeln und so findet König Marke das, was er erwartet hat, daß nämlich seine Gemahlin als Jungfrau in die Ehe gegangen ist.
Tristan und Isolde aber tun in dieser Nacht kein Auge zu, allerdings aus anderen Gründen als der König und seine vermeintliche Braut. Am nächsten Morgen nämlich, wenn sich die Sonne über der zerklüfteten Küste von Cornwall erhebt, wird der König natürlich bemerken, daß die falsche Frau neben ihm im Hochzeitsbett liegt. Noch vor Tagesanbruch müssen die beiden Damen ausgetauscht werden.
Und so klopft Tristan eine Stunde vor Tagesanbruch vorsichtig an die Tür des Hochzeitsgemach, öffnet und fragt: Lieber Onkel, verläuft Alles zu Eurer Zufriedenheit? - Ja, danke Tristan, kommt die Antwort, heute nacht werde ich Deine Hilfe nicht brauchen.
Dann verabschiedet sich Tristan diskret und schließt die Tür, denn dieser Augenblick hat genügt, damit Brangæne das Zimmer verlassen und Isolde zum König ins Bett schlüpfen konnte. Den Rest der Nacht verbringt König Marke nun tatsächlich mit seiner Gemahlin, genau wie alle folgenden Nächte. Einen Unterschied hat er niemals bemerkt. Brangæne geht währenddessen in ein Kloster, denn auf eine standesgemäße Eheverbindung braucht sie nun nicht mehr zu hoffen. Heutzutage würde Gottfried von Straßburg mit dieser Geschichte ein reicher Mann werden, die Studios in Hollywood würde sich um ihn reißen.
Für unser Thema, für den Minnesang aber wird es jetzt erst richtig interessant, denn von Stund an herrscht auf König Markes Burg nun das Leben einer jeden höfischen Gesellschaft: Beim abendlichen Fest treten Artisten und Gaukler auf und am Ende erhebt sich Tristan. Er tritt vor die Gesellschaft hin und beginnt mit dem Vortrag eines Minneliedes: Oh Herrin Isolde, Ihr seid so wunderschön. Euer Haar ist blond, Eure Lippen sind rot, Eure Augen sind blau, Eure Haut ist weiß, Euer Hals ist schlank und wohlgeformt und Eure Hände sind einfach verehrungswürdig. Und auch Eure Tugend kann man nicht hoch genug loben. Ach, wie gerne würde ich mit Euch kosen, am liebsten heute Abend um acht unter der alten Eiche.
Und König Marke hört sich das an und er nickt beifällig und denkt sich dabei: Ach der gute Junge, eigentlich meint er es ja nur gut mit mir. Denn er kann ja nicht ahnen, daß am Abend um acht sich die beiden Liebenden tatsächlich heimlich treffen und sich ihren Begierden hingeben.
Die Tristan-Geschichte endet am Ende dann aber tatsächlich tragisch. Tristan und Isolde werden verraten, Tristan muß fliehen und findet ein kurzzeitiges Glück in den Armen einer anderen Isolde, der Isolde Weißhand (wieder eines jener so gelobten Attribute weiblicher Schönheit), am Ende aber, als er im Sterben liegt, sehnt er sich dann doch nach "seiner" Isolde, König Markes Gemahlin mit dem goldenen Haar, die dann aber zu spät kommt und tot über seinem Körper zusammenbricht. Da klärt nun Brangæne alles auf und König Marke verzeiht den Liebenden - wovon diese nun natürlich auch nichts mehr haben, aber immerhin läßt er sie Seite an Seite beisetzen.
Gottfried von Straßburg hat den Tristan übrigens nicht mehr selbst zu Ende bringen können, aber er hat verschiedene Fortsetzer gefunden und die Geschichte ist uns eben auch aus vielen anderen Quellen überliefert, in Deutschland ebenso wie in Frankreich.
Worauf es in der Tristan-Geschichte ankommt, daß die Minnesituation des Liedes hier eben nicht nur Pose ist, daß die Höfische Liebe zumindest in einem höfischen Versepos durchaus erfüllt.
Mit Lanzelot und Ginover verhält es sich etwas anders. Die Entschuldigung "nicht zurechnungsfähig" besteht hier nicht. Lanzelot, der edle und mit ritterlichen Tugenden zuhauf gesegnete Ritter, er vermag sich der erotischen Attraktion der Königin nicht zu verweigern.
Der Höfische Roman zelebriert hier also keineswegs das "als ob", er feiert das "es geschieht".
Sicherlich, die Ereignisse münden letztendlich jeweils in die Katastrophe, niemand wird das ernsthaft bestreiten wollen, doch das ändert nichts an der Tatsache, daß das Minnebedürfnis eben nicht Vision bleibt, sondern daß die Liebenden ihre erotischen Wünsche in die Tat umsetzen. Die Vereinigung der Liebenden wird nicht allein im Vortrag vor der Kulisse des höfischen Festes ersehnt, nein, sie wird - wenn sie so wollen als Variation des vorgegebenen Themas - in der Realität des höfischen Romans verwirklicht.
Bis in unsere Zeit wird daher über Erfüllbarkeit und Unerfüllbarkeit von Minne heiß debattiert und gestritten. Wir können diese Frage nicht endgültig beantworten

Die Rolle der Frau

Eine andere Frage aber muß an dieser Stelle aufgeworfen werden: Bisher sah es so aus, als habe die höfische Dame, vor den Augen und Ohren der höfischen Gesellschaft verehrt und gepriesen - ob sie wirklich so weißhäutig, so blond, so blauäugig und rotlippig war, scheint übrigens eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben - ein recht angenehmes Leben geführt. Wenn wir nun aber erfahren, daß der Adressat all dieser Lobpreisungen im Grunde ihr Ehemann war, so stellt sich doch die Frage, wie das Leben einer höfischen Dame in der Realität aussah. Wohlgemerkt: Das Leben einer höfische Dame. Was die einfachen Frauen, mittelhochdeutsch "wîben" genannt, anbetraf, betrieben die Minnesänger weniger Aufwand. Da war es nicht nötig, erst lange zu werben, um dann wahrscheinlich doch nichts gewährt zu bekommen. Daß das Interesse der Minnesänger an "armen wiben" jedenfalls beträchtlich war, zeigt etwa ein Lied des Hartmann von Aue. In diesem heißt es:
     "Sag Hartmann gen wir schouwen, ritterliche frouwen."

     darauf die Antwort:

     "Ich mac mir baz vertrîben die zît mit armen wîben."

     Auf neuhochdeutsch etwa die Frage an Hartmann:

     "Sag, Hartmann, wollen wir die höfischen Damen bewundern.",

     darauf seine recht eindeutige Antwort:

     "Ich mag mir die Zeit lieber mit armen Frauen vertreiben."

     Denn wohin ich auch komme, so fügt er hinzu, von denen gibt es überall genug. Und singt nicht auch Walther von der Vogelweide:

     "Ich wil mîn lob keren an wîben die kunen danken".

