Pfr. i.R. Dr. phil. Dr. theol. Michael Lütge Samstag, 12. Oktober 2013
Muttis 99. Geburtstag
Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater. Bei diesen Worten fängt schon alles an. Allmächtig? Und was war da mit Lissabons Erdbeben und Hitler und Fukushima? Sind das Pannen oder Spielchen Gottes? Oder hat er Lehrstücke entworfen, aus denen wir lernen sollen: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Nie wieder Atomkraft nutzen! Hätte Gott das nicht auch ohne Katastrophen in unsere Herzen schreiben können? Als natürliche Erkenntnis des göttlichen Gesetzes? Ein Gott der Liebe bräuchte keine Züchtigungen und Unzüchte. Er könnte auf die Vernunft seiner Kinder vertrauen. Ein Vater, der seine Geschöpfe derartig leiden läßt, ist ein Rabenvater, ein Fall fürs Jugendamt. Ein Gott, dessen wichtigstes Zeichen in der Kirche das Kreuz, der Hinrichtungsbalken mit einem Ermordeten daran hängend, ist, flößt Furcht ein, lehrt die Grausamkeiten vergangener Epochen.
Was anders könnte denn Allmacht bedeuten als alles könnend, alles beherrschend, alles regierend und alles vorherbestimmt habend am Anfang der Zeit? Gott als Supermann, Supervater, Weltherrscher, Allbeherrscher, Allschöpfer, Urknallzünder, Beweger der Ursuppe und Bildner der Galaxienkluster?
Die Potestas, die Macht, könnte aber auch als Flügelschlag eines Schmetterlings und Windhauch am Horeb erfahren werden, nicht als das Tosen und Brausen von Donner, Blitz, Sturm, Erdbeben und Tsunami. Politisch ist die stärkste Macht auch nicht die militärische Attacke, sondern die Belagerung, das Aushungern, die Drohung, das Embargo, Zinspolitik, Zollgrenzen, Steuerstaffelung und Gesetze.
Die Formen der Gewalt, direkte physische oder strukturelle indirekte, geteilt in Legislative, Jurisdiktion, Exekutive und Öffentliche Meinung als Medienmacht, sind sehr verschieden und das vermeintlich Schwache kann eine gewaltige Kraft bewirken. Luther war eine solche schwache Kraft, Jesus noch viel mehr. Ein einfacher Mensch aus unteren Schichten setzt eine religiöse Revolution in Gang. Ähnliches gilt für Marx und Engels, ob es einem gefällt oder nicht. Sie haben die Oktoberrevolution involviert, am Anfang stand eine Theorie, dann kam die Aufhebung der Monarchie und die Diktatur des Proletariats, in der sich flugs neue Machtkartelle bildeten, Stalin war schlimmer als der Zar. Es geht mir um die Macht des Wortes, der Theorie, der Glaubensvorstellungen, der Vorurteile, der Propaganda, der Intellektuellen, der Forschung und wissenschaftlichen Paradigmen – um die Macht des Geistes.
Allmächtig
könnte dann auch heißen: in allen Dingen
wirkend, und zwar in der Schwachheit homöopathischer
Dosierungen. Wenn Gott
alles in allem ist, das All durchwirkt in schwacher Kraft,
könnte er als Geist
in der Materie, als innerweltliche Schwach-Energie, etwas sein wie eine
verborgene Gerichtetheit der in ständiger Weiterentwicklung
begriffenen
Materie, als Tendenz-Latenz der Prozeßmaterie. In
diesem Prozeß als bewußte Subjekte des
göttlichen Geistes mitzuwirken, ist der
Vorsatz, „und mit unserer kleinen Kraft üben gute
Ritterschaft“. Die
kleine Kraft Gottes in allen Dingen ist nicht fehlerfrei. Sowenig wie
wir alle
es sind. Wir machen ständig Fehler und lernen mehr oder
weniger schnell, es
etwas besser zu machen. Es sind nur graduelle
Verbesserungen, viel zu wenig Fortschritt für unseren Wunsch
nach
Vollkommenheit und einer versöhnten, gerechten, freien Welt.
Die Placebo-Forschung zeigt, daß der Glaube an die Wirkung eines Präparates oft schon genau die Prozesse im Körper inauguriert, die eigentlich auf biochemischem Wege das Präparat bewirken sollte. Politisch gewendet erlebt man den „Glaubenseffekt“ auf sensibelste Weise an der Börse. Kurse fallen durch Gerüchte, durch Befürchtungen und so lösen Befürchtungen wie beim Paranoiker genau die Effekte aus, die sie befürchtet haben. Der Glaube an etwas kann dieses bewirken. Der Glaube kann ein mächtiges Wirkmittel sein. Deshalb ist es so unglaublich wichtig zu kontrollieren, was die Leute glauben. Deshalb ist die Medienwelt zur vierten Gewalt im Staat geworden. Glaube kann Berge versetzen.
Es kommt aber darauf an, was wir glauben. Und da kommt die Zukunftserwartung, die Hoffnung, die Eschatologie ins Spiel. Wenn ich glaube, daß es auf ewig Kriege und Hunger und Unterdrückung geben wird und immer schon der Stärkere gesiegt hat, werde ich Krieger und unterdrücke andere, um selbst über die Runden zu kommen. Ich füge mich ein in die immergleiche Weltordnung, ja Schöpfungsordnung. Ich habe keine Utopien, keine Träume, keine Alternativen für die Zukunft.
