Proseminararbeit
Dr. Erika
Reichle
Dezernat
Sozialethik
Eberhard-Karl-Universität
Tübingen
Sommersemester
1974
„Medizinische
Ethik“
Einige
Überlegungen zum Problem von
Christentum
als chronischer Massenschizophrenie
Michael
Lütge
5. Fachsemester
Theologie
74
Tübingen
Herrenberger
Str. 28
Inhalt
I.
Verarmung von Lebensfülle durch
Theologie?
Mensch,
Geschöpf Gottes, imago dei
Schreibtischleben
– Theologie mit
dem Nürnberger Trichter
Schüler
als Objekt – Prüfung und
Notenvergabe statt Diskurs
Ziel
der Arbeit: Analogien
zwischen Gläubigen und Patienten
Der
Philosoph schwätzt daher und
der Malocher hört es nicht.
Praxis
für Theoretiker:
Industriepraktikanten ohne Gehalt
Fernseher,
Bier und ab geht’s in
die Grandiosität des Helden
Krimimorde
als Kompensation
frustriert-ärgerlicher Bürger
Sachlichkeit
und die Sache Jesu:
Gerechtigkeit und Frieden
Gelebte
Bücher: Theorie eigener
Lebenspraxis
Emanzipative
Sprache als Pädagogik
der Unterdrückten
Gott
und das Wort. Wie er unsere
Frömmigkeit aufmischt
Kastration
Gottes durch Sprache
Erlösungsverheißung
und
Freiheitsschrei
Gott
als Motor der Materie.
Möglichkeit und Wirklichkeit
Bonhoeffers
Option für Hitlers Tod
und Gottes Ohnmacht
Sprache
als Blockade von
Erkenntnisprozessen
Das
Schwellen und die Schwelle.
Sturm und Drang der Jugend
II.
Antipsychiatrie als Zulassen
eigener Erfahrungen
Texte
zur Erfahrungstheorie;
Erfahrungsstummel
Erfahrung
der Entfremdung von
eigener Erfahrung
Gegen
Positivismus:
Verblendungszusammenhang als Gesundheit
Wirklichkeit
ist Gruppenkonsensus,
kein Ansich
Somatik
als Ausweichmöglichkeit
für Gequälte und Psychiater
Diagnose-Glossare
als Ettiketten
und Stigmatisierungen
Zur
Möglichkeit psychoanalytischer
Erkenntnis
Biochemie
und Steuerung des
seelischen Apparates
Pharmakologischer
Totalitarismus
Diagnose
im hermeneutischen Zirkel
Erkenntnis
der Seele als mutueller
Dialogprozeß
Erkenntnisinteressen
der Analyse
Zwei
Modi der Kommunikation:
Körpersprache und Worte
Allgemeine
Interpretation des
besonderen Leidfalls
Arzt
und Patient in der Analyse
Reflexion
als Krankheit: Der
philosophische Grübelzwang
Verfall
der Reflexion durch ihre
Delegation an den Analytiker
Krankheit
als Abnormität. Zur
Kritik Kurt Schneiders
Regelkreise
der sozialen
Ausgliederung in Subkulturen/Kulte
Zwangseinweisung
als Regelfall in
der Psychiatrie
Vergangenheitsbewältigung,
Wiederholungszwang, Übertragung
Vergangenheitsbewältigung
politisch: autoritärer Charakter geerbt
Mensch
im Rudel. Faschismusanfälligkeit
mangels Ichstärke
Mut
zur Reise: die Psychose als
Abenteuer
Laings
wachsende Würdigung der
Schizophrenen
Selbstbewußtheit
als Schutz vor
Verschlungenwerden
Aushungern
im belagerten Versteck
Identität
als Problem und Hobby
Intererfahrung,
Faktoren von
Erfahrung
Übereinstimmung,
Verstehen und
Realisation
Projektionsspiralen
und Autonomie
Wiedergeburt
als Neuerfindung des
Selbst
double
bind – Schlüsselstruktur
schizophrenogener Beziehungen
III.
Neurosen und Psychosen
soziologisch
Herrschaftspyramide
in den
Betrieben
IV.
Schizophrene Strukturen im
Christentum
Zur
Methode: „Volltreffer“
anstelle longitudinaler Feldstudien
Schizophrenie
und schizoide
passagere Dekompensation
Der
Konfirmandenunterricht übt das
Sünder-Sein ein durch Beichte
Mythos
zwischen Vernunft und Wahn:
Die Schwächeren irren
Die
wesentlichen Merkmale der
Schizophrenie
Gott
im Volk Israel: Spaltung in
Gerechte und Gottlose
Gnostische
Weltentfremdung:
Finsternis und Ort des Bösen
Jesu Beziehungsfähigkeit
zu den Sündern
Sünde bei Paulus als
ichfremde Macht von außen
Glaube
als Aufhebung
paranoider
Mißtrauensrückkopplungszirkel
Jesu
Glaube als Ungehorsam-Werden
in der Verzweifelung
Trauerarbeit
und Melancholie:
Inkorporation des Toten
Ostervisionen
– Melancholische
Internalisierung Jesu
„Objektive
Heilstaten“ Gottes wie
etwa Auferstehenlassen
Paulus
als Visionär: Jesusvisionen
verleihen Kerygma-Macht
Auferstehung
als Pneuma-Erlebnis:
Der „Geist“ ersetzt Jesus
Ostervision
als legitimierende
prophetische Berufungsvision
Größenwahn
der Apostel als
narzißtische Grandiosität
Auferstehung
als Mythos des Sieges
einer Bewegung
Die
Inkorporation Christi als
melancholische Identifikation
Geistbesitz
als Beweis göttlicher
Durchdrungenheit
Wie
mache ich Leben unerträglich?
Paranoide Diastase zur „Welt“
Paulinisch-gnostische
Dualismen
als Weltausgrenzungsklischees
Jesu
Versöhnungstod beschuldigt
alle Menschen als Sünder
Die
Herabstufung aller Menschen zu
Sündern
Die
double bind der
Rechtfertigungslehre
Der
Übergriff der Gottesliebe als
depressive Selbstdestruktion
Gemeinde
als soziales Netz der
Sünder
Paranoide
Weltfeindschaft der
Christen
Aus
Opfern werden Täter: Strenge
Kirchenzucht
Gemeinde
– kollektiver Narzißmus –
Wut gegen Abweichler
Kirchraum
als Uterus und Gratifikation
durch Konfluenz
Zelebrierte
Demut: schlechhinnige
Abhängigkeit vom Strafgott
Luthers
Depressivität als Folge
von sozialisatorischer Gewalt
Schlagrituale
in Schule und daheim
als Liebeszucht
Neurose
als gefundenes Fressen für
den evangelikalen Missionar
Römer
7: Fleisch und innerer
Mensch als Schlachtfeld des Geistes
Dissoziation
des Körpers als
Gefängnis und schlechte Außenwelt
Die
tollkühnen Märtyrer ohne
Schmerzen in der Folter
Luthers
Zwei-Reiche-Lehre als
schizoide Weltordnung
Gottes
Vorsehung für den
schwäbischen Pietisten
Christliche
Psychose als
Zurüstungsarbeit zur Weltverantwortung
Der Autor schrieb dieses
Jugendwerk mit 21 Jahren, nachgerade evangelikal begeistert von Jesus,
Bonhoeffer und Kierkegaard, hoffend auf eine Welt ohne Hunger und Krieg
noch zu
Lebzeiten, mit 400 DM und Kohleofen im Hause Hermann Hesses zu seiner
Buchhändlerzeit bei Osiander auf 12qm lebend mit Toastbrot und
Spiegelei, um
alles Geld in theologische Bücher zu stecken. Er war zornig
auf die satten
bundesdeutschen Verhältnisse, konnte die angeblichen
Plausibilitäten der
theologischen Argumente Jüngels nicht nachvollziehen, suchte
nach Beweisen für
Gott und fand keine.
Theologie war eine riesige Blase
von kaum beweisbaren Vermutungen über Jesus, Jeremia und
Jesaja. Es gab nur
Textfunde und einen Rattenschwanz von Lehrmeinungen, wo ein Professor
vom
anderen oft wörtlich aus dessen Bibel-Kommentar abschrieb,
ohne zu zitieren.
Nur Gestus und Wortwahl gerierten sich wissenschaftlich. Es ging darum,
eine
bestimmte Form des Schreibens zu demonstrieren. Es ging niemals um
historisch
sichere Beweise. Selbst Grabungsfunde müssen gedeutet werden.
Und die
Deutungsmacht lag in der Hand des Professors, der durch sein Gutachten
nach
Gutdünken dem Studenten dann wissenschaftliches Denken
attestierte, wenn dieses
mit seiner eigenen Ausdrucksweise konvergierte. Prof. Dr. Rolf
Schäfer der
Oldenburgischen Landeskirche nahm diese Arbeit zum Anlaß, dem
Verfasser von der
Fortsetzung des Theologiestudiums dringend abzuraten und die
Übernahme in den
Kirchendienst zu verwehren.
Nur so konnte der Auftrag der
Theologie erfüllt werden, den Pfarrernachwuchs auf das
Predigen dessen
einzuschwören, was die Kirche des 20. Jahrhunderts nach dem
zweiten Krieg gerne
genau so weiter getrieben haben wollte. Es ging gar nicht um wirkliches
Wissen,
sondern um die Erhaltung eines angeblichen Wissens, was mit der
Tradition
Luthers im vollen Einklang stand und die durch Loccumer
Verträge verankerte
Alimentierungsstruktur der Kirche nicht gefährdete in ihrer
Existenz als
religiöse Institution mit damals noch erheblichem Ansehen in
der verunsicherten
Nachkriegs-Republik.
An der Tübinger
Theologischen
Fakultät fand gerade der Wechsel von den zornigen alten
Männern zu den
glattgestriegelten Konformisten statt, die das vehemente
kämpferische Eintreten
für den Geist der Freiheit (Käsemann) ersetzten durch
akribisches Sammeln von
Informationsfluten im Karteikasten als Basislager neuer
Forschungsansätze
(Hengel, Stuhlmacher). Die studentischen Kämpfe gegen
Regelstudienzeiten von 6
Semestern wollten Forschungszeit statt Pauk-Zeit etablierter
Wissenskonserven
erreichen und damit das, was die Zukunft der BRD als Wissens-Standort
hätte
sichern können. Dem revolutionären Aufbruch hielt
Hengel entgegen, Jesus sei
kein Revoluzzer, sondern ein heiterer Mensch gewesen. Lach mal wieder,
trink
einen Heurigen und genieße die Stocherkahnfahrten auf dem
Nekar.
Moltmann bezog als einziger damals
Blochs
Philosophie und naturwissenschaftliche Kenntnisse über Urknall
und Ökologie
ein. Hier war erstmals eine Öffnung der Theologie zur
interdisziplinären
Akademie der Wissenschaften hin erlebbar. Davon war der Autor tief
beeindruckt
und hat dies fortzusetzen versucht in Bereiche von Philosophie,
Psychologie,
Sozialwissenschaften, Devianzforschung. Daß er
später beim jüngst verstorbenen
Prof. Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter als zentralem Pionier einer
Integration und
Würdigung gesellschaftlicher Randgruppen aller Art gelandet
ist, nachdem der
anfängliche theologische Doktorvater aus der Moltmann-Riege
ihm aufgrund seiner
Kritik gestalttherapeutischer Therapiegruppen von aufstrebenden
Jungakademikern
vorwarf, zu wenig Reklame zu machen für diese neuen Methoden
als Spielform
kirchlicher Freizeitgestaltung der Zukunft, wen wundert´s.
Das generative Thema im
Tübinger Theologicum war das
gleiche wie im Irrenhaus: Es ging um Freiheit des Denkens und
Gängelung durch
die Wärter. Die Kirche schrumpft, wie ich es damals
prognostiziert hatte, ist
aber in weiten Teilen von Mitstreitern infiltriert, die gegen den
evangelikalen
Weltherrschaftswunsch einen Bewahrungswunsch für die Welt
setzen und hierzu
nötigen Frieden nur durch Gerechtigkeit und
bedürfnisentsprechende
Güterverteilung erreichbar sehen. Die Spinner von damals sind
die Bischöfe von
heute und haben weitgehend die damals gängige
Selbstherrlichkeit der
Professoren aufgebrochen zu einem ernsthaften Dialog mit der Welt und
ihren
Erkenntnissen.
Wenn wir einen Gott
verkündigen, der seinen Sohn
schlachtet, damit er nicht uns für unsere Sünden mit
dem Tod bestraft, wir als
Dank dann unser Fleisch kreuzigen sollen – was tun wir damit
den kleinen
Kinderseelen an? Das Wort vom Kreuz kann krank machen. Die Gnade Gottes
und die
Vorliebe für die Schwachen und Ausgestoßenen braucht
keine Leiche am Kreuz.
Gott ist nach christlichem
Lippenbekenntnis der
Schöpfer der Welt. Er hat die Affen im Zoo gemacht, die
gezwungen sind, sogar
noch beim Koitieren von Zuschauern umgeben zu sein. Er hat die Fische
gemacht,
die im Rhein verwesend herumtreiben. Er hat die Kühe gemacht,
die vor den
Schlachthäusern Schlange stehen. Er hat die Pferde gemacht,
deren Freiheit mit
Sporen und Peitsche an die Kandarre genommen wird. Er hat die Soldaten
geschaffen,
die Bauernsöhne, aus denen sich die SS rekrutierte. Gott ist
der Schöpfer der
mehr als 6 Millionen Juden, die in den Lagern unserer Ahnen
abgeschlachtet
wurden. Gott hat die Menschen geschaffen. Gott gab uns Augen zum Sehen,
Nasen
zum Riechen und Reiben, Ohren zum Hören, Hände zum
Streicheln und Schaffen, und
so manches mehr. Davon ist bei den Theologen übriggeblieben:
1. die Leseaugen,
2. die nur noch Worte einsaugenden Auditoriumsohren, 3. die
Hände zum
Schreiben, Gestikulieren und Waffen segnen.
Als imago dei ist „der
Mensch“ gleichfalls Schöpfer.
Zwar hat „er“ heute bumerangartig alles
darangesetzt, Gott abzuschaffen,
vielleicht am stärksten, wo am meisten von Gott gejubelt wird.
Aber er hat auch
sich selbst als Schöpfer abgeschafft, zumindest in der
Theologie, die keine
neuen Bilder von Gott zuläßt und nur das Alte
für das Wahre hält. Die Theologen
mühen sich, eine 2000 Jahre vergangene Spätantike in
sich einzuverleiben. Was
dabei herauskommt, sind leere Worte ohne Tat, pfiffiges Gequasel um
eine Sicht
von der Wirklichkeit, die von der Wohnungstür bis zum
Seminarraum reicht, von
der Kanzel bis zum Sitzungszimmer. Dieses Leben entbehrt der Offenheit
zur
Erfahrung der Welt, als deren Schöpfer Gott ausgegeben wird.