     "Ich will die Frauen loben, die wissen wie man sich bedankt."

Und es erfordert keine allzu große Fantasie, sich auszumalen, welchen Lohn Walther sich da vorstellte. Einfachen Frauen gegenüber mußte also nicht die Rücksicht walten, die den höfischen Damen, sei die Minne nun erfüllbar oder unerfüllbar, jedenfalls angebracht erschien. Nicht selten scheint es zu dem etwas merkwürdig anmutenden Arrangement gekommen zu sein, daß eine höfische Dame, die die Wünsche eines Minnesängers nicht erhören wollte (oder durfte) diesem sozusagen als Ersatz ihre Kammerzofe für die Nacht überließ. Das wurde als kleine Gefälligkeit betrachtet und ist auch in der höfischen Literatur, nämlich wiederum im Tristan, bezeugt: Da muß Brangaene, die Zofe der Isolde, kurzfristig für ihre Herrin einspringen, damit Isoldes Bräutigam nicht bemerkt, daß seine frisch angetraute keine "juncfrouwe" mehr ist.
Und daß die Ritter mit den „armen wiben“ nicht eben zimperlich umgingen, ist uns allenthalben bezeugt. So heißt es etwa in einer Handschrift aus dem Kloster von Benediktbeuren, den legendären, in Teilen von Carl Orff neu vertonten Carmina Burana:
     „Er graif mir an den wizen lîp
     non absque timore,
     er sprah: „ich mache dich ein wîp,
     dulcis et cum ore!“
     Er warf mir uof daz hemdelin
     Corpore detecta,
     er rante mir daz purgelîn
     cupide erecta.“

 In meiner neuhochdeutschen Übertragung heißt das etwa:

     „Er griff mir an den weißen Leib
     nicht ohne Angst und Bangen.
     Er sprach: „Ich mache dich zum Weib,
     nach Dir geht mein Verlangen.“
     So warf er hoch mir das Gewand,
     entblößt des Leibes Zierde,
     hat mit dem Spieße mich gerammt
     in tierischer Begierde.“

Schreckliche Taten! So etwas müßte doch, wenn wir von heutigen Maßstäben ausgehen, hart bestraft worden sein. Das Mittelalter aber denkt anders. Derartige Gewalttäter, nun, sie finden vielleicht nicht unbedingt den ungeteilten Beifall der höfischen Gesellschaft, doch daß man sich voller Abscheu von ihnen abwendet, davon ist auch nichts zu spüren. So heißt es über den 1196 verstorbenen Herzog Konrad von Schwaben, einen Sohn Kaiser Friedrich Barbarossas:
 „Er war ein Mann, der sich gänzlich dem Ehebruch, der Hurerei, der Schändung und jeglichen Schwelgereien und Unzüchtigkeiten hingab. Weiterhin war er tüchtig und kühn im Kampf und freigebig gegenüber seinen Freunden.“
Das sind Widersprüche innerhalb ein und derselben Person, die das Mittelalter ganz einfach nicht als Widersprüche empfunden hat. Der Markgraf Opizo von Este in Norditalien etwa verliert im Jahre 1240 bei einem Turnierkampf, in dem er für die Ehre einer wunderschönen jungen Dame in die Schranke getreten war, ein Auge. Es ist der einzige verbürgte Fall dieser Art im gesamten 13. Jahrhundert. Markgraf Opizo von Este also das Idealbild eines mittelalterlichen Ritters und Frauenschützers? Kaum, denn der gleiche Chronist berichtet von dem gleichen Mann: „Es wurde von ihm behauptet, daß er die Töchter und Ehefrauen sowohl der Vornehmen, als auch der einfachen Leute in Ferrara vergewaltigte. Er stand sogar in dem Verdacht, mit seinen eigenen Schwestern und den Schwestern seiner Frau verkehrt zu haben.“
Wirklich vorbildlich verhalten sich die höfischen Ritter dagegen nur in der Literatur: Keinem geringeren als Hartmann von Aues Iwein, dem berühmten Artusritter, gelingt es wahrhaftig, eine ganze Nacht mit einer ihm nicht verwandten Dame in ein und dem selben Zimmer zu verbringen, ohne über sie herzufallen. Eine für mittelalterliche Männer offenbar schier unglaubliche Vorstellung; jedenfalls bemerkt Hartmann von Aue dazu: „Wer sich nun darüber wundert, der weiß nicht, daß ein anständiger Mann sich alles dessen enthalten kann, dessen er sich enthalten will. Doch gibt es, weiß Gott, deren nur sehr wenige.“ Gawein, Iweins Kollege in König Artus Tafelrunde, gehört jedenfallls nicht dazu, so berichtet jedenfalls der Minnesänger Wirnt von Grafenberg: „Einer schönen Jungfrau tat er gegen ihren Gewalt an, so daß sie weinte und schrie.“
Der Einzige, auf den dann wirklich noch Verlaß ist, das ist König Artus selbst. Als dieser, wie uns in Wolfram von Eschenbachs Parzival erzählt wird, dahinterkommt, daß der Ritter Urians eine vornehme Jungfrau vergewaltigt hat, will er ihn zunächst kurzerhand aufhängen lassen. Erst auf die Fürbitte der wunderschönen Königin Guinevere hin begnadigt er Urians dazu, vier Wochen lang mit der königlichen Hundemeute aus einem Abfalltrog fressen zu müssen.