Erst wenn ich glauben kann, daß diese Welt veränderbar ist, werde ich fähig, über Möglichkeiten der Veränderung nachzudenken und Pläne für meine Träume zu schmieden. Viele Reiche und Mächtige haben dies seit Jahrtausenden getan und die Welt nach ihren partikularen Egoismen umgestaltet, eine Wende nach der anderen arrangiert, industrielle Revolutionen involviert, Beutezüge in die Kolonien befohlen, die offenen Adern Lateinamerikas ausbluten lassen und mit dem Gold der Inkas katholische Kirchen prunkvoll bestückt. Die Kirche versteht sich auf die Ausbeutung des Volkes in besonders raffinierter Weise und hatte mit dem Schwert der Obrigkeit stets eine heilige Allianz.
Deshalb ist es so schwer, an einen Gott zu glauben, der selbst Fehler macht, der durch Irrwege und Täuschungen hindurch versucht, innerhalb der Menschengemeinschaft einen Diskurs der größtmöglichen Gerechtigkeit, des größtmöglichen Friedens und der größtmöglichen gegenseitigen Fürsorge und Behutsamkeit und Achtsamkeit zu entwickeln und auszuhandeln. Es gibt so fürchterlich viele Beispiele von mittelalterlicher Grausamkeit mit modernster Technologie. Amerikanische Drohnen in Pakistanischen Bergen töten Kinder als Nebeneffekt der Talibanvernichtung. Lampedusa ist zum Symbol der menschenverachtenden Politik einer Festung Europa geworden, die durch 400 Ertrunkene Afrikanische Flüchtlinge nicht irritierbar ist.
Aber es gibt auch Zeichen eines Wandels, bei dem vernünftige Argumente handlungsleitend wurden, etwa die vor dreißig Jahren noch gänzlich unvorstellbare Möglichkeit, durch Solarmodule und Windräder den größten Teil unseres Energiebedarfs langfristig zu erzeugen und zu sichern, mit dem Nebeneffekt, immer weniger von Uranlieferungen, Öl und Gas abhängig zu werden und so auch weniger erpreßbar zu sein.
Allmacht Gottes wäre also die Macht des Glaubens an die Veränderbarkeit der Welt zu einem Planet der Gerechtigkeit und des Friedens, zum Reich Gottes. Diese Macht der Hoffnung in den Menschen würde sie motivieren, auf diese Ziele hin zu arbeiten und zu leben. Die Mächtigen haben die Welt zu ihren Gunsten bereits gnadenlos verändert, Konzerne im internationalen Monopolkapitalismus diktieren Staaten ihre Handlungsweisen, etwa Shell im Kongo. Dagegen ist die göttliche Kraft in den Schwachen relativ klein und ohnmächtig. Wir müssen also die Allmacht Gottes mit der Ohnmacht Jesu zusammendenken, ein Kind im Stall in einer Krippe liegend verändert die Welt, wird zum Hoffnungsträger, zum Messias der Armen, scheitert an der Angst der Mächtigen in Jerusalem vor Aufruhr, wird ermordet und löst damit ein bespiellose Bewegung aus, die wie der Kommunismus alsbald institutionalisiert in ein Herrschaftsinstrument der Kaiser mutiert.
Und trotzdem gibt es immer wieder Neubesinnungen in der Kirche und den nach ihrem Moralcodex strukturierten Staatsgemeinschaften, die auch auf säkularer Ebene die unantastbare Würde des Menschen zum höchsten Gut erheben, als UNO Kriege ächten und vermeiden helfen. Es ist nicht leicht, aus einer Schaar herunterentwickelter und einer machtvollen kleinen Gruppe hochgerüsteter Staaten eine Welt-Innen-Gesellschaft werden zu lassen. Aber wir sind erst am Anfang dieser Bewegung und wie sich die Fürstentümer des Mittelalters zu Nationalstaaten zusammengerauft haben, ist auch die USA, die UDSSR und Europa im Begriff, zusammenzuwachsen zu friedlichen Gemeinschaften, innerhalb derer Konflikte ohne direkte Gewalt ausgehandelt werden.
Selbst die Bedrohung durch Atomwaffen könnte allmählich der Vergangenheit angehören und durch wesentlich effektivere Konfliktlösungsstrategien vollständig ersetzt werden – noch zu unseren Lebzeiten. So rasant sich Massenvernichtungsmittel etabliert haben, so rasant könnten sie durch niederschwelligere Waffen ersetzt werden und vielleicht gelingt eines Tages ein waffenloses Austragen der großen globalen Konflikte von Arm und Reich.
Bei allen Argumenten gegen diese vorsichtige Hoffnung auf das Heranwachsen der Saat Jesu im Acker dieser Welt in Richtung auf das Reich Gottes, in dem Lahme gehen, Blinde sehen und den Armen frohe Botschaften von großer Sättigung verkündet werden – wenn man die Welt für schlecht und verdorben hält und die Menschheit für nicht entwicklungsfähig hält, für unfähig, das Recht des Stärkeren durch die Vernetzung der Schwachen aufzuheben und auszuhebeln, dann zementiert man diesen Status quo im Sinne der selffulfilling prophecy, weil man der Alternative anderer wirtschaftlicher und politischer Versuche keine Chance gibt. Damit wird man zum direkten Verhinderer eines Besseren. Nur wer an das Heranwachsen des göttlichen Friedensreichs glauben kann, ist ein Tropfen auf den heißen Stein des tagtäglichen Unfriedens.
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