Es verarmt jede
Kreativität. Sind Geschöpfe Abbild des
Schöpfers, stellt das Werk die Person
dar, so ist es um so manchen Theologen schlecht bestellt.
Der Mensch ist ein
schöpferischer
Arbeiter. In seinen Produkten macht er sich selbst zum Gegenstand, er
vergegenständlicht
im Produkt sein Wesen. „Wie die Individuen ihr Leben
äußern, so sind sie. Was
sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl
damit, was sie
produzieren, als auch, wie sie produzieren.“ (Karl Marx/
Friedrich Engels, Die
deutsche Ideologie, MEW 3,21) Wir können mit diesen
Sätzen keine Vorstellung
mehr verbinden, sie sind abstrakt, denn für uns gilt weder die
These von der
Selbstvergegenständlichung noch die der Kreativität.
Wer es sich leisten, kann,
mag es sich in der Kunst noch als Luxus leisten. Das was die anderen
herstellen, ist ihnen fremd, sie können sich selbst schwerlich
in einem
Mercedes-Kotflügel wiederfinden, Menschen wissen darum meist
auch nicht mehr,
wer sie sind und werden sich gegenseitig fremd, Konsumenten nur noch
von
Massengütern und Massenmedien. Statt Produktion findet sich
bis in den letzten
Winkel nichts als Reproduktion, das Originelle wird sofort gierig
konsumiert
und in den Kreis der Reproduktion eingereiht. Was einzigartig ist,
schimmert
hervor wie aus fremder Welt, wird bestaunt, weil es nicht mehr zu
diesem Leben
gehört. Untersucht man das Bewußtsein, so quillt
überall der Drang zum Besitz
hervor, aggressiv und als Lust zum Konsum. Wie Dinge wird alles
behandelt, es
gibt nur noch Objekte für das Bewußtsein.
Selbst die Untersuchung des
Bewußtseins durch sich selbst ist zu einem Akt des
Verobjektivierens geworden.
Auch Geisteswissenschaften reproduzieren sich in ihren Phrasen.
Theologie
gefällt sich wohl im Trott der Neubesinnung auf den Ursprung,
Denken heiße
Nachdenken, mit Trieb zum Archaischen, Hang zu Moder und Gruft, an
welcher der
Pfarrer mit Aussegnung brilliert. Der Gedanke an Gott ist zur Reflexion
über
Gott geworden, alles, aber auch alle Lebensfülle ist starr zum
theologischen
Ding geworden, das sich der Student durch Bücherlesen
einlagert. Etwa die
Phrase „der Mensch“ ist Ausdruck für die
Leere und Dinghaftigkeit des Denkens
und des Gedachten: sowohl die Sprache als auch das Bezeichnete sind
Dinge,
Formeln und Marionetten, gedacht und gelenkt von Marionetten. Theologie
illustriert, wie sehr der Mensch ein Mängelwesen ist.
Meine Situation hier am
Schreibtisch kennzeichnet sich durch Ohnmachtserleben. Während
viele
Wissenschaften in Forscherteams arbeiten, ist das Theologiestudium in
höchstem
Maße Einzelstudium. Ich habe Angst, zitatfrei zu schreiben,
mein Wissen wird
als Material verdinglicht, dessen Präsentation aus
Prüfungsangst motiviert ist,
die mit Studienbeginn von den Kommulitonen abgeschaut und
übernommen wird. Wie
ein Schauspieler Rollen lernt, so lernen Theologen durch Nachdenken
Positionen
auswendig, die sie so gut es geht vertreten. Selbstdenken ist
unerwünscht,
gefährdet das Examen und die weitere Laufbahn. Wer aber
zitiert, ist King - als
würde der Gedanke durch eine anerkannte Autorität des
Denkens wahrer! Der Stil
meiner Sätze ist nichts als Reproduktion des Stils der bisher
konsumierten
Bücher. Die Unfähigkeit zum eigenen Wort, in dem
nicht unentwegt nur
eingetrichterte Gedanken sich äußern, sondern ein
selbstdenkender Mensch,
ärgert mich. Die einzige Leistung, die noch eigen ist, ist die
Auswahl der
Gedanken und ihre Garnierung. Entgegen der üblichen
Feindseeligkeit der
Theologie zu Psychologie, Soziologie, Politologie und Medizin bewege
ich mich
im interdisziplinären Feld der Anthropologie. Die Begrenzung
des Themas auf
reine Theologie wäre ein Unrecht an der Komplexität
des „Stoffs“. Borniert
versteift sich gewöhnlich der Geist des Theologen in ein
Stückchen
Vergangenheit. Er wühlt in den Literaturangaben, die er zu
diesem Thema findet,
er liest Bücher mit dem Titel „Mensch“ -
und dann weiß er, was ein Mensch ist.
Die Vorstellung, als verdinglichende, denkt sich Menschen wie im Zoo
ohne
Gitter. Die Erfahrungen der Geisteswissenschaften sind meist
sekundär, aus
Büchern angelesen. Sollte ein Theologe eine Kuh melken, ist
klar, daß er erst
noch einmal in der Bibliothek verschwindet.
Die Spaltung der Welt in Subjekte
und Objekte finden wir überall, z.B. im Verhältnis
zwischen Lehrer und Schüler,
wobei auch das Buch eine Lehrerrolle hat. Der Lehrer lehrt den
Schüler (nicht
umgekehrt), dabei herrscht die Vorstellung von der Weitergabe des
Wissens als
eines Dinges oder der „Bearbeitung“ des
Schülers in der Erziehung wie einen
rohen Holzblock, aus dem ein Standbild werden soll, Abbild des Lehrers,
der
Abbild seines Lehrers ist, der... (usw.). Und das gelingt auch. Der
Schüler
käut die Gedanken des Lehrers wieder, indem er sie versteht,
lagert er sie ein.
Wenn ein Schüler sich äußert, kommt er
über die vorsichtige Modifikation der
Gedanken, die er gelernt hat, nicht hinaus. Sein Wissen ist ein Ding,
entweder
richtig oder falsch, darum auch der Seitenrand üblicher
Seminararbeiten, ein Dialog
wird eh nicht daraus, daß der Lehrer seine Kritik
dazuschreibt. Der Schüler
wird zensiert, indem man seiner Arbeit eine Note geben muß.
Welch eine
Verding-lichung, das Produkt eines Menschen mit Zahlen von 1-6 zu
numerieren!
Aber nur der verdinglichte Schüler überlebt. In der
Arbeit des Schülers
entspricht der Subjekt-Objekt-Spaltung des Leben - wie auch der
Forschung in
den Wissenschaften - die strenge Trennung von Autor und Thema.
Nie macht ein Bücherwurm
sich
selbst zum Thema, außer den Autobiographien
marktgängiger Leute, deren Werke
Aussicht auf regen Absatz haben. Nur versteckt und unabsichtlich, fast
als
Panne, bringt sich der Autor ins Thema. Je weiter einem die
„Sache“ vom Leibe
ist, desto wohler dem Schreiber. Der Arbeitende bleibt hinter seinem
Werk
verschanzt, bleibt dem Betrachter des Werks abstrakt, entzogen und ist
zur
austauschbaren Funktion geworden. Je weniger persönliche
Stellung ein Buch
bringt, desto mehr wird es empfohlen, mit Ausnahme der
Denkbücher, für deren
Qualität der Verfassername als Warenzeichen steht. Aber sonst:
jeder beliebige
kann sein Werk fortsetzen, hat er den gleichen Wissenskomplex
angeschafft wie
der Vorgänger. Die Aktivität Arbeit ist gekenzeichnet
durch eine – mit
wachsender Intensität des Deliquenten nur zunehmende
– Passivität: grammatisch
richtig ist schon: ich werde gearbeitet, werde gelebt. Denn die Arbeit
ist zum
vorgeplanten Schema geworden, dem ich mich unterziehen muß.
Das Schema bestimmt
mich auch da noch, wo ich meine Naivität hochquäle im
Glauben, es stamme von
mir selbst, was ich tue, nicht von den Lehrern. Der Arbeiter ist im
Spätkapitalismus Objekt seiner Arbeit, das Subjekt ist als
Störfaktor mit
Peitsche und Zucker ausgetrieben werden, als böser Geist,
Frechheit, Trotz und
Aufsässigkeit, Alberei, Träumerei und Feigheit, je
nach Bildungsgang mit
verschiedenen Akzenten.
Ich will in dieser Arbeit zeigen,
wie sehr der Glaubende dem Schizophrenen gleicht. Der Grad der
Realitätsferne
ist ungefähr gleich, die schizoide Struktur seiner Ich- und
Welterfahrung
ebenfalls. Der zentrale Unterschied ist, daß Schizophrene
weggesperrt werden in
Irrenhäuser, während Gläubige in Gemeinden
eine Basis gegenseitiger Bestärkung
in ihrer gegen alle Wissenschaft bekenntnishaft behauptete
Weltanschauung
gefunden haben. Innerhalb dieser Sekte funktioniert ihre Sprachweise
und ihre
mentale Mythik rigider Aufspaltung der Welt in Gut und Böse.
Von außen werden
„Christen“ für seltsame Spinner gehalten.
In meiner Schulklasse war dies
überdeutlich, die meisten glaubten nicht an die Existenz eines
Gottes und
hielten mich für skurril. Zu recht. In evangelikalen
Jugendkreisen konnte man
sich gegenseitig trösten, von den normalen Menschen so wenig
verstanden zu
werden.
Sprechen ist eine Sache der
Begegnung mit der Welt und den Menschen dieser Welt. Denken, des
Sprechens
unlösbaren Bruder, war nie echt als l'art pour l'art. Denken
und Sprechen
stellt Verbindung her. Menschen, die miteinander sprechen, sind hierin
verbunden
zur Gemeinschaft, damit gehört es zu ihrem Wesen, zu sprechen
und zu denken
denn Gemeinschaft ist für Menschen lebensnotwendig. Das
Sprechen wird als ein
Akt der Benennung der Welt erlernt: mit dem Erfahren der Mutter wird
das
zärtliche Wort „Mama“ assoziiert. Zu jedem
Wort gehört die Vorstellung dessen,
in dessen Erfahrung man das Wort angenommen hat. (Vorstellung: aus dem
direkten
Vor-sich-stellen des Angeschauten und Befühlten wird
vermittelt-memorierte
Vorstellung, in der das ursprünglich passiv erfahrene nun
aktiv-Bewußtseinsmäßig
re-präsentiert wird.) Auf diese Weise wird sämtliche
Erfahrung der Welt benannt, alles bekommt seinen Namen. Diese noch
ungeordnet
und isoliert aufgenommenen Erfahrungsbenennungen werden durch neue
Assoziationen in Zusammenhänge gebracht: nach dem Blitz folgt
ein Donner.
Sprache baut auf Erinnerung der Erfahrung auf. So fällt
schließlich das Wort,
ohne daß die Anwesenheit der zugehörigen Erfahrung
da ist. Es entsteht
Phantasie und Imagination. Man tut so, als ob. Als Einbildung steht der
Wunsch
nach der Anwesenheit des nicht anwesenden Vorgestellten. Aus der
Verbindung von
Einzelworten ( und damit ursprünglich zusammenhangslosen
Einzelerfahrungen)
entstehen abstraktere Worte für größer
Weltzusammenhänge, z.B. Gewitter für Blitz,
Donner, Regen. Real vorhandene Beziehungen werden erkannt und
bezeichnet mit
neuen Worten. So vollzieht das denkende Bewußtwerden die
erfahrenen
Zusammenhänge nach und benennt sie. Durch das
Bewußtsein des Zusammenhangs wird
es möglich, die eigenen Bewegungen und Aktivitäten in
Beziehung zur Welt und
deren Insassen zu bringen. Durch die Erfahrung, daß die Welt
auf das Ich
reagiert, wird eine Wechselbeziehung zwischen Menschen und auch Mensch
und Welt
ermittelt. Immer stärker ordnen sich die Eindrücke in
ein großes Sinngefüge.
Das Denken vermittelt mit den Mittel der benennenden Sprache nun
zwischen allem
und gibt Möglichkeit, durch gezielte Aktivität und
Intention auch bestimmte,
gewünschte Reaktionen zu erleben. Aus der wahllosen Bewegung
des Säuglings wird
eine auf immer größere Auswirkung hin durchdachte
Aktion, der Möglichkeit von
Veränderung der Welt. Die Metaphorik Schizophrener erscheint
oft quer zur
Konvention und deshalb verrückt. Sie hat aber eine interne
Logik, die nach dem
gleichen Prinzip arbeitet wie die Sprache der anderen.
Veränderung der Welt
geschieht
ziellos oder dumm, wenn der Bewußtseinsakt gar nicht oder
ungenügend vollzogen
ist. Dies hängt wesentlich von den zur Verfügung
stehenden Sprachmitteln ab,
die Produkt einer langen kulturellen Entwicklung sind. Weltbenennung
hat ihren
wirkungsreichsten Stand da, wo sowohl Konkretion als auch Abstraktion
möglich
sind und je im Denkprozeß verschieden-zeitig aktualisiert
werden. Denken
vermittelt das Abstrakte mit dem Konkreten, von dem das Abstrakte durch
das
Denken erst entstammt. Sowohl zur minutiösen Erfassung des
Details einer
Situation ist fortgeschrittenes Bewußtsein fähig,
als auch zum distanzierten
Blick auf den Zusammenhang der Phänomene. Je besser Denken
beides verbindet, desto
wahrer wird das Wort, desto wirkungsvoller werden die Aktionen, die aus
und mit
dem Wort kommen.
Träume
geben Ziele, auf die hin nun die Aktion die Welt verändert.
Träume drücken Wünsche aus. Wünsche
entstehen, weil die Menschen nicht
vollkommen für sich selbst genug sein können, immer
fehlt ihnen etwas.
Zufriedenheit ist nur vorübergehend. Die Träume geben
dem Bewußtsein bekannt,
was den Menschen fehlt. Im Traum wird ein Mangel bewußt.
Nicht immer, aber
meist ist die Behebung des Mangels lebenswichtig für Menschen.
Die Veränderung
der Welt hat das Ziel, das Ermangelnde zu beschaffen und dadurch die
entstandene Not zu beseitigen. So kam es zum Ackerbau, so ging es
weiter, bis
neue Bedürfnisse aus der Situation in der veränderten
Welt entstehen, die neue
Träume und neue Weltveränderung erfordern, dies als
Prozeß. Dabei hat sich
geschichtlich Güteranhäufung bei den
stärksten Menschtieren und Unterdrückung
ergeben: die meisten Menschen haben nicht, dessen sie
bedürfen, wogegen andere
im Überfluß dessen leben. Trotzdem geben sie es
denen, die es brauchen, nicht.
Die Folge ist, daß Milliarden von Menschen vor Hunger
sterben, während andere
an Überfettung oder Altersschwäche, Herzinfarkten und
Krebs sterben. Der Traum
der Unterdrückten: die Welt muß so
verändert werden, daß ihre Leiden aufhören.