Das waren wiederum Frauen in der Literatur, doch wie erging es nun wirklich einer Frau, aus den höchsten Kreisen der mittelaterlichen Gesellschaft, wie sah das tatsächliche Leben einer "frouwe" des Minnesangs aus?
Von Liebe jedenfalls war bei den hochadeligen Eheschließungen des Mittelalters eher selten die Rede. Oft genug bekam die Braut ihren Bräutigam noch nicht einmal während der Hochzeitszeremonie zu sehen. Noch Jahrhunderte nach der Blütezeit des Minnesangs sprach man von einem Ehevollzug "in procuratio" wie er etwa im Jahre 1514 zwischen der achtzehnjährigen Maria Tudor, der Schwester des englischen Königs Heinrich VIII., und dem für mittelalterliche Verhältnisse greisen, zweiundfünfzigjährigen König Ludwig XII. von Frankreich, vorgenommen wurde: König Ludwig war schwerkrank, gebrechlich und litt unter Gicht, daher bestieg sein Bevollmächtigter Longeville, Marquis von Rothelin, im Namen des Königs das Ehebett und berührte unter der Decke mit seiner nackten Wade die nackte Wade der Prinzessin. Damit galt die Ehe zwischen Maria und Ludwig als vollzogen. Ludwig XII. starb erwartungsgemäß einige Monate später. Nun war der Weg frei zu einer der wenigen tatsächlich auf Liebe basierenden Verbindungen in der Geschichte mittelalterlichen Herrschergeschlechter: Im Mai 1515 wurde die Ehe zwischen Maria und ihrem Geliebten Charles Brandon, dem Herzog von Suffolk, vollzogen - diesmal natürlich auf die herkömmliche Weise.
Von der 1270 gestorbenen Margarethe, der Tochter Kaiser Friedrichs II., wissen wir, daß sich das Verhältnis zu ihrem Ehemann, dem Markgrafen Albrecht dem Entarteten von Meißen, eher unerquicklich gestaltete, daß sie schwer mißhandelt und in aller Öffentlichkeit betrogen wurde, bis ihr nichts anderes mehr blieb als die Flucht in ein Kloster, wo sie bald darauf starb. Das Kloster war die einzige Alternative zur Ehe, doch natürlich nahmen die Klöster in der Regel nur unverheiratete Frauen auf, der Fall der Kaisertochter hatte bestimmte Begleitumstände.
Die Engländerin Christina von Marykate etwa leistete im 12. Jahrhundert bereits als Kind ein Keuschheitsgelübde, das von den Eltern aber nicht weiter beachtet wurde. Als sie sich den Zudringlichkeiten des Bischofs Ralph von Durham aus Durham County, der Heimat des Popsängers Tom Jones, mit dem unser Bischof auch in seinem, nun, Temperament, gewisse Ähnlichkeit aufweist, verweigerte, bewog dieser die Eltern dazu, ihre Tochter mit Gewalt zur Ehe zu zwingen. Unter abenteuerlichen Umständen gelang es der gottesfürchtigen Christina auch jetzt, ihre Keuschheit zu bewahren, obwohl die Eltern versuchten, sie gerade mit ihrer Frömmigkeit zu erpressen. Wenn sie nicht an abendlichen Orgien teilnähme, die sie in Bezug auf körperliche Liebe auf den Geschmack bringen sollten, verboten sie ihr, am folgenden Tag den Gottesdienst zu besuchen.
Schließlich floh auch Christina und verbrachte den Rest ihrer Tage als Einsiedlerin in der Wildnis.
Das Leben in den Klöstern war hart und zum Teil entbehrungsreich. In mancher Hinsicht war dem eine Ehe vorzuziehen. Selbst ein wenig Bildung wurde einer verheirateten Dame zugestanden: Die Bibel sollte sie lesen können, sich auf das Handarbeiten verstehen und vor allem sollte sie charmant plaudern können, insbesondere die Tapferkeit und höfische Gesinnung der Männer bewundern. Aber diese Gespräche durften nie zu ernsthaft werden, Beteiligung an den Staatsangelegenheiten etwa wurde Frauen in der Regel nicht zugestanden, auch wenn wir eine Reihe von Ausnahmen wie die schon genannte Eleonore von Aquitanien, ihre Enkelin Blanca von Kastilien oder Constanze d'Hauteville, die Mutter Kaiser Friedrichs II., kennen.
Die Vorschriften an adlige junge Damen waren streng. Oberste Instanz bei Streifällen waren zumindest in Frankreich die sogenannten „Liebeshöfe“, deren bekanntestem keine geringere als Eleonore von Aquitanien herself vorstand: Welchen höfischen Ritter junge Damen denn nun erwählen sollten, wurde Eleonore zum Beispiel gefragt, wenn ein junger, über beleumundeter Mann und ein alter, aber mit allen Tugenden geschmückter um sie würben? Natürlich solle sie sich für die Tugend und nicht für die Jugend entscheiden. Naja, das gibt einem ja noch Hoffnung.
Hauptaufgabe der Frauen war die Bestätigung der männlichen Eitelkeit. Selbst wenn sich die Dame dem Minnesänger verweigerte, wurde daraufhin nicht primär ihre Tugendhaftigkeit gelobt, sondern es war Teil der Minnesänger-Pose. Gerade in der Erfahrung der Zurückweisung erlebte der Minnesänger seine Disziplinierung zu einem Mann von Welt. Er wurde gerade durch diese Erfahrung zu einem bewunderten Mitglied der Gesellschaft. Einige Mediävisten haben dies auf die Spitze getrieben und dem Minnesang eine neurotische oder gar eine masochistische Komponente unterstellt. Ist letzteres nicht mehr zu überprüfen, so sind dagegen psychologische Momente im Werk einiger Minnesänger doch überraschend deutlich sichtbar.
In Wahrheit aber haben wir es hier mit mehr oder minder feststehenden Verhaltensmustern zu tun, einer Lebenseinstellung, die von Fall zu Fall mit Leben erfüllt wurde. Die Minnesangkultur war ein "Liebesspiel" im wahrsten Sinne des Wortes, die Freizeitbeschäftigung der Reichen und Schönen des Mittelalters, der "High Society" und "Jeunesse Doree".
Das konnte durchaus auch jene Romeo-und-Julia-haften, riskanten Balkonkraxeleien beinhalten, wie wir sie in der Manessischen Liederhandschrift in der Darstellung des Grafen Kraft von Toggenburg bewundern können. Andererseits gab es aber vor allem im 14. Jahrhundert auch genug Minnesänger, die von derlei nichts wissen wollten. So sang etwa der 1353 verstorbene Minnesänger Reinhart von Westerburg am Hofe Kaiser Ludwigs des Bayern:
     „Ob ich durch si den Hals zubreche,
     wer reche mir den schaden dan?“

     Auf neuhochdeutsch:

     „Wenn ich mir ihretwegen den Hals breche,
     wer zahlt mir dann den Schaden.“

Der Kaiser soll sich hierüber jedoch nach Aussage der zeitgenössischen Limburger Chronik sehr aufgeregt und den Minnesänger gezwungen haben, sich für seine Ausfälle zu entschuldigen.
Immerhin, so fragwürdig die Aufwertung der höfischen Dame in der Welt des Minnesangs erscheinen mag, so ist sie doch als Fortschritt zu verbuchen gegenüber der Frühzeit des Mittelalters, als Alkuin, der große Gelehrte am Hofe Karls des Großen seine Leser vor den „gekrönten Tauben, die in den Räumen des Palastes herumfliegen.“ warnte - gemeint waren die Töchter des Kaisers - und die Chronisten über das „beschmutzte kaiserlicheLager“ jammerten.