Damit ist ein wesentliches Ziel der Weltveränderung benannt;
die Revolution
aller ungleicher Güterverteilung, in denen Herrschaft und
Unterdrückung
Knechtschaft und Leiden erzeugen.
Bisher hat das Gerede der
Theologen kaum einmal für gerechten Tausch und gerechte
Güterverteilung
aufgerufen: man half den Leidenden, ihr Leid als gottgewolltes zu
tragen. Wo
Theologie das Wort in den Dienst der Befreiung von Leid stellte, trat
dieselbe
Ohnmacht ein. Das Wort verändert die Welt nicht. Die Ursache
liegt in der Welt,
die von den Herren gegen das Gerede der Intellektuellen
genügend abgesichert
wurde. Das intellektuelle Bewußtsein ist mit der Abstraktion
verbuhlt und an
diese heillos verfallen. Durch die Unfähigkeit zur Konkretion
kann sich
intellektuelles Denken nicht dem Denken der Unterdrückten
vermitteln und deren
Erkenntnis vorantreiben. Das Weltproletariat hat kein
Klassenbewußtsein,
erfährt sein Leiden, ohne den Grund zu sehen: Komplexe
internationale
Wirtschaftsstrukturen, Bösenkurse und
Dumpingpreise/-löhne kapitalistischer
Konkurrenten. Durch die Abstraktion wird intellektuelles Gequasel
beziehungslos
zu den Unterdrückten und zur Welt, die sich je nur als
Konkretes erfahren läßt,
und darum auch nur im Konkreten sich verändern
läßt. Den im allzu Konkreten
lebenden Unterdrückten fehlt die Distanz, von der her sich
Beziehungen
wahrnehmen lassen zwischen ihrer Situation im dunklen Augenblick und
ihnen
meist nicht erfahrbaren anderen Konkretverhältnissen, deren
Kenntnis gerade
entscheidend wichtig ist, um die Welt im oben angedeuteten Sinne zu
verändern.
Nur eine Synthese, eine Vermittlung und neue Einheit von
Intellektuellen und
Proletariat ist die Bedingung zum Klassenbewußtsein als
geschichtlicher
Voraussetzung zur Revolution. Dies erkennen die Intellektuellen und
erfahren
ihre Unfähigkeit zur Konkretion als Schuld - soweit sie je
Schuld erfahren.
Fast unnötig, zu betonen, daß diese Situation durch
die Struktur der
Universität noch weiter gefördert wurde. Jedenfalls
isoliert die Unisprache, in
die man sich integrieren muß, um ein Diplom zu erwerben, die
Intellektuellen
völlig von den Unterdrückten, ja, die Intellektuellen
sind selbstverständlich dem
Apparat hörig und denunzieren sich gegenseitig, um zu
überleben. Konkurrenz ist
auch im Denken eingeschlichen, vom überall sich
einschleichenden Druck der
Leistungsideologie und Verdinglichung des zu denkenden. Darum ist
Denken
harmlos geworden. Darum machen alle leere Worte, die nicht
einlösen, was sie
versprechen, weil das Wort gezweiteilt wurde und damit seine Kraft
verlor und
sein Leben. Die Intellektuellen haben ihren Lebenshorizont weitgehend
auf das
Leben mit Büchern reduziert hat. Sie erfahren das Konkrete
nicht mehr selbst.
Weil also intellektuelles Denken von der konkreten Vorstellung
entfremdet ist,
wurde Sprache machtlos, die Weltbenennung verändert die Welt
nicht mehr.
Es
grenzt an schwarzen Humor, die Klage um den „fehlenden
Praxisbezug“ der Intellektuellen von Unternehmerseite her zu
hören. Hier wird
gefordert: Praktika, die den Studenten besser in das
marktwirtschaftliche
Ausbeuterdenken integrieren, Abwurf des Ballasts, der darin gesehen
wird, daß
ein Student mehr von der Welt erfährt als für seine
Rädchenfunktion im
Unternehmen nütze ist. Er soll „kein Fachidiot
sein“, d.h. wissen, was dem
Unternehmen nützt. Aber gerade die Genügsamkeit des
Interesses am Fach spielt
dem Chef des Unternehmens auf beste in die Hände: die
Arbeitsteilung holt mehr
Profit aus den Leuten heraus, die optimale Potenzen erreichen im
Schraubenanziehen, Radiolöten und Briefetippen. Und das
bornierte Bewußtsein
arbeitet wie eine Maschine einwandfrei ohne Aufmucken. Die
„Praxis“ der
Unternehmer ist die Praxis, wie die Universität so
verändert wird, daß mit den
Ausgebildeten größtmöglicher Profit zu
machen ist und das mit dem
kleinstnotwendigen Aufwand: Regelstudium von 6 Semestern, bessere
Berufsberatung, um Fehlstudien zu vermeiden, die ja wieder auf
Staatskosten
gehen. Und so wird auch der letzte naive Träumer schon
eingeplant in das
Angebot an Studienabgängern für das
nächstnächste Jahr, er ist Nummer im
Computer. Sein Nutzen wird statistisch festgemacht. Vor der Existenz
der Huhns
in der Hühnerfabrik hat der Student wenigstens noch voraus,
sich selbst in den
Käfig setzen zu dürfen.
Daheim in der Freizeit wird der
Fernseher zur Traummaschine: im innersten Revierbezirk des
entpersonalisierten
Funktionsbündels Arbeitnehmer, dem Kärtchen in der
Computerkartei von
Personalzentrale und Neckermannversand, in der Stube hinter dem Herd,
der
längst keine Wärme mehr strahlt wie in Omas Zeit, da
steht er und macht dem
müden Antihelden eines Alltags ohne Ereignisse
(außer dem Anschnauzer vom
Vorarbeiter) seinen Traum. Er ist Krimiheld 007 und wird durch sein
Mißtrauen
ganz allein mit dem ganzen sowjetischen Spionagenetz fertig. Einer
schafft es
gegen das ganze Universum, Prometheus mit der kugelsicheren Weste und
nie
endender Phantasie; der Mann, der die Hoffnung nicht aufgibt, die der
ausgebrannte Fließbandarbeiter kaum je kennengelernt hat. Er
hat Erfolg bei den
Frauen, die immer schön, grausam ästhetisch (nicht
wie die Dame neben ihm) sind
und ihm fast die Hose vom Leib reißen. Da geht dem Mann dann
endlich der Hut
hoch, falls er ihn auf dem Schoß liegen hatte. In der
Resurrektion ist er
endlich für sich und frei, kann rauchen, was er will, trinken,
essen, was er will.
Welche Freiheit, wo doch im Arbeitsprozeß derer keine mehr
ist. Dachte Marx
noch, der verdinglichte Arbeiter vergegenständliche sich nun
statt in der
Arbeit in der Freizeit, Schlafen, Essen, Zeugen, so muß heute
gesungen werden
von einem verdinglichten und von einer Kulturindustrie beherrschtem
Freizeitverhalten und einer grenzenlosen Waschmittelfreiheit; das
Subjekt ist
tot.
Nur:
es ist alles schmerzfreier geworden, weil es niemand mehr
merkt und in der Industriegesellschaft die Bedürfnisse
sämtliche durch deren
falsche Erfüllung pervers wurden. Die Filme fingieren eine
Traumwelt von Glück,
Liebe, Abenteuer oder Katastrophe. Sie bieten ferngesteuerte
Derealisation auf
Zeit. Unterschied zur Schizophrenie: man kann die Glotze abschalten,
die
Psychose nicht.
Der Filmtod gewöhnt das
Bewußtsein des Verdinglichten an das Faktum Tod als eines
notwendigen
lebensnotwendigen Aktes, Aufpreis gegen die als Wert in den
Heiligenstand
erhobene Gerechtigkeit vom Schlage der Blutrache. In diesem Bordell der
Wut,
die einst dem Chef galt, im Filmmord, findet eine Gewöhnung an
den Tod statt,
im frommen Glauben, „es sei ja nur ein Film“.
Der, dessen Leben erst im Film
wieder aufatmen kann, verliert bald das Gefühl für
Wirklichkeit und
Filmillusion. Keine Bestialität schreckt die Kinomeute mehr,
der Hexenmord
kribbelt den Knaben in den Schenkeln; die Filme, die sich mit der
Aufarbeitung
von Auschwitz befassen, ernten Gelächter. Wer ist
bestialischer geworden: der
Gl hinter der MG oder die Meute vor der Leinwand? Am nächsten
Morgen aber ist
der Spuk vorbei, die Hexen, Killer, Sadisten, Masochisten und Indianer
sind
wieder brave Bundesbürger nach law and order. So funktioniert
die doppelte
Moral zwischen Tag und Nacht, Arbeitsplatz und dem an die Stelle
ehemaliger
Intimsphäre untergejubelten Massentraummedium.
Fernsehzuschauer (und 98% der
BRD-Haushalte haben ein TV) sind schizoide Wesen. Je braver am Tag,
desto
brutaler zur Nacht. An der Grausamkeit des Kino- und Fernsehprogramms
läßt sich
die Repressivitat einer Gesellschaft ablesen.
Sachlichkeit geistiger Arbeit
kann auch als Dingdenken benannt werden; der Begriff gehört zu
der Epoche, wo
die Naturwissenschaften sich einiges drauf einbildeten, ihre Objekte so
genau
zu beschreiben, daß sie jedem „Subjekt“
zugänglich sein sollten. Inzwischen
haben wenigstens einige Naturwissenschaftler eingesehen, daß
eine derartige
Trennung von Gegenstand und Betrachter nicht der Wirklichkeit
entspricht,
höchstens in der Astrophysik. (zB Niels Bohr)
Zur Lüge wird eine
geisteswissenschaftliche Aussage, wenn sie unabhängig von
Addressat und Autor
gemacht wird. Wer die Subjektivität seiner Aussagen leugnet,
geriert sich als
Verwalter fremder Meinungen, die möglicherweise mehr
allgemeine Anerkennung
finden als die eigene. Die meisten Sachthemen der Theologie
interessieren doch
kein Schwein. Außer dem Theologen, der gerade
zufällig in diesem Randgebiet
selbst arbeitet. Wer kann schon etwas mit einem Lutheraufsatz in seinem
Leben
anfangen außer dem Theologen, der sich berufen glaubt, die
Informationen dieses
Aufsatzes weiterzuvermitteln. Ist Vermittlung der
„Sache“ möglich? Wann darf
man dann aufhören, sachlich zu sein? Am Endpunkt des
Vermittlungsprozesses, wo
das Ja Gottes als Sachgehalt des Evangeliums dem Predigthörer
aufgetischt wird?
Sache der Theologie ist Gott, wie Sache der Chemie die
Molekularstruktur der
Substanz ist. Gott, als er in Jesus auflebte, war keine
„Sache“. Jesus wurde
auch nicht wie eine Sache behandelt von denen, die an ihn glaubten;
Jesus
zeichnet sich dadurch aus, daß er Menschen nicht als Waren
des Lebensmarktes
behandelte. Er suchte nicht nach dem günstigsten Angebot,
dieser abstrakten
Größe in unseren vermarkteten Hirnen, sondern redete
mit dem, der ihm
begegnete. Und diese waren nie besonders günstig zum Umgang.
Nachfolge Jesu begingt, wofern
überhaupt je, in der Arbeit mit seiner Historie und
Hinterlassenschaft. Die
Theologie selbst steht nicht außerhalb der Nachfolge. Darum
muß die Methode der
Theologie mit ihrem Inhalt verbunden sein. Vom Frieden sachlich reden
kann man
nur, indem man Frieden schafft. Jesu Leben war ein großer
Dialog, seine
Existenz und seine Geschichten sprachen immer Leute an, waren
Provokation.
Diesen Dialog, mit dem nach Jesu Meinung das Reich Gottes tendenzhaft
begann,
trägt man „sachlich“ nur so vor,
daß wieder Dialog entsteht. Theologie muß
dialogisch leben. Theologische Sachlichkeit ist nicht, daß
man sich Gott zu
einer Sache macht, über die man Konversation treibt, sondern
Provokation von
Menschen. Wo die Menschen unmenschlich leben müssen, ja wollen
(weil man die
objektiven Zwänge oft dadurch entschmerzt, daß man
das Gesollte will), muß
Provokation von Menschen zu einer Veränderung rufen: aus
Unmenschen zu
Menschen.
Wenn das kommende Gottesreich
wesentlich aus dialogischem Leben von Subjekten besteht, so kommt es
nur da zum
Vorschein, wo ein Mensch mit dem anderen dialogisch kooperiert.
Eigentlich gibt
es in wissenschaftlichen Arbeiten dazu keine Möglichkeit. Wenn
sich der
Addressat in einer Rede, einem Buch oder einer Musik, einem Bild,
überhaupt
menschlichen Produkten, so angesprochen fühlt, daß
er mit dem Produzenten
konvergiert zu einer Erkenntnis-Gemeinschaft: Du triffst genau mein
Gefühl,
meinen Traum, meinen Schmerz und meine Hoffnung. Empathie, dem anderen
ins Herz
blicken und aus der Seele sprechen, da erst kommt das Wort Gottes zur
Sache.
David Cooper, Antipsychiater in
Britannien, sagt, man müsse in Zukunft Bücher leben.
Gelebte Bücher sind
solche, wo einer nicht von einer Sache erzählt, die mit seinem
Leben nur in der
Beziehung steht, daß beides vom gleichen Stoff ist, dinglich.
Es gibt Themen,
die allen Menschen gemein sind. Essen ist eins. Leben ist in der Weise
allgemein, daß jeder irgendwelche Körperteile hat,
die mit denen von anderen in
auch nur entfernter Weise Ähnlichkeit haben; Lebewesen sehen
sich vielen allen
gemeinsamen Problemen gegenüber. Man muß das aber
erst erkennen, daß das
Problem ein allgemeines ist. Überleben ist ein solcher
Sorgenfaktor. Wenn auch
nur einige Lebewesen bemerken, daß sie nicht isoliert vor
diesem Problem
stehen, dann können sie versuchen, gemeinsam das gemeinsame
Problem zu lösen:
sie fressen sich nicht mehr gegenseitig auf, in der Meinung, das
Fressen des
anderen garantiere das Nichtgefressenwerden des Ich, sondern suchen
sich etwas
anderes zum Fressen, organisiert und arbeitsteilig. So schon bei
Löwen, doch
leider noch unvegetarisch. Aufgrund der Gemeinsamkeit von
Lebensproblemen kann
ein Mensch von seinem Problemkreis so erzählen, daß
ihn der andere so versteht,
daß er seine eigenen Probleme in den Problemen des anderen
wiederentdeckt. Man
setzt dabei ein analoges Erkenntnisprinzip voraus. Es kann also sein,
daß das,
was mich angeht, auch ohne daß ichs weiß, die
anderen ebenso angeht. So etwa
das Leiden unter Isolation an der Uni. Da Menschen aber nie allgemein
sind,
stellt sich das allgemeine Problem bei jedem besonders dar, es kann
andere
Formen haben, anders empfunden werden, mißverstanden werden.