Die Entstehung des Minnesangs
Gattungen, Liebeshof der Eleonore

Der Minnesang wurde, wenn wir so wollen, geboren in Frankreich, im Oeuvre der Troubadours und Trouveres. Ihre Vorbilder finden sich in der Kultur der Muslime in Spanien. Sogar die Bezeichnung „Troubadour“ ist aus dem Arabischen abgeleitet. In der Sprache des Propheten Mohammed bedeutet „tarraba“ soviel wie „Singen“ oder „Musizieren“. Eine besondere Brisanz erhält das muslimische Vorbild aus der Tatsache, daß in der christlichen Minnesangkultur der Kampf gegen die Heiden, und gemeint waren damit immer zuerst die Moslems, eine der vornehmsten Pflichten des christlichen Ritters und Minnesängers war. Das „Kreuzlied“ etwa war neben dem „Tagelied“ und der bloßen Frauenlob eine dritte wichtige Gattung innerhalb des Minnesangs, in der der Minnesänger mit sich selbst einen schweren Kampf auszutragen hatte, ob er die Liebe zu seiner „frouwe“ an erste Stelle stellen und in ihrer Nähe bleiben sollte oder ob der Liebe zu Gott der Vorzug zu geben wäre, ob also der Aufbruch zu einem Kreuzzug angesagt war.
Der Frauendienst, der Gottesdienst - eine für heutige Augen etwas ungewöhnliche Art von Gottesdienst zweifellos - und der Herrendienst, sie waren die drei Abhängigkeiten und Verpflichtungen des höfischen Ritters und viele dieser Ritter litten, wie eben gezeigt, auch sehr im Spannungfeld dieser Erwartungen. Schuld war aber wie üblich die „frouwe“, denn sie war es ja schließlich, die den Ritter von seiner christlichen Kreuzzugspflicht abhielt.
Mochten muslimische und spanische Vorbilder Vorläufer gebildet haben, der "Liebeshof" der Eleonore von Aquitanien aber war das Sprungbrett, von dem aus sich die Minnesang-Kultur im 12. Jahrhundert über ganz Europa ausbreitete. Andreas Capellanus, Chretien de Troyes, der Verfasser der altfranzösischen Artus-Epen, Guillaume le Marechal, der als idealer Ritter und Minnesänger angesehen wurde und Eleonores Sohn, der spätere englische König Richard Cœur de Lion, Richard the Lionheart, zu deutsch Richard Löwenherz, sie alle waren dort Zeitgenossen.
Wenn wir uns um einen Vergleich in unseren Tagen bemühen, so kommt der Eleonore Jackie Kennedy-Onassis sehr nahe. Beide waren sie nacheinander mit zwei überaus einflußreichen Männern verheiratet. Beide waren sie so etwas wie modische Vorreiter und für beide war der Hof des Königs Artus ein bedeutendes Vorbild: An Eleonores Hof in Poitiers entstanden die Artusepen des Chretien de Troyes und der innere Zirkel der Vertrauten um John F. Kennedy wurde auch als "Camelot" bezeichnet. Eleonore ist eine Frau, die noch heute fasziniert, doch auch in ihrer eigenen Zeit rankten sich bereits sagenhafte Geschichten um diese erstaunliche mittelalterliche Dame: An der Spitze einer ganzen Kompanie barbusiger Amazonen sei sie auf den Kreuzzug gegen die Stadt Damaskus ausgeritten. Was aber ganz Europa am meisten faszinierte an dieser Frau, das war die bewunderte Minnesang-Kultur ihres Hofes. Dies war ein Ideal, das in ganz Europa für Furore sorgte. Um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert versuchte auch in Deutschland jeder Fürstenhof diesen "Liebeshof" zu kopieren.

Manessische Liederhandschrift

Was wir über die deutsche Minnelyrik dieser Zeit wissen, haben wir einigen wenigen Handschriften zu verdanken, deren berühmteste zu Recht die famose "Manessische Liederhandschrift" ist, die wohl in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts im Auftrage der Züricher Patrizierfamilie Manesse entstand und die Lieder von insgesamt 144 Minnesängern sowie in kostbaren Malereien deren Porträts versammelt. Angefangen mit berühmten Persönlichkeiten wie Kaiser Heinrich VI. oder dem tragischen letzten Staufer Konradin überliefert diese Handschrift nach ihrer Reihenfolge innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie auch die Minnelieder bedeutender Minnesänger wie Walther von der Vogelweide, Tannhäuser oder Frauenlob. Wir wissen nicht, ob diese Minnelieder erst damals, etwa einhundert Jahre nach ihrer Entstehung erstmals, schriftlich festgehalten werden oder ob wir mit verlorenen schriftlichen Vorlagen rechnen müssen. Gemeinsamkeiten mit anderen etwa gleichzeitigen Handschriften lassen vermuten, daß wir in der Tat Verluste zu beklagen haben.

 Früher und „klassischer“ Minnesang

Die erste Generation deutscher Minnesänger wird durch Männer wie den Kürenberger, Friedrich von Hausen, Reinmar den Alten und Heinrich von Morungen verkörpert. Zunächst zögernd wird auch der Versbau der provencalisch-aquitanischen Schule des Eleonore Hofes übernommen, vor allem aber die "Hohe Minne" ist es, die diese Männer in ihren Bann zieht: Die edle Frau ist für den Sänger unerreichbar. Er darf ihre Vorzüge loben, doch eine Erfüllung der Liebessehnsucht ist unmöglich.
Nach einigen Jahrzehnten aber beginnt das Leid der unerfüllten Liebe zum Topos zu werden, zum bloßen Versatzstück der Minnedichtung. Formen und Inhalte nutzen sich ab im Laufe der Zeit, manchmal geht das sehr schnell, manchmal finden wir dieselben alten Bilder noch nach Jahrhunderten.
Wenn um 1190 Heinrich von Morungen singt:

     "Vrouwe, mine swaere sich,
     e ich verliese minen lip.
     Ein wort du spraeche wider mich:
     Verkere daz, du saleic wip!
     Du sprichest iemer neina neina nein,
     neina neina nein
     daz brichet mir min herze enzwein.
     Maht du doch eteswenne sprechen ja,
     ja ja ja ja ja ja ja?
     daz lit mir an dem herzen na."

Du sagst nein, nein, nein, das zerbricht mit das Herz, dann ist diese Metapher, ist dieses Bild was die volkssprachliche deutsche Dichtung anbetrifft noch neu und unbekannt. Wir sollten uns hüten, das damit zu vergleichen, wenn in unserer Zeit, nach mehr als achthundert Jahren deutschsprachiger Liebesdichtung ein Howard Carpendale singt:
 "Sie sagt no, no, no und das macht mich nicht froh."
Doch auch bereits die mittelalterlichen Dichter empfanden die mangelnde Variationsmöglichkeit in der Poesie des Minnesangs. Dennoch verpflichtete nach wie vor der "klassische" Minnesang. Wobei das Wort Klassik für uns nicht geringe Risiken birgt, steht doch eine ganze Doktrin dahinter, die davon ausgeht, daß auf die Klassik eine Phase des Epigonentums und des Verfalls folgen muß. Alles was nach der Klassik des Minnesangs anzusetzen ist, wäre demnach per definitionem minderwertig.
Minderwertig aber ist ein Adjektiv mit dem wir das Werk des Mannes auf keinen Fall versehen, welcher um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zum großen Erneuerer des deutschsprachigen Minnesangs wurde. Und - Sie ahnen es bereits - ich spreche von keinem geringeren als Walther von der Vogelweide.

 Walther von der Vogelweide

Wenn wir bedenken, als wie einflußreich die Minnedichtung Walthers von der Vogelweide sich erwiesen hat und mit welcher Inbrunst das Leben dieses wohl bedeutendsten Minnesängers deutscher Zunge seit bald zweihundert Jahren untersucht und erforscht worden ist, dann muß es eigentlich verwundern, wie wenig im Vergleich noch immer über die Biographie des Menschen Walther bekannt ist.
Wir kennen weder Zeitpunkt und Ort seiner Geburt noch seines Todes. Wir wissen auch nicht genau, welcher sozialen Schicht er entstammte, auch wenn bestimmte Selbstaussagen in seinen Liedern es sehr wahrscheinlich machen, daß er entweder ein Ministerialer, ein kleiner ritterlicher Dienstmann, oder überhaupt kein Mann von Adel war. Ein einziges Mal nur können wir Walther von der Vogelweide als historische Persönlichkeit fassen, in einer Spesenrechnung des Bischofs von Passau aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts..
Walther von der Vogelweide: Seine Geburt können wir vielleicht gegen 1170 ansetzen, seinen Tod gegen 1230, wobei wir uns darüber im Klaren sein müssen, daß wir in beiden Fällen ohne weiteres zehn Jahre danebenliegen können. Wo ist Walther von der Vogelweide geboren: In Franken? In Südtirol? Im Innviertel? Es gibt höchst unterschiedliche Theorien. Aus dem Inhalt seiner Lieder und Sprüche, unserer Hauptquelle für Walther-Informationen, können wir leider nichts entnehmen, erfolgversprechender erscheint da schon die Form dieser Gedichte, insbesondere die Spuren von Dialekt, so es uns gelingt, den ursprünglichen Walther-Dialekt herauszufiltern, denn auch für Walther von der Vogelweide gilt, daß einhundert Jahre vergingen, bis diese Gedichte schriftlich aufgezeichnet wurden und in einem Jahrhundert mündlicher Tradierung waren sie beinahe mit Sicherheit tiefgreifenden Veränderungen unterworfen.
Der Dialekt mittelalterlicher Literatur findet sich in den gemeinhin zugänglichen Ausgaben nur unvollkommen wieder. Um eine Lesbarkeit in Studentenkreisen - es ist gespenstisch: man scheint von Seiten der Herausgeber offenbar davon auszugehen, niemand werde den Walther "freiwillig" lesen - zu gewährleisten, ist das Mittelhochdeutsch des 13. Jahrhunderts für diese Ausgaben immer wieder "normalisiert" worden, das heißt, es wurde eine mit unserem dudenkorrekten Neuhochdeutsch vergleichbare Kunstsprache geschaffen, die aber im Mittelalter so überhaupt nicht existiert hat.

Dialekt und Goethe

Der Minnesang Walthers war dialektgeprägt, möglicherweise stärker noch als unsere heutige mundartliche Dichtung. Wir müssen durchaus mit dem Gedanken anfreunden, daß ein Lied, das Walther von der Vogelweide am Babenberger Hof in Wien gesungen hat, etwa am Welfenhof in Braunschweig nicht vollständig verstanden worden wäre. Die Bedeutung der Dialekte in der Geschichte der deutschen Literatur wird meines Erachtens bis in unsere Zeit noch nicht ausreichend gewürdigt. Weit über das Mittelalter und die vorgebliche "Erfindung" der gesamtdeutschen Sprache im Zuge der Lutherschen Bibelübersetzung blieb die deutsche Literatur dialektgeprägt.
Noch Goethe reimt "Neische, du schmerzensreische.", ein in der Hochsprache unmöglicher Reim, nicht aber in dem fürchterlichen Frankfurter Dialekt, den dieser große Geist gesprochen hat. Ja, noch viel ärger: Noch auf dem Totenbett, so ist ernsthaft vermutet worden, habe Goethe nicht, wie von Eckermann berichtet als letzte Worte "Mehr Licht" gesprochen, sondern er habe vielmehr "Meh' lischt" gesagt. Und damit haber er nicht etwa ausdrücken wollen "Ich brauche mehr Licht", sondern er habe beabsichtigt, den Satz "Meh' lischt nicht meh am Lebbe!" zu formulieren, "Mir liegt nichts mehr am Leben!", er sei nur nicht mehr damit fertig geworden. Wie dem auch sei, das ganze ist ohnehin nicht viel mehr als eine nett gemeinte Legende, waren doch Goethes letzte Worte weder "Mehr Licht!" noch "Meh Lischt", sondern "Geb mir doch mal einer das Pinkeltöpfsche.", doch das konnten die Goethe-Biographen dem großen Literaten einfach nicht zumuten.

Walther, Reinmar und die „sumerlaten“

Im Waltherschen Oeuvre jedenfalls spielt der Dialekt eine noch viel bedeutendere Rolle als in den Werken des Wahl-Weimarers. Dennoch läßt sich seine Heimat nicht eindeutig ermitteln. Wir kennen jedoch die Stätte seiner ersten Wirksamkeit. Es handelte sich um den Hof der mächtigen Herzöge von Österreich aus der Familie der Babenberger in Wien. Als junger Mann sang Walther dort offenbar einen recht konventionellen Minnesang.
Er war allerdings nicht der einzige Minnesänger an diesem Hof. Zu einem Mann, der wohl eine Generation älter war als Walther, Reinmar dem Alten nämlich, bestand möglicherweise eine Art Schüler-Lehrer-Verhältnis, das später dann in eine Rivalität umschlug. Zeitweise sind diese Tatbestände ziemlich übertrieben worden, viele Lieder Walthers und Reinmars wurden auf diesen Zwist hin ausgelegt, doch sicher sein können wir uns nur bei einigen wenigen Liedbeispielen. Der "Sängerkrieg auf der Wartburg", der von späteren Generationen als legendenumwobene Ausschmückung dieser Geschehnisse zusammenfabuliert wurde, ist jedenfalls kein historischer Bericht sondern selbst ein Werk der fiktionalen Literatur.
Wie aber haben wir uns so einen "real existierenden Sängerzwist" vorzustellen? Haben sich die beiden Minnedichter in ihren Werken gegenseitig verhöhnt und beleidigt? Nein, es sah doch etwas anders aus: Wenn Reinmar etwa wieder einmal die Schönheit einer Dame besang und diese über alle anderen Damen hervorhob, wenn er seine eigene Minderwertigkeit betonte und die so ungeheure Überlegenheit der Dame über alle Maßen betonte, wenn er sich eine Existenz ohne diese Dame gar nicht mehr vorstellen konnte, wenn er also sang:
"Stürbe si, so bin ich tot.",
dann schlug Walther einen ganz neuen Weg ein, er löste sich von den schon traditionellen Minnesangkonzepten des puren Frauenlobes und der Unterordnung des Mannes. Walther griff dann den "Ton", also das Schema, die Metrik, die Melodie Reinmars auf und betonte zur Klimax seinesVortrages:
"Stürbe ich, so ist si tot."
Wenn er, Walther, nicht mehr das Lob einer angebeteten Dame singe, so würde niemand am Hofe diese Dame mehr verehren, niemand mehr ihre Schönheit und Tugend preisen; sie wäre somit wirklich gesellschaftlich "tot". Der Sängerzwist zwischen Reinmar und Walther ist also nicht allein ein Streit um Lohn und Brot am Wiener Hof, sondern auch ein Streit divergierender Auffassung darüber, was Minnesang eigentlich ist.
Walther aber ging noch weiter als in diesem Beispiel. Ein Höhepunkt seiner neuen Sicht der Minne ist etwa das sogenannte "sumerlaten-Lied", in dem er eine Dame kritisiert, die ihn, obwohl er sie immer gelobt und gepriesen hat, nun nicht mehr beachtet. Soll er ihr dennoch auch weiterhin sein Lob widmen?