Solche
Mißverständnisse klären sich, wo ein
anderer seine Erfahrung des besonderen
Erlebens eines allgemeinen Problems mitteilt. Wenn viele mit der
gleichen
Besonderheit zusammentreffen, neigen sie dazu, ihre Besonderheit als
etwas
allgemeines zu begreifen, dabei ist es nur vielen gemeinsam. Es geht
darum, wie
eng man die Gesamtmenge des „alle“ festlegt.
Darüber muß man sich klar werden
oder einigen.
Gelebte Bücher machen
Lebenserfahrung des Autors kursiv. Sie helfen mit der Artikulation
eigener
praktischer Erfahrung dem Leser zur Artikulation seiner Erfahrung.
Sprache hat
zu Erfahrung ein ambivalentes Verhältnis. Sie kann Ausdruck
von Erfahrung sein,
bis hinein in Lautmalerei und Lust am Wohlklang; sie kann aber auch
Erfahrung
konditionieren und damit bestimmte Erfahrungen dem Sprecher
vorenthalten. Wie
anders als durch Sprache aber soll Erfahrung vermittelt werden? Das ist
eine
crux für Nationen, die sich auf Sprechen spezialisiert haben.
Außerdem: Erfahrung
vermitteln? Warum läßt man nicht jeden seine eigenen
Erfahrungen machen? „Das
Bügeleisen ist heiß“ sagt die Mutter.
Warnungen vor dem bissigen Hund sind auch
nützlich; wiewohl der Hund auch hätte so erzogen
werden können, daß er nicht
beißt. Weil einige Erfahrungen tödlich sein
können, warnt man.
So auch auf der Kanzel des
moralmittelnde Pfarrers der Nachkriegszeit: er weist die Gemeinde an,
wie sie
so lebt, daß seiner Meinung nach alle glücklich
sind. Dies scheint
einleuchtend. Aber für wie inkompetent hält man
Kinder eigentlich? Orwell denkt
in „1984“ diesen Ansatz zum bitteren Ende:
Glück geht auf Kosten von
Selbstsein. Reklamesprüche und Slogans waren immer gute
Propagandamittel.
Wenige eingehende Worte erzeugen den Anschein von Bescheidwissen. Die
einzige
Erfahrung des Faschisten nach Adornos F-Skala (Studien zum
autoritären
Charakter, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973) ist der Slogan selbst und
dessen
Auswirkungen in ihm und dann außer ihm, etwa in Auschwitz.
Sprache kann also
eigene Erfahrung verhindern. Das Dogma der mittelalterlichen Kirche hat
auf
diese Weise jeden wissenschaftlichen Fortschritt blockiert.
Ebenso aber kann Sprache das
Bewußtsein auf neue Phänomene hinweisen, die wenn
überhaupt, dann nur dunkel
und unbewußt erfahren wurden. Sprache ist eine Vereinbarung
zwischen Menschen.
Sie ist eine Einigung über akustische Bezeichnung von
Gegenständen und Erleben.
Ihr Wert besteht darin, daß unter einem Wort sehr viele die
gleiche Vorstellung
entwickeln. Darum kann man auch abwesendes kommunikabel machen. Ohne
Sprache
ist je nur die augenblickliche Erfahrung kommunzierbar zu machen. Wer
mit einer
Bezeichnung nicht einverstanden ist, kann sich aber anderen mit einer
neu
erfundenen Bezeichnung nicht verständlich machen? Sprache ist
ein normativ
festgelegtes System von Erfahrungsbezeichnungen. Dabei ist die
Grammatik schon
eine Methode, die Erfahrungen zu ordnen und zu verbinden. Da in der
Schule alle
die gleiche Grammatik lernen, ordnen alle ihre Erfahrungen in der
gleichen
Weise ein. Verblüfft stellen sie dann fest, daß das
Erfahrene allgemein sei,
anstatt zu erkennen, daß allgemein nur die Methode der
Sprache war, die
Erfahrung zu begreifen, einzuordnen und aus der unendlichen Pulle des
Erfahrbaren nur minimal zu selektieren, weil die Begriffe minimal und
minutiös
einzelne Erfahrungsausschnitte bezeichnen. Sprache, die zu begrenzt
ist, macht
größere Erfahrungen unmöglich, weil sie die
Erkenntnis auf das begrenzte
„Bekannte“ richtet. Mit der Erweiterung des
Wortschatzes wächst die Sensibilität
für neue Erfahrungen. Beim gleichen Bild fällt der
Blick verschiedener
Betrachter auf verschiedene Erscheinungen, je nach seiner
Interessenlage. Einer
sieht, daß es ein Münchener Autobianci ist, der
andere sieht das Mädchen darin,
das ihm zuwinkt, bevor der Wagen um die Ecke verschwindet.
Durch Austausch beider wird eine
Vervollständigung des Bildes möglich, aber nicht so,
daß der eine die Erfahrung
des anderen direkt wiedererfährt, es ist vermittelte Erfahrung
und damit
mittelbare. Der Autofan kann sich den Mädchenwink nur mit
Erinnerung an frühere
ähnliche Erlebnisse vorstellen, er hat keinen unmittelbaren
Erfahrungszugang
zur Erotik des anderen in dieser Sekunde. Seine Vorstellung
nähert sich dem
Erlebnis des anderen zwar an, je mehr dieser erzählt, beide
Erfahrungen können
aber nie zur Deckung kommen.
Sprache vermittelt Erfahrung,
macht damit aber die Qualität der Erfahrung zu einer
sekundären. Genaugenommen
ist sekundäre Erfahrung sogar eine falsche Aussage; eigentlich
ist es nämlich
keine Erfahrung. Das, was sprachlich getan wird, ist nur optimale
Annäherung
der Vorstellung von der Erfahrung des anderen. Sie determiniert dessen
Blick,
indem sie ausläßt, was der Empfänger
vermittelter Erfahrung bemerkt hätte.
Jeder selektiert verschieden. In vermittelter Erfahrung wird das
Subjekt
gezwungen, sich der Selektion eines andern anzuvertrauen,
außerdem bekommt ein
Hörer nie alles mit, was die Rede an Anspielungen
enthält, man merkt dies bei
Bloch. Es findet also eine Selektion der Selektion fremder Erfahrung
statt,
wenn man ein Buch liest. Das Ergebnis kann nur sein: vermittelte
Erfahrung ist
abstrakte Erfahrung. Sie ist so umgänglich wie in der
Mathematik die abstrakten
Zahlen (a,b), die Abstraktion von Abstraktionen sind, weil Zahlen
selbst schon
die Abstrakten von Mengen sind. Weil wir aber gewohnt sind, gar nicht
mehr
konkret zu erfahren, erfahren wir es auch nicht konkret, daß
wir nicht konkret
erfahren. Also macht es auch nichts aus, daß Sprache
Erfahrung abstrakt
vermittelt. Die Familie und Schule ist unentbehrlich, um durch
gewissenhafte
Spracherziehung die Zöglinge sozial zur Erfahrung einer
Situation der
Nicht-Erfahrung zu determinieren. Wer dann erstmal nicht mehr
erfährt, dem kann
man sprachlich alles unterjubeln, was man will, vorausgesetzt, man hat
ein
Diplom, das dazu berechtigt. Dieses gewinnt man nur, indem man anderen
Leuten
(dem Schulamt) demonstriert, daß man die gewünschte
Brille der Reduktion von
Weltkomplexität besitzt.
Wer es nicht glaubt, wie wenig er
erfährt, soll doch mal in ein Zimmer gehen, wo ein Mensch in
einer
außergewöhnlichen Stellung sitzt, nach 10 sek Zeit
zum Wahrnehmen der Stellung
muß er dann diese genau einnehmen wie vorher diese Person.
Untersucht man dann
auf zwei vergleichenden Fotos hinterher die beiden Stellungen, so wird
am
krassen Unterschied beider Stellungen die Nachlässigkeit der
Beobachtung
bewußt. Dies aber ist noch das einfachste Beispiel eines klar
überschaubaren
Objektes der Wahrnehmung. Wesentlich komplizierter ist eine Sekunde am
Fenster
des fahrenden Zuges, noch wesentlich schwieriger, den Magen zu erfahren
oder
den Orgasmus. Es fehlt an Achtsamkeit. Aber wie sollen Leute, die ihr
Leben
lang mittels Sprache verdummt wurden für Erfahrung, wie sollen
die jetzt noch
bereit sein für eine neue, nie gekannte Sensiblität?
„Ein Großteil unseres
bewußten Sprachgebrauchs ist kaum mehr als ein blasser,
piepsender Abklatsch
der seltsamen, dunklertönenden Stimmen unserer Träume
und der präreflektiven
Formen des Bewußtseins
(„Unbewußtheit“).“ (David
Cooper, Der Tod der Familie,
Rowohlt dnb 6, 22)
Ich wehre mich nicht gegen
Sprache überhaupt, denn ich spreche ja. Normsprache ist
unentbehrlich geworden.
Aber ich wehre mich gegen die Verschüttung von Erfahrung durch
die Fracksprache
des Bürgertums, die „Anstand“ hochhalten,
die die vormals noch handfesten
Prügelstrafen verinnerlicht haben in die Sprachform der
Weisungen, Anweisungen,
Verbote, Verordnungen. Ursprüngliche Macht wird wesentlich
durch die
strukturelle Gewalt der Paragraphen hochgehalten. Die Drohung hat als
Machtmittel mehr Einsätze als die reale Ausführung
ihrer selbst in direkter
Gewalt. Sprache hat moralisches Wächteramt, hat
Tabuisierfunktion da, wo ihr
Sprachschatz endet. Sprache ist das Zwangsmittel der verrechtlichten
und
verwalteten Welt. Täter finden stets wohlklingende Worte
für Untaten.
Sprache kann auch Medium voll
Befreiung sein. Sprache kann Hinweise geben auf noch ungemachte
Erfahrung,
Achtung auf Erfahrbares intensivieren. Erfahrung kann
vorbewußt sein, kann aber
auch bewußt gemacht werden; eben dazu hilft Sprache.
Erkenntnis ist zu
Bewußtsein gelangte Erfahrung. Erkenntnis wirkt sich auf neue
Erfahrungen aus:
sie weitet den Blick, klart ihn zur Sehschärfe und steigert
bestimmte
Erfahrungspartikel. Leider schließen sich beim
Öffnen von einer neuen Tür immer
mehrere alte; Neuerkenntnis bringt auch immer andere Erkenntnis in den
Hintergrund
des Vergessens. Mit Neuerfahrung wird andere Erfahrung
verdrängt. Erkenntnis
vollzieht einen permanenten Wechels von Vorder- und Hintergrund. Nie
gelangt
alle Erfahrung ans sprachliche Licht. Aber der Hintergrund wird
insgesamt
klarer. Gerade diese Aufhellung des Ganzen von Leben kann eine
bestimmte
Sprachform bewirken. Philosophie will das.
Aber es gibt
„Philosophie“
sowenig wie „Theologie“ als Einheit. Heidegger etwa
ist Paradigma von
Bürokratie: seine Sprache ist fleißig am Einordnen
der Wirklichkeit in die
Aktenordner seiner versponnenen Begrifflichkeit. Sie klassifiziert das
Sein mit
schulmeisterlicher Strenge. Der Modus direkter Erfahrung wird
empört abgelehnt
und mit dem Vulgären des durch Sprichwortweisheit
vorprogrammierten
Schulbewußtseins in einen Topf geworfen. “Denken
heißt identifizieren.
Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken
begreifen
will. Sein Schein und dessen Wahrheit verschränken
sich.“(Th. W. Adorno,
Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966, S.15) Ähnlich
schreibt Adorno in der
Kritik der Dialektik: „Die Verarmung der Erfahrung durch
Dialektik jedoch, über
welche die gesunden Ansichten sich entrüsten, erweist sich in
der verwalteten
Welt als deren abstraktem Einerlei angemessen.“(Negative
Dialektik S.16)
Philosophie als Medium zur direkten
Erfahrung zu sehen, scheint wiederum aus der Denkart, mit der ein
Griechischpauker sein Fach für den einzig lohnendem
Zeitvertreib hält und für
den Weg zum Heil sowieso. Mit Philosophie meine ich aber nicht ein
gründliches
Studium der Vorsokratiker, Leibnitz, Fichte, Kant und Hegel. Einfaches
Nachdenken über die Situation bringt ebensoweit. Man
muß Mißtrauen entwickeln
als Grundhaltung. Nicht immer gleich alles glauben, was einem
weißgemacht wird,
auch das, was man sich selbst weißmachen will. Die Worte
stehen hinter dem
zurück, was man erlebt. Mit der eigenen Erfahrung
muß die internalisierte
Sprachgewohnheit geprüft werden; nicht das einzelne Wort,
sondern der
Zusammenhang, den das gelernte Sprachschema in der Erfahrung herstellt.
Ich
glaube, daß in den verlogenen Sprüchen unserer
Sprache genug Selbstwiderspruch
steckt, herrührend aus der doppelten Moral des
Bürgertums, um einen
Selbstreinigungsprozeß der Sprache in Gang zu setzen. Man
schaut sich genau
aufs Maul, wenn man spricht und die Intuition sich Worte aufklaubt, die
zum
Ausdruck helfen sollen. Man merkt sofort das Kettensystem der Sprache:
eher
behindert sie Ausdruck, als ihn zuzulassen. Wort und das Gemeinte
klaffen weit
auseinander, dieser Widerspruch läßt sich
reflektieren und zur Kritik des
Denkens an sich selbst einsetzen.(cf Adorno, Drei Studien zu Hegel,
Frankfurt/Main4 (Suhrkamp) 1970, 85ff) So wird gerade das, was
Vermittlung von
Entfremdung ist, die strengste Waffe gegen diese; wer Sünde in
sich hat, kennt
sich aus mit dieser. Aufhebung von Entfremdung ist nur aus ihrer
Kenntnis
heraus möglich. Am besten lernt man sie kennen am eigenen
Leib. Die
vergewaltigende Sprache der Begriffe im erkannten Widerspruch zur
Erfahrung
bringt Sprache auf schwerem Weg in den Dienst der
Subjektivität, die sich vom
Begriff geknebelt und verstümmelt erfährt:
„Die Utopie der Erkenntnis wäre, das
Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen
gleichzumachen.“(Negative
Dialektik, 19) Indem Sprache weiß, daß sie
qualitativ anders ist als Erfahrung,
im Distanzhalten von der Unmittelbarkeit, die sie so auch
schärfer sieht als
aus zu großer Nähe, gibt sie der Erfahrung den
nötigen Raum zur Entfaltung. Die
Sozialnorm Sprache wird vom Mittel der Anpassung des
Bewußtseins zum Gegenteil.
Verbündet mit den eigenen Erfahrungen entlarvt sich Denken vor
sich selbst. Man
muß sich Mut einreden, den Widerspruch von Gefühl
und Verstand intensiv zu
erleben und ebenso intensiv sodann mit dem Verstand erfassen. Die
kleine
gefühlte Differenz von Gefühl und Beschreibung wird
Motor größerer Genauigkeit.
Sie führt in den Epochen des Zeitgeistes zu
Quantensprüngen in der
Anthropologie und Paradigmenwechseln.
Lernen ist auch eine Bezeichnung
für Erfahrung. Die Organisation für Lernen ist die
Schule. In der ersten Welt
(Europa, USA) bringt jeder Mensch ca. 1/7 seines Lebens in Schulen zu.
Neben
der Familie ist die Schule das wichtigste Instrument des Staats zur
Bildung des
Bewußtseins. In Schulen entfremdeter Gesellschaften
muß zwangsläufig diese
Entfremdung reproduziert werden. Lernen in Schulen ist die beste
Methode,
Bewußtsein um sich selbst zu bringen, also echtes Lernen
abzulehren. Die Schule
verstümmelt Lernen, Erfahrung, Denken und
Subjektivität. Wenn es die Eltern
noch nicht geschafft haben. An dieser Stelle wird
regelmäßig vom Schulmeister
eingeworfen, dies müsse erst mal bewiesen werden. Man traut
keinem Gedanken
über den Weg, des sich nicht mit der Logik juristischer
Kleinlichkeit mit allem
zu Verfügung stehenden Material, womöglich
Statistiken, dem Angesprochenen
aufnötigt. Deduktive Argumentation trippelt wie Geshas einher.
Denken, das sich
dieser Schrittfolge nicht unterwirft, wird als dummes Zeug ausgegrenzt.
Wie
Schule durch Lehrpläne Interessen aufnötig, so
programmiert sie Erfahrung vor.
Sie macht das, was man den kommunistischen Systemen mit erhobenem
Finger
anlastet: Gleichschaltung der Menschen.
Die Kirche hat Schwierigkeiten,
Gott los zu werden als ihre Ware auf dem Markt der Ideologien. Ich
glaube, daß
es daran liegt, daß Gott nicht erfahrbar ist. Viele Theologen
wollen sogar, daß
Gott, weil totalitär aliter, unerfahrbar ist. Als
„Erfahrungstheologie“ wird
die Denkmühe disqualifiziert, die das Bewußtsein in
der Erfahrung Gottes
schulen wollte. Solange Gotteserfahrung reduziert wird auf die
Begegnung mit
Gott durch Worte, das bezeichnenderweise von der Amtskirche verwaltet
wird,
solange braucht sich der Klerus keine Sorge zu machen, daß
Menschen unmittelbarer
Zugang zu Gott haben als der Klerus vorgibt, es zu haben. Solange
bleibt der
Pfaffe legitim, wie sich der Laie in Glaubensdingen inkompetent glaubt,
also
nicht auf eigene Erfahrung Gottes seine Existenz gründet.
Sicherlich ist Theologie als
Reflexion der Erfahrung mit Gott so wichtig wie Denken nur sein kann.
Aber
unsere Theologie redet ja über Gott. Auch
in meinem Gerede kommt das zum
Ausdruck, denn es ist eine verdorbene Sprache. - Erst recht
wäre Theologie da
nötig, wo kein Friede, keine Liebe und keine Hoffnung ist.
Dort müßte Theologie
Mut wecken zur Mündigkeit der Christen, aus der erlebbaren
Kraft Gottes zum
Abwerfen der Ketten des Systems. Die Kirche der Zukunft wird ihr
Heilsmonopol
abtreten an die Erfahrung der Glaubenden und Nichtglaubenden.
Vielleicht sollte
man unterscheiden zwischen spätkapitalistischer Verdinglichung
und Christentum.
Sollte dann Theologie nicht lieber schweigen, weil jedes Wort verdreht
wird?
Ich glaube, Rede von Gott ist unmöglich in einer Sprache, die
voller
Inkonsistenzen und falscher Implikationen ist.
Theologie ist paradox oder absurd.
Sie reinigt sich von ihrer Falschheit, indem sie sich ihrer
Unmöglichkeit
bewußt bleibt. Gott ist nicht der, von dem Theologen sagen,
Gott sei. Theologie
weist auf Gott hin, das ist alles. Benennen kann sie ihn nicht. Gott
als Geist
ist der Sprache voraus. Er kann nicht begriffen werden. Aber die
Begriffe des
Denkens können ihm einen Platz freihalten, zugleich Platz des
versöhnten
Menschen. Zu diesem Platz sich aufzumachen, mag Theologie
nütze sein,
anzuspornen.
“Sodaß wir nun
Knechte sind im
neuen Sinn des Geistes, nicht im alten Sinn des
Buchstabens“(Rm 7,6). Dazu Karl
Barth: „'Im alten Sinn des Buchstabens' würde dann
die religiöse
Menschenmöglichkeit in irgend einer neuen, verfeinerten,
zugespitzten Form,
eine neue 'Frömmigkeit' bedeuten. 'Im neuen Sinn des
Geistes’ bedeutet es ...
die Möglichkeit, die genau jenseits der Grenze aller alten und
neuen religiösen
Menschenmöglichkeit anfängt, von Gott her
anfängt. Wir haben es versucht, die
Begrenztheit der Religion zu begreifen. Eine negative Wahrheit? Ja,
ihre
positive Seite ist die, daß der Geist selbst für uns
eintritt mit
unausgesprochenen Seufzern (8,26).“(Barth,
Römerbrief, München 1922, 222) Weder
zu beten noch zu theologisieren wissen wir, und der Geist vertritt uns.
Worte
machen vom Unaussprechlichen ist gefährlich.(Wittgenstein,
Tractatus) Verfallen
ist dieser Fährnis die Wort-Theologie. Gott zu kennzeichen als
Wortemacher, ist
eine anthropologische Projektion (Feuerbach). Wer ihr
anheimfällt, wird, je
starrsinniger er lernt, seinen Blick zu blockieren, umso faszinierter
von dem
Gedanken, daß Gott Wort ward. Vom Logos in der Finsternis ist
der Weg der
Buchreligion zum Dogma nicht weit. Geist ist weit mehr als Wort.
Die Qualität Gottes
entscheidet
sich daran, wie resistent er gegenüber den Attacken der von
seiner Herrlichkeit
verunsicherten und zum Madigmachen alles Großen greifenden
Theologen ist. Das
Madigmachen Gottes geschieht am Besten durch Gequatsche. So bisher alle
bürgerliche Theologie zwischen Barth und Bultmann. Von Gott
kann keiner lassen,
einer versucht, ihn mit aller seiner Raffinesse in den Käfig
einer Kirchlichen
Dogmatik einzusperren. Dingfestmachen Gottes im Wort ist ein
Bemächtigungsversuch und zeugt von Todesliebe, dem Sadismus:
„Das Vergnügen an
vollständiger Beherrschung einer anderen Person...ist das
innerste Wesen des
sadistischen Hanges. Anders ausgedrückt: das Ziel des Sadismus
liegt darin,
einen Menschen in ein Ding zu verwandeln, etwas Beseeltes in etwas
Seelenloses,
weil durch die vollkommene und absolute Kontrolle jedes Lebewesen eine
entscheidende Qualität des Lebens verliert - die
Freiheit.“(E. Fromm, The Heart
of Man, New York 1966, 32) Fromm meint die Psychologie des
Unterdrückers.
Aber Kontrolle Gottes ist
Theologie ganz genau da, wo Gottes Sein in Angriff genommen wird. Gott
vom
Katheder lehrbar zu machen ist Vatermord durch Logik. Wie albern ist
das
Vorhaben, Gott mit freudigen Chorälen „die Ehre zu
geben“(EKG 233), noch kurioser:
mit einer schrulligen These zum Sein Gottes zu reüssieren, wie
Jüngel es liebt
zu zelebrieren und so seine Kenntnisse über Karl Barth und
Hegel zur
Amortisation zu bringen. Wir treiben die Verehrung Gottes eher zur
eigenen
Verehrung, zur Präsentation, wie gut wir singen, musizieren
und scharfdenken
können. Gott ist unser Gesang ziemlich egal. Vielleicht freut
er sich, wenn wir
uns freuen. Allerdings glauben der Mitbeter von Ps. 139, Gott sei big
brother,
always watching you and me. Er hört, wie falsch ich singe.
Im AT war Gott wie in
griechischer Philosophie als Ganzheit des Seins beschrieben. Der
Manabegriff
steht für das gleiche. Diese Erfahrung (!) Gottes wird
heruntergebrochen bis zu
den sieben loci der Dogmatik. Die Behauptung, Systematik differenziere
eben nur
den Gottesbegriff, stimmt nicht. Die Klassifikation des Seins hat Gott
verdrängt bis in das Jenseits. Angst vor der Erfahrung Gottes
hatte schon Adam.
Angst erzeugt Grenzen. Gott abzugrenzen von sich selbst, ist eine
Angstreaktion.
So wurde Gott ein „ganz anderer“. Pervers, diese
Unverschämtheit, Gott einen
ganz anderen zu nenen. Und sich dabei noch dessen Autorität
anzumaßen! Wie denn
der Meister, so auch Bewunderer Jüngel in
preußischer Denk-Zackigkeit. Buber
korrigierte Barth, Gott sei ganz der Selbe. Ich bin Gott, ich bin nicht
Gott.
Je mehr man Unsinn über Gott redet, desto näher kommt
man ihm, der sich nicht
von einem theologischen Sinnsystem, von putzigen Buchstaben, knebeln
läßt.
2 Kor 3,6: Der Buchstabe
tötet,
der Geist aber macht lebendig. Eph 4,6 zeigt ein urchristliches Staunen
über
Gott: „Ein Gott und Vater aller, der über allen, bei
allen und in allen ist“
begreift Gott präzis durch mangelnde Präzision. So
Paulus desöfteren, wo er
über 60 Mal den nichtssagenden Begriff
„alles“ bringt, 1 Kor 12,6: „Und es gibt
doch nur einen und denselben Gott, der alles in allem wirkt.“
Eph 1,23:
Christus erfüllt alles mit allem. Und erst im Kolosserbrief ,
man muß sich
einmal die irre Stimmung vorstellen, aus der der Verfasser schrieb:
„Jetzt aber
leget auch ihr alles ab, Zorn, Grimm, Bosheit, Lästerung,
schändliche Rede aus
eurem Munde! Lüget nicht gegeneinander, nachdem ihr doch den
alten Menschen mit
seinen Taten ausgezogen und den neuen angezogen habt, der nach dem
Bilde seines
Schöpfers zur Erkenntnis erneuert wird, wo kein Grieche noch
Jude, keine
Beschneidung noch Vorhaut, kein Fremdsprachlicher, Skyte, Sklave noch
Freier
mehr ist, sondern alles und in allem Christus.“(Kol 3,8-11)
Klassenlosigkeit
von Gesellschaft und Bewußtsein kennzeichnen den
„Frieden Christi“(V 15). Dies
ist Utopie.
Die Beschreibung der
Geschichtserfüllung nennt Gott „Alles in
Allem“. Die Vagheit des Begriffs ist
wahre Präzision: endlich wird Gott nicht mehr vom
Bedürfnis nach Klassifikation
- einem typischen Kennzeichen bürgerlicher Wissenschaft, die
erst Dogmatik
möglich machte, wie sie biblisch nie betrieben wurde -
vergewaltigt. Aufhebung
Gottes vom Denkobjekt zur Freiheit des neuen Seins, eines Subjektseins,
ist doch
gerade Jesu Angebot nach Paulus: Nun aber haben wir Frieden zu Gott -
nicht
umgekehrt (Rm 5,l). Der Begriff soll Gott nicht mehr begreifen. Wenn
Gott alles
in allem ist, ist er sowohl in mir, als auch außer mir. Gott
ist alles, Alles
ist Gott. Zum Vorschein kommt die Erfahrung Gottes in seinem gelungenen
Offenbarsein überall da, wo Grenzen verschwimmen, die Klarheit
des Blicks nicht
eher aufgeben darf, ehe sie nicht wirklich, außerhalb des
erkennenden Subjekts,
verschwommen sind, also objektiv historisch aufgehoben. Träume
verwischen
Wirklichkeit und Möglichkeit. Ichbewußtsein hebt
sich im Schlaf oft auf zur
Verschmelzung des Träumers mit dem Universum. Schlaferfahrung
solcher Natur ist
Antizipation im Gottesreich offenbaren Herrlichkeit Gottes als
Partizipation am
All. Der Mensch wird wieder in der Natur aufgehen als kti/sij
qeou=, statt deren Unterdrücker
zu
sein, wie in der ökologischen Krise heute sichtbar wird, indem
die deformierte
Natur dem Menschen dessen Leben als Teil ihrer selbst verdirbt. Wer in
der
Schöpfung den Schöpfer sieht, ganz mit Thomas und
seinen fünffachen
Gottesbeweisen (S.Th. q.2), hört auf, diese sich untertan zu
machen, wie die
spätere Priesterschrift nach der Gottesebenbildlichkeit in
Gen. 1,28 dann
fragwürdig daherkommt.
„Wir kommen für
gewöhnlich aus
der Tierheit nicht heraus, wir selbst sind Tiere, die sinnlos zu leiden
scheinen. Aber es gibt Augenblicke, wo wir dies begreifen; dann
zerreißen die
Wolken, und wir sehen, wie wir samt aller Natur uns zum Menschen
hindrängen,
als zu Etwas, das hoch über uns steht... Aber wir
fühlen zugleich, wie wir zu
schwach sind, jenen Augenblick der tiefsten Einkehr lange zu ertragen,
und wie
nicht wir die Menschen sind, nach denen sich die gesamte Natur zu ihrer
Erlösung hindrängt.“(Nietzsche,
Schopenhauer als Erzieher. Unzeitgemäße
Betrachtungen, Stück III, Leipzig (E.W. Fritzsch) 1874,58 =
Werke in 3 Bänden
Bd 1, München (Hanser) 1954,322f zit. in: Barth, Der
Römerbrief10 (EVZ) 1967,
291) Weil der Verdinglicher der Natur selbst ein verdinglichtes Wesen
ist,
warten Natur und Mensch auf den neuen Menschen, auf die Aufhebung der
Entfremdung des Menschen von seinem Wesen, die zur Entfremdung des
Menschen von
der Natur geführt hat. Dieses Warten macht wenig
Spaß: „Denn wir wissen, daß
alles Geschaffene insgesamt seufzt und sich schmerzlich
ängstigt bis jetzt.