     Sol ich in ir dienste werden alt
     die wile junget si niht vil
     so ist min har dan also lihte von gestalt
     daz si einen jungen danne wil.
     selfiu got, her junger man,
     so rehet mih und get ir alten hut mit sumerlaten an.

Wenn ich altere in ihrem Dienst, wird sie dabei auch nicht jünger, das wollen wir einmal feststellen. Und wenn sich mein Haar dann lichtet, so daß sie einen Jüngeren will, dann sei Gott auf Eurer Seite, dann rächt mich und verdrescht sie ordentlich mit sumerlaten, mit dünnen Gerten, daß es so richtig weh tut.
Stellen wir uns hier die Reaktion des kultivierten Babenberger Hofes vor, als dieses Gedicht vorgetragen wird. Stellen sie sich vor, daß dieser Hof die  ritualisierten, überaus verfeinerten Lieder der Reinmar-Generation gewohnt ist, stellen sie sich vor, wie die Herzogin zwischen ihren Damen sitzt und womöglich fühlt sie sich angesprochen!
Ich sage, stellen sie sich das vor, denn wir wissen nicht, wie dieses Gedicht in Wien aufgenommen wurde, genauer gesagt wissen wir nicht einmal, ob Walther es gewagt hat, es dort überhaupt vorzutragen, was wir aber wissen, ist, daß Walther es auf einmal sehr eilig hatte, aus Wien zu verschwinden. Allerdings muß ich hinzufügen, daß hier neben Kritik an seinem "neumodischen" Minnesang mit Sicherheit auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben, so etwa der überraschende Tod Herzog Leopolds auf seinem Kreuzzug.
In seiner Frauenschelte konnte sich Walther übrigens in eine altehrwürdige Tradition stellen, die es mit Minnesang ohne weiteres aufnehmen kann. So hat schon sein und Andre le Chappelains großes Vorbild Ovid in seinen „Remedia Amoris“, den „Heilmitteln gegen die Liebe“, tatkräftige Ratschläge gegeben, wie man verhindern könne, sich aus Liebe allzusehr an eine Frau zu binden:
„Wo du es kannst, verkehre die Vorzüge des Mädchens in Nachteile und verfälsche dein Urteil ein wenig. Aufgeschwollen nenne sie, wenn sie üppig ist; ist sie dunkel, nenne sie schwarz. Ist sie schlank, so kannst du ihr Magerkeit zum Vorwurf machen.“

Wanderzeit und „politische Lyrik“

Walther, der offenbar kein sicheres Auskommen aus reichem Landbesitz im Rücken hatte wie viele seiner Sängerkollegen, war also nun, in den Jahren 1197/98 ein Minnesänger ohne feste Anstellung, er mußte sich, um überleben zu können einen neuen Dienstherren finden. Wir wissen, daß er weit herumgekommen ist, denn er berichtet davon in seinen Liedern:
In Meißen ist er gewesen und am Hof des Landgrafen von Thüringen, der sich zu dieser Zeit noch in der Stadt Eisenach befand und nicht auf der nahegelegenen Wartburg auf die dann in der Sage der Sängerkrieg verlegt wurde, am Hof des Grafen von Katzelnbogen, im Gefolge des Erzbischofs Engelbert von Köln, vor allem aber am Hofe des Königs.
Nun war die Zeit der Wirksamkeit Walthers von der Vogelweide in Deutschland eine überaus finstere, von schweren Bürgerkriegen zerrissene Epoche. Noch wenige Jahre zuvor hatten die römischen-deutschen Kaiser einen Höhepunkt ihrer Macht erlebt. Kaiser Heinrich VI., der älteste Sohn Friedrich Barbarossas hatte 1194 das Erbe der normannischen Könige im süditalienisch-sizilischen Königreich antreten können und es sah so aus, als würde er auf einem gewaltigen Kreuzzug auch das Heilige Land in sein gewaltiges Reich einfügen können. Doch dazu sollte es nicht kommen: Heinrich VI. starb im September 1194 unter ungeklärten Umständen in Messina und fast augenblicklich brach die Machtstellung seiner Familie, der Hohenstaufen, in Italien zusammen. In Deutschland sah sich nun Heinrichs jüngster Bruder, Philipp, Herzog von Schwaben, vor die Aufgabe gestellt, die Nachfolge für seinen erst zweijährigen Neffen, den noch in Italien weilenden Friedrich II. zu sichern, doch das erwies sich als nicht durchführbar. Ein großer Teil der deutschen Fürsten wollte einen anderen Mann auf dem deutschen Thron sehen, nämlich Otto IV. aus der mächtigen Familie der Welfen. Unter diesen Umständen schien es den Parteigängern der Hohenstaufen unmöglich, das Königtum eines zweijährigen Kindes durchzusetzen und sie drängten Philipp, selbst nach der Krone zu greifen.
Und wer befindet sich in diesem Augenblick bereits am Hofe Philipps von Schwaben, wer beschwört ihn in bildergewaltiger Sprache, sich die Krone aufs Haupt zu setzen: Sie ahnen es, kein anderer als Walther von der Vogelweide. In seiner Argumentation holt er weit aus, aber hören Sie gut zu, denn wenn sie eines von Walthers Werken kennen, wird es mit ziemlicher Sicherheit der nun folgende "Reichston" sein.
     "Ich saz uf eime steine
     und dahte bein mit beine
     dar uf satzt ich den elenbogen
     ih hatte in mine hant gesmogen
     daz kinne und ein min wange
     do dahte ich vil ange
     wie man zer welte solte leben
     deheinen rat kund ich gegeben
     wie man driu dinc erwurbe
     desn keines niht verdurbe
     die zweier sint ere und varnde guot
     des michel ein ander schaden tuot
     daz drite ist gotes hulde
     der zweier übergulde.
     Die hete ich gerne in einen schrin
     doh leider desn mac niht gesin
     daz guot und weltlich ere
     und gotes hulde mere
     zesamene in ein herze komen
     stige und wege sint in benomen
     untriuwe ist in der saze
     gewalt vert uf der straze
     fride unde reht sint sere wunt
     die dreier enhabent geleites niht die zweie enwerden e gesunt.“