Aber nicht nur das, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe
des
Geistes haben, auch wir seufzen in uns selbst und warten... auf die
Erlösung des
Leibes.“(Rm 8,22f) Wir seufzen in uns selbst. Das ist
Psychopathie. Das
schmerzliche Ängstigen muß aber präzisiert
werden. Der Schrei nach Freiheit
aber ist verstummt bei den Christen des Spätkapitalismus: wer
ihn ausstößt,
ohne im Seminar der Urschrei-Therapeuten seinen Obolus zu entrichten,
wandert
ab ins Irrenhaus, das die letzten Illusionen von Freiheit raubt, indem
es die
nach Freiheit schreienden in den verfeinerten Zwangsjacken von Sedativa
und
Elektroschocks, auch warmer Wanne, völlig ihres Ichs zu
berauben sucht. Das
wird illustriert von Emil Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch
für Studierende
und Aerzte, Leipzig (Barth) 1899.
Paulus lieferte mit Rm 13 schon
die Ideologie, die nötig war, um Unterdrückung zu
legitimieren. Kreuzzüge,
Vorläufer des Imperialismus, hatten christliche
Begründung im Missionsbefehl Mt
28. Mission ist pervertierbar und die grundsätzliche
Mißverständlichkeit liegt
in christlicher Ideologie selbst, die Schuld trägt an allen
Leiden, die sie
segnete und heute noch segnet in aller Welt, nicht nur beim Waffensegen
für
Vietnam. Nach Max Weber ist der Kapitalismus selbst ein Produkt
christlicher
Ideologie, auf der Gleichung von Reichtum und Segen Gottes erwachsen.
Dietrich Stollberg kommt in
kosequenter Folge seines Denkens immer stärker zu einem
radikalen
Materialismus. Materialismus ist kein Gegensatz zu Gott. Bloch
entwickelt den
dialektischen Materiebegriff weg von der Klotzmaterie, unbeweglich mit
Vorstellung von Sand und Baumaterial, zur Prozeßmaterie, dem
All, das aus sich
heraus neue Formen bildet, weil Materie immer in Bewegung ist und ihren
Zustand
verändert, zu sehen an Planeten, Rot im Spiralnebelspektrum,
Vulkantätigkeit,
Wandern von Inseln, Wasser überhaupt, Pflanzenwuchs,
Tierbestand als Evolution
einer unter sonderbarer Kontingenz chemopysikalischer Zufälle
zu Leben
umgeschlagenen Masse. (vgl. Thomas, S.Th. q. 2,3 Gott als Beweger der
Welt vom
Möglichen ins Wirkliche) Ihre möglicherweise
höchste Entwicklungsstufe, der
Mensch, ist als Wesen subjektiven Geistes fähig, den
objektiven Geist zu
erkennen: die verborgene Tendenz dieser Evolutionen.
Materie ist, abstrakt, aber
umfassender begriffen, das Möglichsein von Allem. Bloch
differenziert: „Nicht
alles ist jederzeit möglich und ausführbar, fehlende
Bedingungen hemmen nicht
nur, sondern sperren. (Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1973,
235f) Alles
ist „noch faktisch unmöglich, wozu die Bedingungen
überhaupt noch nicht
vorliegen“(236). Mondflug war im Mittelalter noch
unmöglich, obschon denkbar
als Möglichkeit. Das Bewußtsein konnte in seiner
Phantasie diese Möglichkeit
vorwegnehmen, aber nur als vorgestellte, nicht verwirklichte. Doch ist
sicher
noch mehr möglich, als uns heute auch nur
träumt.“Materie ist nicht nur kata\ to\
dunato/n nach
Möglichkeit, also das nach dem gegebenen Maß des
Möglichen jeweils Bedingende,
sondern sie ist to\
duna/mei o)/n, das
In-Möglichkeit-Seiende, also der - bei Aristoteles freilich
noch passive -
Schoß der Fruchtbarkeit, dem auf unerschöpfte Weise
alle Weltgestalten
entsteigen.“(238) Man muß Materie untersuchen auf
das „Maß(e) des jeweils
Möglichen“, wie auch auf das „Totum des zu
guter Letzt Möglichen“(237) Das
„utopische Totum ist im duna/mei
o)/n impliziert“ (238) und
kann vorscheinhaft geahnt werden
durch Erkenntnis der Tendenz-Latenz des geschichtlichen Prozesses, in
dem sich
Materie befindet.“Ohne Materie ist kein Boden der (realen)
Antizipation, ohne
(reale) Antizipation kein Horizont der Materie
erfaßbar.“(273f) Im Träumen als
Antizipation kommt Materie (denn Menschen sind ja Materie im Form von
„Leben
und Geist“(273)) zu Selbstbewußtsein ihres
heimlichen Treibens.
Neben Träumen sind
Utopien, Kunst
und Religion vom gleichen Stoff. “Kunst ist ein Laboratorium
und ebenso ein Fest
ausgeführter Möglichkeiten.“(249) Religion
sucht „utopische Vollendung in
Totalität“ und stellt „noch das Heil der
individuellen Sache gänzlich ins
Totum“, „in das: „Ich mache alles
neu'.“(248) So kommt in der Hoffnung auf das
Gottesreich so einiges zum Vorschein: das sich selbst entfremdete Wesen
des
Menschen, dessen Verwirklichung zur Gottessohnschaft (Rm 8,19) als
Zielinhalt
der ganzen Welt, die sich nach Freiheit sehnt, begriffen wird. Das
Alles im
Gottesbegriff ist nichts anderes als die Totalität des zu
guter Letzt
Möglichen. Gott ist Materie. Denn er macht alles
möglich. Aber eben nach
Maßgabe der Bedingungen. Gott ist kein Zauberer im Zirkus.
Gott hat als Materie
einen schweren Weg vor sich, bis seine Schöpfung zur
Fülle ihrer Möglichkeiten
gekommen ist, ins Reich, wo Gott dann mit erfüllter Hoffnung
Alles in allen
gepriesen werden wird. Gott als Grund der Möglichkeiten ist
aber nicht
statisch, wie in der angeführten Thomasstelle, sondern im
Werden. Indem
sich Materie bewegt und neue Möglichkeiten wirklich werden,
wird Gott selbst in
seinen verborgenen Möglichkeiten einen Schritt auf dem Weg ins
Reich
wirklicher. “Wenn die Welt konvergent
ist, und wenn Christus ihr
Zentrum einnimmt, dann ist die Christogenese des heiligen Paulus und
des
heiligen Johannes nichts anderes und nichts Geringeres als die
gleichermaßen
erwartete wie überraschende der Noogenese, in der für
unsere Erfahrung die
Kosmogenese gipfelt. Christus umkleidet sich organisch mit der
Majestät seiner
Schöpfung. Infolgedessen (und ohne dies bildlich zu verstehen)
sieht sich der
Mensch imstande, mit der bewegten Welt in ihrer ganzen Länge,
Breite und Tiefe
seinen Gott zu erleiden und zu entdecken. Gott buchstäblich
sagen zu können,
daß wir ihn lieben, nicht nur mit unserem ganzen Leib,
unserem ganzen Herzen
und unserer ganzen Seele, sondern mit dem ganzen, auf dem Weg der
Einswerdung
befindlichen Universum, das ist ein Gebet, das nur in der Raum-Zeit
möglich
ist. (...) Das Christentum allein, ganz allein auf der modernen Erde
zeigt sich
fähig, in einem einzigen, aus dem Leben entspringenden Akt das
All und die
Person zur Synthese zu bringen. Ganz allein kann es uns dahin
führen, der
ungeheuren Bewegung, die uns mit sich reißt, nicht nur zu
dienen, sondern sie
auch zu lieben. Was sollen wir anderes sagen, als daß es alle
Bedingungen
erfüllt, die wir von einer Religion der Zukunft mit Recht
erwarten, und daß es
wirklich, wie es uns verheißt, die Stellung einnimmt, durch
die hindurch in
Zukunft die Hauptachse der Evolution gehen wird?“ (Pierre
Teilhard de Chardin,
Der Mensch im Kosmos, München4 1959, 263f) Von der Austreibung
Gottes aus der
immer noch nicht paradiesisch gewordenen Materie durch die Theologie
ins Jenseits,
in eine Transzendenz über, aber ohne Materie, muß
der zur versöhnten Existenz
im Glauben bereite Mensch umdenken (metano/esij) zur
utopischen Religion, in der Gottes Ort von fühlbarer,
berührbarer Qualität ist,
wenn er wirklich geworden ist. Glauben ist Antizipation dieser Utopie,
die noch
lange nur in Möglichkeit bleiben wird. Glaube transzendiert
die bestehenden
unerlösten Verhältnisse in der Hoffnung. Aber diese
Hoffnung bleibt auf der
Erde mit beiden Beinen.
Christlicher Glaube ist eine
bestimmte Form von Hoffen auf Gott. Daneben gibt es andere
Möglichkeiten, auf
Gott zu hoffen. Glaube wird starr, wo er aus Verlustangst um das
„Eigentliche“
sich in bissiger Abgrenzung von anderen Religionen aufs Dogma
zurückzieht und
die Wirklichkeit den Politikern und Naturwissenschaftlern
überläßt. Wenn Gott
alles in allem ist, bringt ihn keine Theologie dazu, sich mit einem
Sein droben
im Himmel zufriedenzugeben. Gott hat keine Lust, da oben zu hocken, im
reinen
Ansich, weil er dort nicht mehr Gott ist. Gott ist tot, wenn er die
Erde
verläßt.
Gott stirbt nicht, wenn seine
Christen und die „übrige“
Schöpfung aufhört, ständig „Herr,
Herr“ zu murmeln.
Diese Masche der Gottbenennung im Pietismus und der CDU hat sich
bekanntlich
besterdings mit dem Mammon vertragen, wie eine Analyse des Etats von
Württembergischer Landeskirche und den Förderern des
Albrecht-Bengel-Vereines
zeigen würde, käme man an diese Dokumente heran.
Theologie könnte sich in der
dogmatischen Beschränkung Gottes auf ihr Seufzen und Schweigen
beschränken.
(„Schweige still, denn es ist das Absolute“
(Sören Kierkegaard, zit. in:
Bonhoeffer, Wer ist und wer war Jesus Christus?, Stundenbuch 4, 9)
Alsdann tritt sie ihre Aufgabe
mit klarem Kopf an, indem sie via theologia negativa alle
Verhältnisse als
widergöttlich denunziert, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes,
ein verlassenes und verächtliches Wesen ist. Denn von Gott
reden heißt vom
Menschen reden, so sogar Bultmann.
Und die Not des Menschen ist die
Not Gottes. So schon, ja gerade am Kreuz.“Gott gibt uns zu
wissen, daß wir
leben müssen, als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig
werden. Der Gott
der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt
(Markus 15,34) Der Gott, der uns
in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese
Gott, ist der Gott, vor dem
wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott
läßt sich aus
der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig
und schwach in der Welt
und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matth. 8,17
ganz
deutlich daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht,
sondern, kraft seiner
Schwachheit, seines Leidens! (...) Die Bibel weist den Menschen an die
Ohnmacht
und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. (...) Gott
der Bibel,
der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum
gewinnt.“(Bonhoeffer,
Widerstand und Ergebung, Hamburg (Siebenstern) 1971, 178) Die Ohnmacht
Gottes
wird von Bloch durch das nach-Möglichkeit-sein
erklärt. “Nicht alles ist
jederzeit möglich“. Geschichtlich sieht das so aus,
daß Liebe utopisch ist. Mit
Johannes gegen die Welt: „Jesus ist genau gegen die
Herrenmacht das Zeichen,
das widerspricht, und genau diesem Zeichen wurde von der Welt mit dem
Galgen
widersprochen: das Kreuz ist die Antwort der Welt auf die christliche
Liebe.“(Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main 1973,
1489)
Manche denken schon kursiv, im
Wort. Andere haben Mühe, zur Sprache mit dem Denken zu kommen.
Nur so aber kann
man seine Neuentdeckungen und die Freude drüber nach Hause
bringen in
entfremdeter Zeit.
Unsinn ist der Griff in die
formale Möglichkeit. Und das formal mögliche
enthält den Zucker des Formlosen.
Form ist dann zwar noch auf dem Dunkelkammerprodukt des Fotografen
dieser Zone
zu erkennen, weil das zum Objekt destillierte Ereignis seiner
Kategorien
beschnitten wurde: der Zeit im Fall des Stereofotos, der dritten
Dimension beim
Monobild, der Farbe beim Schwarzweißen - obendrein des
Geruchs, Geschmacks, des
Ertastgefühls und des Geräuschs, bis hinein ins
Erlauschen von Stille. So
gerinnt die Trockenflüssigkeit der Geschehens zum Statischen,
das mit Mitteln
dann als Formhaftes präpariert wird. Zeitlich als
ständiges Wechseln statischer
Formen, wie die Sirene ständig die Frequenz wechselt. Die
Bewegungen der Fliege
sind der Schnecke unbegreiflich. Das formal mögliche hat keine
Formen, wenn es
in seiner Ganzheit gesehen wird. So auch Gott als Ganzheit der in
Möglichkeit
seienden Materie. Nicht zufällig ist Schalom deutsch Heilsein,
Ganzsein, mit
universeller, ja universaler Tendenz. Frieden ist das Sein Gottes. Wie
wir auf
Frieden warten, so auch auf Gott. Aber es lassen sich Sekunden
erhaschen von
der Teilhabe am Ganzsein, wo man sich nicht mehr ins Ich
hineingestückelt
erfährt und endlich merkt, was für eine Borniertheit
die ganze Diskussion um
Identität hat. Mit unserer Fremdsprache, sei es Deutsch oder
Schwedisch, lassen
sich immer nur Partikel von Ganzheitserfahrungen kommunikabel machen.
Ein Tier,
das Angst hat, zieht sich in sich zurück. Wenn es
überleben will, muß es sich
mit anderem als es selbst liieren, Nahrungsaufnahme genannt. Es ist auf
Umformung angewiesen, statisch stürbe es, entsprechend der nie
umsinnende
xenophobe, katatonische Mensch. Umsinnung als Buße ist der
Tausch eines -
angeblich - wirklichen mit einem möglichen. Dabei wird das
wirkliche möglich,
aber nicht mehr wirklich; das mögliche wirklich.
Das sogenannte
„Ausflippen“ der
Hippiebewegung ist ein Normtausch, der nur selektiv Einzelnormen
durchbricht
und im Großen und Ganzen recht konform und brav mit dem
restlichen Normgefüge
einer Gesellschaft harmoniert. Drogennutzer z.B. neigen dazu, sich ins
Dealing
zu etablieren und werden Geschäftleute. Permanenter Normtausch
wäre Ausflippen
des Ausflippens. Zentralen Stellenwert der jugendlichen Subkultur hat
der
sogenannte Sex. Dahin möchten die Ausgeflippten kommen, zur
Möglichkeit, tief
in sie eindringen, in diesen wundervollen Schoß der Materie
mit ihrer
Fähigkeit, sich bei der Wurzel zu fassen, radikal zu sein im
halb Begriffenen.
Drang nach mehr ist die Tür aller Türen.
Türen grenzen. Pioniere überschreiten
Schwellen. Die Radikalen haben schwellende Wurzeln. Mit ihnen nehmen
sie den
Materieschoß immer mehr ein, verwurzeln sich im Erdreich,
wohl wissend, daß die
Türen, je weiter sie hineindringen, desto
größer werden. Darum muß die Wurzel
weiterschwellen. Ein Zurück gibt es nicht aus diesem
Schoß, Anachronismus ist
unmöglich. Der Sturm der Geschichte weht den Engel Benjamins
unaufhörlich in die
Zukunft, wieviel Trümmer er auch hinter sich lassen
muß. Im Fortschreiten des
sexuellen wie auch des wissenschaftlichen Erforschens der Welt
verbreitert sich
die Basis des Erfahrenen und Gewußten, das Wissen schwillt an
zur Weisheit –oft
erst auf den Trümmern der Mißerfolge. Israels
Wüstenwanderung ist solch eine
Mißerfolgsgeschichte.
Drang verformt. Drang sucht. Er
hat Richtungen, nie nur eine. Drängende wissen das. Verformung
ist Bewegung.
Durch Bewegung wird verformt. Geistbewegung sinnt um. Wer nie umsinnt,
ist
geisttot. Er badet im eigenen dogmatischen Saft, lernt nicht mehr dazu
aus
seinen Fehlern und muß sich niemals auf Paradigmenwechsel
einlassen. Wie
geistesgeschichtliche Neuansätze von solchen Bestandssicherern
als Unsinn
bezeichnet werden – etwa die Relativitätstheorie,
könnte man die - auch
historische - Ganzheit geistigen Sinnbewegens als Allsinn bezeichnen.
Die
Gesamtheit aller einzelner Gedanken, aller Fakultäten im
Streit um den
fortgeschrittensten Stand ihrer diversifizierten Erkenntnisse, ist
undenkbar
für die mitteleuropäischen Honoratioren. Dazu
müßten sie ja interdisziplinär
werden. Dann ist im Angesicht der Totalität allen Wissens
schon nicht einzelnes
mehr denkbar ohne das Gefühl, man liegt falsch. Das ist der
Motor hegelscher
Dialektik. Die Gesamtheit von Sinn ist für das Einzelsubjekt
nicht mehr
nachvollziehbar. Aus dieser Kapitulation von Akademikern vor der
Erfahrung von
Sinnganzheit rührt die Aggression gegenüber allen
her, denen man an ihrer
ausgeflippten Art zu leben (Timothy Leary, Aldous Huxley) anmerkt,
daß sie
Kontakt zum Möglichkeitsganzen von Sinn haben. Die Aggression
des Bürgers gegen
alle Jugendperversionen und noch mehr gegen konsequenten Radikalismus,
gleich
welcher Richtung, quillt aus dem Neid, nicht teilzuhaben an der
Erfahrungsfülle
und geistigen Freiheit der Aggredierten.
Um zu zeigen, wie viel meiner
Ausgangspunkte aus der angelsächsischen Antipsychiatrie
stammen, möchte ich den
Anfang in Form eines kaum kommentierten Lesebuchs gestalten. Die
jäen Klüfte
zwischen den Abschnitten sind gewollt. Die Collage wird
bewußt nicht textmäßig
umgarnt mit verbindenden Überleitungen.
Wie konstituiert sich die
menschliche Erfahrung? Alles beginnt mit dem Du und Ich zwischen Mutter
und
Kind, dem dialogischen Prinzip des menschlichen Lebens: „Ich
sehe dich, und du
siehst mich. Ich erfahre dich, und du erfährst mich. Ich sehe
dein Verhalten.
Du siehst mein Verhalten. Aber ich sehe nicht deine Er fahrung von mir,
habe
sie nie gesehen und werde sie nie sehen. Ebenso kannst du nicht meine
Erfahrung
von dir 'sehen'. Meine Erfahrung von dir ist nicht 'in' mir. Sie ist
einfach
du, wie ich dich erfahre. Und ich erfahre dich nicht als in mir.
Gleichfalls
nehme ich an, daß du mich nicht als in dir erfährst.
'Meine Erfahrung von dir'
ist nur ein anderer Ausdruck für 'du, wie ich dich erfahre',
und 'deine
Erfahrung von mir' entspricht dem 'ich, wie du mich
erfährst'.“(Ronald D.
Laing, Phänomenologie der Erfahrung, ES 314, Frankfurt
(Suhrkamp) 1969, 11f)
„Erfahrung als
Unsichtbarkeit des
Menschen für den Menschen ist gleichzeitig evidenter als
irgend etwas sonst.
Einzig Erfahrung ist evident. Erfahrung ist die einzige
Evidenz.“(ebd. 11)
„Die Relation von
Erfahrung zu
Verhalten ist nicht die von 'innerlich' zu
'äußerlich'. Meine Erfahrung ist
nicht in meinem Kopf, meine Erfahrung von diesem Zimmer ist
draußen im Zimmer.
Meine Erfahrung als intra-psychisch hinzustellen, hieße
voraussetzten, daß es eine
Psyche gibt, in der meine Erfahrung ist. Meine Psyche ist meine
Erfahrung,
meine Erfahrung ist meine Psyche.“(15)
„Verhaltens ist eine
Funktion der
Erfahrung. Erfahrung und Verhalten stehen immer in Relation zu irgend
jemand
oder zu irgend etwas anderem als dem Selbst.“(25)
„Phantasie ist eine bestimmte
Art, zur Welt Beziehungen herzustellen. Phantasie ist ein - manchmal
wesentlicher - Teil von Bedeutung oder Sinn... einer
Aktion.“(25)
„Jede
Erfahrung ist aktiv und passiv, ist Einheit von Gegebenem
und Gedeutetem. Eine Deutung des Gegebenen kann positiv oder negativ
sein:
entweder es ist das Erhoffte, Befürchtete oder Erwartete, oder
es ist es nicht.
Das Element der Negation steckt in jeder Beziehung und in jeder
Erfahrung von
Beziehungen.“(31) „Wir erfahren die Objekte unserer
Erfahrung als dort in der
äußeren Welt. Die Quelle unserer Erfahrung scheint
außerhalb von uns selbst zu
sein. In der schöpferischen Erfahrung erfahren wir die Quelle
erschaffener
Bilder, Skizzen, Töne als in uns und doch jenseits von uns.
(...) Wir sind
physisch voneinander getrennt und aufeinander bezogen. Personen als
körperlich
Seiende haben Beziehungen zueinander durch das Medium des Raumes. Wir
sind
getrennt und verbunden durch die Verschiedenartigkeit von Perspektive,
Erziehung,
Background, Organisation, Gruppenloyalität, Bindung,
Ideologie,
sozio-ökonomischem Klasseninteresse und
Temperament.“(Laing aaO32)
„Es reicht nicht, die
eigene und
anderer Leute Erfahrung zu zerstören. Man muß diese
Verwüstung durch ein
falsches Bewußtsein überlagern, das (nach Marcuse)
an seine eigene Falschheit
gewohnt ist. (...) Wir fangen bei den Kinder an. Man muß sie
rechtzeitig
erwischen. Ohne eine sorgfältige und schnelle
Gehirnwäsche würde ihr schmutziger
Geist unsere schmutzigen Tricks durchschauen, (...) Vom Augenblick der
Geburt
an, wenn das Steinzeit-Baby sich der Mutter des 20. Jahrhunderts
gegenübersieht, ist es jenen Kräften der Gewalt
unterworfen, die man Liebe
nennt - (...). Diese Kräfte zielen vor allem auf die
Zerstörung seiner meisten
Anlagen. Im allgemeinen verläuft das Unternehmen
erfolgreich.“(Laing aaO 50 f)
„Man bringt uns bei, was wir zu erfahren haben und was nicht,
wie man uns auch
beibringt, welche Bewegungen wir zu machen und welche Laute wir von uns
zu
geben haben. (...) Wie man dem Kind aus der Vielzahl möglicher
Bewegungen
beibringt, sich in bestimmter Weise zu bewegen, so bringt man ihm auch
das
Erfahren aus der Vielzahl möglicher Erfahrungen
bei.“( Laing aaO 52f)
„Jede Beschreibung setzt
unsere
ontologischen Prämissen voraus - zur Natur des Menschen, der
Tiere und der
Beziehungen zwischen ihnen. (...) Eine positivistische Beschreibung ist
nicht
'neutral' oder 'objektiv'.“(Laing aaO 53) (vgl.. Habermas,
Erkenntnis und
Interesse, Frankfurt/Main 1973, 90) „Im Zeichen der
Entfremdung unterliegt
jeder Aspekt menschlicher Realität der Verfälschung.
Eine positivistische
Beschreibung kann nur die Entfremdung fortsetzen, die sie selbst nicht
beschreiben kann; sie vertieft sie, sie verhüllt und maskiert
sie noch mehr.“(
Laing aaO 54) „Das theoretische und deskriptive Idiom
sozialwissenschaftlicher
Forschung gibt sich oft den Anschein, 'objektiver'
Neutralität. Wir haben jedoch
gesehen, wie trügerisch das sein kann. Die Wahl von Syntax und
Vokabular ist
ein politischer Akt; er definiert und umschreibt, wie 'Fakten' erfahren
werden
sollen. In einem gewissen Sinne schafft er sogar erst die Fakten, die
untersucht werden.“(Laing aaO 54)
„Personen unterscheiden
sich
dadurch von Dingen, daß sie die Welt erfahren,
während Dinge sich in der Welt
verhalten. Dingliche Ereignisse erfahren nicht. Personale Ereignisse
erfahren.
Naturwissenschaftlichkeit ist der Irrtum, Personen in Dinge zu
verwandeln durch
einen Prozeß der Reifikation, der selbst nicht Teil der
wahrhaft
naturwissenschaftlichen Methode ist. So gewonnene Ergebnisse
müssen
de-quantifiziert und de-reifiziert werden, bevor sie re-assimiliert
werden
können in die Diskussion der Menschen. Der Irrtum liegt
grundsätzlich darin,
daß man die ontologische Diskontinuität zwischen
Menschen und Dingen nicht
realisiert.“(Laing aaO 55)
„Die libidinösen
Leistungen, die
vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele
benimmt, sind
derart, daß sie nur vermöge der tiefsten
Verstümmelung vollbracht werden
können, einer Verinnerlichung der Kastration in den
extroverts, der
gegenüber...die alte Aufgabe der Identifikation mit dem Vater
das Kinderspiel
ist, in dem sie eingeübt wurde. (...) Keine Forschung reicht
bis heute in die
Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden,
die später als
Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als
gelungene Einpassung ins
unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage
kommen. Es ist
Grund zur Annahme, daß sie in noch frühere Phasen
der Kindheitsentwicklung
fallen als der Ursprung der Neurosen: sind diese Resultate eines
Konflikts, in
dem der Trieb geschlagen ward, so resultiert der Zustand, der so normal
ist wie
die beschädigte Gesellschaft, der er gleicht, aus einem
gleichsam
prähistorischen Eingriff, der die Kräfte schon
bricht, ehe es zum Konflikt
überhaupt kommt, und die spätere Konfliktlosigkeit
reflektiert das
Vorentschiedensein, den apriorischen Triumpf der kollektiven Instanz,
nicht die
Heilung durchs Erkennen. (...) Wenig fehlt, und man könnte
die, welche im
Beweis ihrer quicken Lebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen,
für
präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem
nicht ganz
gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen
Rücksichten vorenthielt. Auf dem
Grunde der herrschenden Gesundheit liegt der Tod. (...) Trostlos aber
der
Gedanke, daß der Krankheit des Normalen nicht etwa die
Gesundheit des Kranken
ohne weiteres gegenübersteht, sondern daß dies meist
nur das Schema des
gleichen Unheils auf andere Weise vorstellt.“(Th. W. Adorno,
Minima Moralia,
Frankfurt/Main 1973, 69 - 7l)
„Die anderen haben sich
in
unseren Herzen installiert; wir nennen sie 'wir selbst'. Jeder ist
weder für
sich noch für den anderen er selbst, wie auch der andere weder
für sich noch
für uns er selbst ist; jeder ist ein andrer für den
anderen und erkennt weder
sich selbst im anderen noch den anderen in sich selbst.“(R.
D. Laing,
Phänomenologie der Erfahrung, aaO, 65f)
„Die Geschichte der
Häresien
aller Art zeigt nicht nur die Tendenz, die Kommunikation abzubrechen
(Exkommunikation) mit denen, die abweichende Dogmen oder Meinungen
haben, sie
bezeugt unsere Intoleranz gegenüber abweichenden fundamentalen
Erfahrungsstrukturen.“(Laing aaO 69)
„Die menschliche Szene
ist eine
Szene von Vorspiegelungen und dämonischen
psyeudo-Realitäten: alle glauben,
alle anderen würden daran glauben.“(Laing aaO 70)
„Wenn ich mir dich und ihn
als zu mir gehörig und andere wiederum als nicht zu mir
gehörig vorstelle, habe
ich bereits zwei elementare Synthesen hergestellt: das 'wir' (...) und
das
'sie'. Damit 'wir' zu einer Gruppe werden, ist es nicht nur
nötig, daß ich -
sagen wir einmal - dich und ihn und mich als 'wir' betrachte, sondern
auch, daß
wir bei dir und ihm als 'wir' gelten.“(Laing aaO 76)
„Eine Gruppe, deren
Vereinigung erreicht wird durch die reziproke Interiorisation eines
jeden durch
einen jeden und in der weder ein 'gemeinsames Objekt' noch
organisatorische
oder institutionelle Strukturen usw. als Gruppen-'zement' eine
Primärfunktion
haben, werde ich Nexus nennen. (...) Der Nexus existiert nur, insoweit
jede
Person den Nexus inkarniert. Der Nexus ist überall in jeder
Person, und er ist nirgendwo
als nur in ihr.“(Laing aaO 77f)
„Die Stabilität
des Nexus ist
Produkt des Terrors, der bei den Mitgliedern erzeugt wird durch das
Einwirken
(die Gewalt) der Gruppenmitglieder aufeinander. Solche
Familien-'Homöostase1 ist
Produkt der Reziprozität nach den Õesetzen von
Gewalt und Terror.
Oberstes Moralgebot des Nexus ist
rejziproke Sorge.“(Laing aaO 80) „Die Erfindung des
'sie' schafft 'uns', und
vielleicht brauchen 'wir' die Erfindung des 'sie', um 'uns' selbst neu
zu erfinden.“
„Wenn es keine externe Gefahr gibt, denn müssen
Gefahr und Terror erfunden und
aufrechterhalten werden.“(Laing aaO 82, 79)
„ 'Rußland'
oder 'China' haben
nirgendwo 'Existenz' als nur in jedermanns Phantasie, 'Russen' oder
'Chinesen'
eingeschlossen - nirgendwo und überall. Eine 'Existenz' - in
der Phantasie 'der
Russen': sie sind in ihr und haben sie zu verteidigen; in der Phantasie
der
Nicht Russen: ein fremdes Super-Subjekt-Objekt, gegen das man seine
'Freiheit'
zu verteidigen hat. Wenn wir alle entsprechend solcher
präontologischen
seriellen Massenphantasie handeln, können wir alle vernichtet
werden durch eine
'Existenz', die nie existiert hat, ausgenommen insofern, als wir alle
sie oder
es oder ihn erfunden haben.“(Laing aaO 86)
„Wer das Verhalten vieler
Leute
zu kontrollieren sucht, wirkt auf die Erfahrungen dieser Leute ein.