Es ist die antike Philosophen- und Denkerpose in die Walther hier schlüpft: Er sitzt auf einem Stein und schlägt die Beine übereinander, er dacht sie übereinander, es ist nicht unser neuhochdeutsches "dachte", das Präteritum von "denken". Auf das Knie stützt er seinen Ellbogen und schmiegt Kinn und Wange in die Handfläche. In dieser Stellung beginnt er nun in der Tat "nachzudenken", über den Zustand der Welt nämlich, welcher gewährleisten solle, daß man zugleich Reichtum, Ansehen und, was das wichtigste ist, die Gnade Gottes erwerben könne.
"Doch die Verhältnisse die sind nicht so!" könnte man mit einem Dichter unseres Jahrhunderts, mit Bertholt Brecht, sagen. Gewalt und Verrat sind allenthalben unterwegs, es ist unmöglich, ein reiches, angesehenes und gottesfürchtiges Leben zu führen. Philipp soll die Krone aufsetzen, das ist Walthers Forderung in späteren Strophen, und für Recht und Ordnung sorgen, dann wird auch der positive Zustand, in dem man Besitz, Ehre und Gottes Gnade erwerben kann, wiederhergestellt.
Dieser Sangspruch Walthers von der Vogelweide, denn wir sprechen hier nicht vom Lied, da diese Sprüche offenbar auch einzeln und nicht allein im Kontext des Liedes vorgetragen werden konnten, ist so ziemlich das Einflußreichste gewesen, was er verfaßt hat: Es ist die Geburtsstunde der politischen Lyrik in deutscher Sprache. Walther hatte das Sangspruch-Genre bereits vorgefunden, aber er hat es nach seinem eigenen Ermessen völlig neu definiert. Und auch darin liegt ein großer Teil seiner Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte. Etwas davon müssen auch bereits seine Zeitgenossen empfunden haben, denn nicht umsonst wird Walther von der Vogelweide in mittelalterlichen Handschriften, allen voran der berühmten "Manessischen" durchgängig in jener Philosophenpose dargestellt, in die er für den Reichston geschlüpft war. Wenn nun einige moderne Walther-Interpreten behaupten, die Sangspruchdichtung habe "zur Nachtseite" von Walthers Existenz gehört, so ist dies zwar sehr anmutig formuliert, doch entbehrt es meines Erachtens jeder Grundlage.
Walther ist in den folgenden Jahren auch für andere Thronbewerber tätig gewesen: Nach der Ermordung Philipps etwa für dessen einstigen Gegner und schließlich sogar für den inzwischen zum Jüngling - heute würde man wohl eher sagen "Teenager" - herangereiften Friedrich II. Im 19. Jahrhundert hatte man mit diesem Verhalten Walthers von der Vogelweide die allergrößten Probleme. Da hatte man sich den großen Minnesänger so schön als "graue Eminenz" zurechtkonstruiert und sah sich nun mit der Tatsache konfrontiert, daß eben dieser Mann offenbar das politische Lager zu wechseln pflegte wie andere Leute ihre Leibwäsche.

Honorierung

Dabei liegt genau da, nämlich ganz konkret bei der Leibwäsche, die Erklärung. Erinnern wir uns an die Spesenrechnung des Bischofs von Passau: Getragene Kleider, Verpflegung, ein bescheidenes Auskommen, das war es, worum sich Walther von der Vogelweide bemühen mußte und was ihn sein Leben lang beschäftigte: Die Angst ohne ein Engagement erfrieren und verhungern zu müssen. Da konnte er einem Dienstherrn nicht einfach den Rücken kehren, weil ihm dessen politische Couleur nicht zusagte. Dort wird eine kleine Geldsumme notiert, die aufgewandt wurde, um dem "cantor", wie es heißt, Walther von der Vogelweide abgetragene Kleider zu verschaffen.
Abgetragene Kleider, das kommt überraschend. Das will weder mit dem zusammenpassen, was wir bisher über die Minnesänger erfahren haben, daß sie nämlich durchaus vermögende Männer waren, Vertreter einer gesellschaftlichen Schicht, die durchaus Zugang zum Hofe hatte, noch läßt sich das mit der Rolle vereinbaren, die vor allem im 19. Jahrhundert für Walther von der Vogelweide in Anspruch genommen wurde. Eine Art "graue Eminenz" der deutschen Politik in den Jahren der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert hatte man da in dem wandernden Sänger Walther erblicken wollen, doch heute herrscht im Grunde Einigkeit darüber, daß dies seiner Stellung an den Höfen, an denen er im Laufe seines Lebens diente, nicht gerecht wird. Er war angewiesen auch auf die kleinsten Gaben. Er war kein reicher und angesehener Mann, wohl aber ein Künstler mit Leib und Seele.
Aber Walther hat auch weiterhin Liebeslieder geschrieben und diese gehören zum schönsten, obendrein aber wohl auch zum ehrlichsten und eindringlichsten, was uns an mittelalterlicher Liebeslyrik erhalten ist. Neben dem konventionellen Minnesang französischer Prägung stehen dabei immer wieder Innovationen Walthers, zum Teil revolutionäre Neuerungen, die vielleicht für den Vortrag bei Hofe nur bedingt geeignet waren. So preist er die Schönheit einer Angebeteten, die er heimlich beim Bade beobachtet hat.
Walther von der Vogelweide als Voyeur, als Spanner, das ist nicht nur eine Vorstellung, die zugegebenermaßen sehr reizvoll erscheint, das ist an sich auch ein unerhörter gesellschaftlicher Fauxpas: Die Regeln für die Beschreibung einer höfischen Dame sind nämlich in der Minnesangkultur ausgesprochen eng: Die Haare sind blond, die Haut ist weiß, die Augen sind blau, die Lippen sind rot. Wir erinnern uns: Sie sehen alle so aus, es gibt keine Ausnahme, es ist Konvention. Wie die Dame wirklich aussah, scheint beinahe zweitrangig gewesen zu sein, was zählt ist allein dieses Ideal: Die Haare sind blond, die Haut ist weiß, die Augen sind blau, die Lippen rot, der Hals ist schmal und wohlgeformt, die ... Hände sind ebenfalls schmal und wohlgeformt und wenn es hochgekommt auch noch die Füße. Was sich aber dazwischen befindet ... zwischen Hals und Kopf und Füßen, so darf eine höfische Dame solche Körperteile überhaupt nicht haben, denn das wäre unanständig. Was arme Frauen anbetrifft, wieder erinnern wir uns, das ist etwas ganz anderes, aber eine höfische Dame ist nicht nur eine Dame ohne Unterleib, sie ist im Grunde eine Dame völlig ohne Leib.
Wenn Walther von der Vogelweide aber nun immer wieder sehr selbstbewußt über Konventionen des Minnesangs hinwegstürmt, so bedeutet das keinesfalls, daß er keine Grenzen gekannt habe. Nein, ganz im Gegenteil, in der Welt des Minnesangs spuken weit extremere Geister umher als ein Walther von der Vogelweide.

Neidhart und Oswald

Neidhart aus dem Reuenthal etwa verlegt in seinen Minneliedern die Minnesituation von der höfischen Festtafel auf den Bauernhof. Der Knecht verkleidet sich als ritterlicher Sänger und die dralle, dreiste Magd macht sich als höfische Dame zurecht. Natürlich kann das nicht lange gutgehen: Wüstes Krakelen, Saufgelage, Prügeleien, die Mägde und Bäuerinnen geraten sich in die Haare, das ganze endet in einem derben Mißklang.
Damit konnte Walther von der Vogelweide wenig anfangen. In seinen späten Gedichten bedauert er immer wieder, daß der höfische Minnesang in Gefahr ist, durch derartige "dörperliche" Dichter verdrängt zu werden. Nein, Walther von der Vogelweide ist nicht bereit, dem "dörperlichen" Modetrend zu folgen. Er fühlt sich wohl auch zu alt dazu. Wichtiger ist ihm jetzt ein festes Dach über dem Kopf und natürlich, das Mittelalter ist ja sehr fromm, nach seinem Tode der Einzug ins Paradies.

Vom Wiener Hof mußte Walther verschwinden, Philipp von Schwaben wurde ermordet, Otto IV. erwies sich als erschreckend geizig, Walther hat das später in harten und verletzenden Worten betont. Noch immer hatte der alternde Minnesänger kein Auskommen, keinen kleinen Bauernhof, von dessen Einkünften er im Alter leben konnte, kein kleines Lehen, nach dem er sich Zeit seines Lebens gesehnt hat.
Erst Friedrich II. ist es, der Walther um 1220 diesen sehnlichen Wunsche erfüllt und der Dichter ist voll des Dankes über die Freigebigkeit des jungen Königs, in dessen Diensten er für den Rest seines Lebens stehen wird. Walther hatte angekündigt, er werde nun wieder von Blumen und schönen Damen singen, doch das scheint er nicht wahrgemacht zu haben.
Seine späten Lieder beschäftigen sich vor allem mit religiöser Problematik, es finden sich etwa Aufrufe zum Kreuzzug Friedrichs II., vor allem aber Klagen darüber, wie schlecht die Welt doch geworden sei. Wir wissen dabei gar nicht genau, ob es sich hier wirklich durchgängig um Alterslieder handelt oder ob Walther bei Gelegenheit schon viel früher in das Kostüm des lamentierenden Alten geschlüpft ist, jedenfalls sind viele dieser Lieder ausgesprochen eindringlich und ich will Ihnen deswegen zumindest einen Teil der Elegie Walthers nicht vorenthalten, einen Teil der Elegie, die sie auf der Audiocassettenversion dieses Vortrages in der Fassung hören können, die ich exklusiv für diese Cassettenproduktion mit der Musikgruppe König / Rother aufgenommen habe.
     Ouwe war sint verswunden alliu miniu jar
     ist mir min leben getroumet oder ist es war
     daz ich wande ez waere was daz allez ist
     darnach han ich geslafen un enweiz es nicht
     nu bin ich erwachet und ist mit unbekannt
     was mir hievor was kündic als min ander hant
     mich grüezet maneger traege den ich bekande e wol
     diu welt ist allenthalben ungenaden vol
     daz liut und lant dar innen von kind ich bin erzogen
     die sind mit worden frömde als ob es si gelogen
     die min gespielen e waren die sind nu traeg und alt
     gebreitet ist das velt verhouwen ist der walt
     wenn niht daz wazzer flözze als ez wilent floz
     fürwar min ungelücke wande ih wurde groz
     da ih gedenke an manigen seneklichen tac
     die mir sint entfallen sam in das mer ein slac,
     iemer mer ouwe.

Oweh, wohin sind alle meine Jahre verschwunden? Habe ich mein Leben nur geträumt oder war das die Wahrheit? Glaubte ich nur, es wär so gewesen wie es mir erschien? Demnach habe ich geschlafen und weiß es nicht. Nun bin ich aufgewacht und mir scheint unbekannt was ich früher so gut kannte wie meine eigene Hand. Viele grüßen mich nachlässig, die ich einst gut kannte. Die Welt ist insgesamt so unfreundlich geworden. Das Land und die Menschen meiner Kindheit sind mit fremd geworden, als wäre alles eine Lüge. Diejenigen, die meine Spielgefährten waren sind müde und alt geworden. Die Felder sind angewachsen, der Wald ist abgeholzt. - Keine Einbildung in diesem Falle, sondern eine sehr richtige Beobachtung, Walther beschreibt hier die hochmittelalterliche Rodungswirtschaft. Wenn nicht das Wasser noch so flöße wie es das einst getan hat, würde mein Unglück unermeßlich groß, sobald ich an all die herrlichen Tage denke, die dahingeschwunden sind wie ein Tropfen Wasser im Meer. Alle Zeit oweh!
Das Ganze endet dann allerdings doch etwas versöhnlicher: Walther spricht von seiner neu erwachten Frömmigkeit und von seiner Hoffnung, daß er auf seine alten Tage vielleicht doch noch das Meer überqueren könne, um im Heiligen Land das Grab Jesu Christi mit seinen eigenen Augen zu erblicken. Dann habe er seine Chance auf einen Platz im Paradies und dann werde er niemals mehr oweh rufen, niemals mehr oweh.
Wir wissen nicht genau, wann Walther von der Vogelweide gestorben ist. Wenn wir seine Kreuzzugslieder auf das Ende der 1220er Jahre ansetzen, als sich die Kreuzzugspläne Kaiser Friedrichs II. mit zehnjähriger Verspätung und unter schärfsten Sanktionen des Papstes konkretisierten, dann muß Walther wohl gegen 1230 oder kurz danach gestorben sein.
Der Tod Walthers von der Vogelweide war natürlich nicht das Ende des Minnesangs überhaupt, aber mit dem Tod Walthers oder spätestens mit Neidhart hörte der Minnesang auf, ein schöpferisches Genre zu sein. Die Formeln eines Heinrich von Morungen, eines Kürenbergers, eines Reinmar, eines Walther, eines Neidhart werden noch immer wiederholt, ein um das andere Mal, noch zweihundert Jahre lang, doch wir vermissen das Neue, den frischen Wind. Von Oswald von Wolkenstein etwa, dem letzten Minnesänger, wenn sie so wollen, der noch im 15. Jahrhundert Minnelieder geschrieben hat, ist uns ein gewaltiges Œuvre überliefert, schon allein, weil Oswald alles selbst notiert hat, aber er ist auch nicht mehr als ein Epigone, der alte Formeln wieder aufgreift.
Die Bedeutung Oswalds, vor allem aber seine Beliebtheit, rührt daher, daß er seinen Liedern Notenbeispiele beigegeben hat, so daß wir sie heute in Text und Melodie nachempfinden können. Oswald-Lieder sind daher bei mittelalterlich klingenden Ensembles heute heiß begehrt und stark vertreten. Skepsis ist dagegen bei "mittelalterlichen" Vertonungen von Walther-Liedern angebracht. Ja, es stimmt, es sind in mittelalterlichen Handschriften Noten zum Kreuzlied, zum Ottenton, zum Reichston Walthers überliefert, doch sie sind sehr unzuverlässig, weder die Tonhöhe noch die Länge der Noten ist eindeutig ablesbar. Wer diesen Systemen folgt, bewegt sich auf sehr dünnem Eis.
 

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