Wenn Leute
erst einmal dazu gebracht werden können, eine Situation
ähnlich zu erfahren,
kann man erwarten, daß sie sich auch ähnlich
verhalten werden. Bring Leute
dazu, dasselbe zu wollen, dasselbe zu hassen, dieselbe Bedrohung zu
fühlen,
dann ist ihr Verhalten bereits festgelegt, und du hast deine
Konsumenten oder
dein Kanonenfutter.“(86)
Das Problem von Geisteskrankheit
ist hintergrunds dieser Feststellungen (die nicht einzusehen in meinen
Augen
nur Blindheit und fehlende Erfahrungsautonomie ist) ein Machtproblem:
Psychopathen mucken auf gegen die allgemeingültigen Normen,
Erfahrungen und
Verhaltensweisen und stellen durch ihren Aufruhr gegen die
gesellschaftlichen
Werte und Worte diese in Zweifel, item auch die Träger dieser
Kollektivphantasien; diese fühlen sich in ihrer Existenz und
Legitimation
bedroht und wehren sich gegen Nonkonformisten mit gesellschaftlicher
Ausweisung
in Irrenhäuser, Gefängnisse und andere Asyle vom
Konzentrationslager, der
Gaskammer, dem elektrischen Stuhl (dessen minderes Exemplar zur
'Schocktherapie' dient) bis zum Waisenhaus und Altersheim.
Besonders die Kirche hat, sich
bei den vielfältigen Ausgliederungskampagnen verdient gemacht.
Nicht nur
Ketzer- und Hexenverbrennungen, Inquisition, Heiden, Juden- und
Verfolgung
christlicher Sekten (Hussiten, Albingenser u.v.a.m.) standen auf dem
Programm
der Mission ('Geht hin in alle Welt und lehret alle Völker..,
Mt. 28,19). Auch
die unter dem Stichwort Caritas betriebene Ghettoisierung von
Anfallskranken
(Bethel), gefährdeten Kindern ('Rauhes Haus' Hamburg), Waisen
(Francke in
Halle) um die Mitte des 19. Jh. Hat den Doppelcharakter von Hilfe und
Wegsperren. Für das Kontrollpersonal war durch gleichzeitiges
Erfinden der
Diakonissen gesorgt, die als Bräute Christi sich um die
Außenseiter kümmerten.
Über die soziale
Notwendigkeit im
historischen Kontext muß nicht gestritten werden, es kommt
mir darauf an zu
zeigen, wie die Kirche - mit welcher wie guten Absicht auch immer -
wesentliches zur Heranbildung eines Dissozialisierungsapparates beitrug.
Das soziale Todesurteil
'Geisteskranker' ist ein Machtmittel, um Leute, die andere Erfahrungen
machen
und sich dabei nicht beirren lassen, unschädlich zu machen. Es
gibt ähnliche
Urteile: Kriminelle, Alkoholiker, Landstreicher, Anarchisten,
Aufrührer. Allen
diesen droht als Strafe für ihr Anderssein Diskriminierung
(die schon durch den
Gebrauch des jeweils klassifizierenden Begriffs beginnt) und
Dissozialisierung
in Asyle verschiedener Form, also Freiheitsentzug verschiedener Stufen.
Die
Einweisung politischer Feinde in Irrenhäuser, die in der BRD
gegen die UdSSR
hochgespielt wird, besonders in kirchlichen Blättchen, ist
nichts als
Ehrlichkeit in der Logik, daß alle Außenseiter weg
vom Fenster gehören, gleich
welcher Art. Die Sortierung nach dem Grund ihres 'Vergehens' ist dabei
nebensächlich und dient doch nur dazu, Legitimationsprobleme
beim Einpferchen
zu beseitigen die ein totalitärer Staat kaum noch hat, weil
seine Normgebung
totalitär geworden ist. In den Hitler-KZ´s gesellten
sich eine Unzahl
verschiedener 'A-sozialer', vom Mörder, Schwulen bis zum
Zeugen Jehovas.
Kommunisten und Juden waren für Hitler ohnehin dasselbe, auf
Unterscheidungen
legte keiner mehr Wert außer den Inhaftierten selbst, die
sich durch ihre
extrem hohe Gegensätzlichkeit natürlich gegenseitig
kaputtmachten. (Eugen
Kogon, Der SS-Staat, München 1974,
46,52,300,312,318-22,362,371-374,384)
Psychopathie ist nur Protest.
Protest gegen die Verstümmelung, die jeder in der entfremdeten
Gesellschaft
zugefügt bekommen muß, um zu leben, was man so leben
nennt. Ob es extrovers
oder introvers gerichtet ist, ist dabei eine andere Sache, die aber
nichts dran
ändert, daß der 'Psychopath' seine
Identität vor sich selbst finden und
behalten will. Angriff oder Flucht sind zwei Arten der psychopathischen
Reaktion, die strukturell gleich sind.
Karl Menninger sieht in der
Psychopathie den Rückzug eines Menschen auf ein kleineres
Revier. Dessen Größe
und Ebenen lassen dem 'Subjekt' beträchtlichen Spielraum, den
letzten Rest
seines bedrohten Lebens noch einmal zusammenzuraffen, eine verborgene
kleine
Insel des Selbst zu werden. „Wenn das ganze Sein des
Individuums nicht verteidigt
werden kann, verlegt das Individuum seine Verteidigungslinie so lange
zurück,
bis er sich in eine zentrale Zitadelle zurückzieht. Es ist
darauf vorbereitet,
alles abzuschreiben, was es ist, nur nicht sein 'Selbst'. Aber das
tragische
Paradoxon besteht darin, daß das Selbst, je mehr es auf diese
Art verteidigt
wird, desto mehr zerstört wird.“(Laing, Das geteilte
Selbst, Editione continua
1974, 95) Das ist ein ernstes, gefährliches Spiel.
Wahnsinn ist die Auswanderung des
Menschen aus sich selbst. Dieses 'sich selbst' ist bestimmt durch sein
Gegenteil: Man selbst ist nicht Selbst. Der Mensch ist nicht (mehr oder
noch
nicht) Mensch. Er ist Mechanismus im entmenschlichten System des
Kapitalismus.
Alles ist hier pervers, darum deutet selbst die Rede von Menschsein und
'Mensch-bleiben'(Tegtmeier) auf die Nichtexistenz dessen hin, was
gemeint sein
sollte. Menschlichkeit ist zur Funktion des Beherrschens geworden,
darum hat
sie im Keim aufgehört, diese zu sein.
Man sagte in der bourgeoisen
Psychiatrie (Manfred Bleuler, Die schizophrenen
Geistesstörungen im
Lichte langjähriger Kranken- und Familiengeschichten,
Stuttgart (Thieme) 1972)
gerne, daß der Psychopath an einer organischen Erkrankung des
Hirns leide.
Diese sei ursächlich. Erst durch sie komme es zu abweichendem
Verhalten im
sozialen Wirkfeld. Auch die politisch für Befreiung
engagierten Menschen wurden
in früheren Untersuchungen als krankhaft übersensibel
und affektüberladen
bezeichnet, fanatisch aus Veranlagung. (M. Bauer/M. Richartz,
Angepaßte
Psychiatrie als Psychiatrie der Anpassung, in: Das Argument, Nr. 60,
154) Das
sozial abweichende Verhalten soll also von organisch abweichenden
Funktionen
herkommen. Indem man „organisiert“, leugnet man
jeder Wechselwirkung zwischen
Sozialität und Organizität und setzt das Soziale,
also die bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisse, absolut, unantastbar
für jede Kritik. Soziale
Veränderungen führen aber zu organischen
Veränderungen, oder allgemeiner: die
soziale Situation prägt den Charakter und beeinflußt
auch den Körper. So wird
etwa ein getadelter Schüler prompt rot im Gesicht, so haben
Schreibtischarbeiter und Fließbandarbeiter in dem Augenblick,
wo der Meister
vorbeikommt, einen völlig verkrampften Rücken, Herz-
und Kreislaufbeschwerden
sind eine historisch bedingte Krankheitsform, die u.a. auf
„Hetze“ oder Streß
zurückzuführen ist (wobei dieses Phänomen
dringend näherer Klärung bedarf).
Ebenso halte ich für wahrscheinlich, daß durch eine
sozial unerträgliche
Situation die Seele und deren organische Lokale im ganzen
Körper zu einer
Abweichung gebracht werden können, die man dann als
Psychopathie mit
organischer Ursache diagnostiziert. Dahinter steht die Schuldfrage:
wenn es ein
rein körperlich bedingtes, vielleicht genetisch vererbtes
Seelenleid wäre, so
hätte die ganze soziale Umwelt keine Schuld an der Krankheit.
Daß psychische
Erkrankungen auch gänzlich situationsneutral genetisch bedingt
sind, ist
durchaus nicht selten. Wenn aber organische Störungen erst
Folge sozialer
Störungen sind, so müßte die Therapie auf
die primäre Ursache (d.h. in
moralischer Kategorie: Schuldquelle) einwirken, um das Leiden zu
heilen. Dies
aber ist Sissyphosarbeit. Man müßte nicht nur
Mutter, Vater, Familie, Großeltern,
Verwandte, Bekannte therapieren, sondern alle sozialen
Verhältnisse, da
indirekt diese wieder mit der ganzen sozialen Realität
verbunden sind. Neben
der rein organisch-biologischen Genetik gibt es immer auch das
familiäre
Milieu, Familienaufträge zum Unglücklichsein,
Entwertungsrituale durch
Generationen hindurch bis ins siebente Glied, die dann bei jedem
Familienmitglied, was diesen Ritualen unterworfen wird, als Kette
multipler
Noxen schließlich zu meßbaren organischen
Veränderungen führt, in denen die psychische
Krankheit ihr somatisches Korrelat bekommt.
Der Leugnung einer
wechselseitigen Beeinflussung des Gesellschaftslebens mit dem
Seelenleben und
dem organischen Leben bei der Erklärung der Ursache von
Psychopathie entspricht
auch die Methode der Therapie und die Behandlung im Irrenhaus.
Der in der Regel
zwangseingewiesene Unterschichts-Psychopath ist ein Untersuchungs- und
Therapieobjekt des Psychiaters und Pflegeobjekt der Wärter. In
der Pflege wird
nur für körperliche Instandhaltung der Insassen eines
Asyls gesorgt, hier tritt
die Objektfunktion des Psychopathen sehr deutlich zutage, eben seine
Isolation
von jeglicher frei gewählten sozialen Welt. Mit welchem
Unverständnis für die
geheime Logik seines Verhaltens er dort studiert wird, zeigt ein
Klassiker des
Irrenarztbranche: Emil Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch
für Studierende und
Aerzte, Leipzig (Barth) 1899. Dieses Werk liest sich wie eine
zoologische
Abhandlung und offenbart im Streueffekt, mit welcher zynischen
Brutalität die
Wärter auf Geheiß des Heidelberg Professors ohne
Habilitation sich an den
Patienten zu schaffen machten. Würde jemand mit mir derartig
umspringen, ich
würde die gleichen Symptome als Protest und Selbstschutz
entwickeln.
In der analytischen Therapie
für
die neurotische Mittelschicht redet allein der Patient,
während der Therapeut
nur raffiniert spiegelt und schweigt. Nur die Erfahrungen des Klienten
stehen
zum Gespräch an, nicht die Sachen des Beraters. Inhaltlich
herrscht einseitige
Kommunikation, denn der Psychotherapeut sagt nur dasselbe, was der
Patient
sagt, mit anderen Worten.
Diese Isolation des Patienten ist
schon in der Anthropologie der psychoanalytischen Theorie
begründet. Der Vater
der klassischen Analyse, dessen Einfluß auf die gesamte
Entwicklung der
abendländischen Kultur wohl unterschätzt wird, sieht
einen Menschen als
geschlossenes System an, eigenständiger Organismus.
„Freuds Mensch ist der
physiologisch angetriebene unmotivierte homme machine. Aber an zweiter
Stelle
ist der Mensch auch ein soziales Wesen, denn er braucht andere Menschen
zur
Befriedigung seiner libidinösen wie auch seiner
Selbsterhaltungstriebe.“(E.
Fromm, Analytische Sozialpsychologie, und Gesellschaftstheorie,
Frankfurt am
Main (Suhrkamp) 1970, Edition suhrkamp 125, 175) „Er ist der
isolierte,
selbstgenügsame Mensch, der in Beziehung zu anderen treten
muß, um zur
gegenseitigen Befriedigung der Bedürfnisse zu
gelangen.“(ebd.) Jede falsche
Theorie hat verfälschende Auswirkungen auf die Praxis ihrer
Vertreter. „Die
moderne akademische und experimentelle Psychologie ist weitgehend eine
Wissenschaft, in der entfremdete Forscher mit entfremdeten und
entfremdenden
Methoden entfremdete Menschen untersuchen, „(ebd. 145f) Indem
man das
Verhältnis des Patienten zu allen möglichen Faktoren
seiner vergangenen,
gegenwärtigen und zukünftigen Umwelt ununtersucht
läßt, kann man dann
tatsächlich Freuds Hypothesen bekräftigt finden.
Wenn Psychopathie ein Protest
gegen die Lebensverhältnisse ist, unter denen sie auftritt -
wie ich oben sagte
-, dann ist die klassische Psychoanalyse und -therapie der Versuch,
diesen
Protest abzulenken vom Gegenstand des Protestes auf den Protestierenden
selbst.
So bewahrt man die protestverursachenden Lebensverhältnisse
vor jeder Kritik
und Aggression. So eine Psychiatrie verhilft dem herrschenden System,
protestlos und totalitär zu werden, d.h. keine abweichenden
Erfahrungen und
Verhaltensweisen zuzulassen. Es ist repressiv gegen den Patienten. Der
Faschismus kennzeichnet sich u.a. wesentlich dadurch, daß
alle politisch
andersdenkenden und sogar die individualistischen Künstler
usw. verfolgt
werden. (z.B. das Verbot des Expressionismus im Nazitum) Darum hat eine
isolierende Psychiatrie mindestens diesen einen faschistischen Zug. Sie
kann
also gut in faschistischen Systemen angewandt werden.
Die Wahl psychiatrischer Methoden
ist wesentlich ein politischer Akt. Die Entscheidung über
seelische Gesundheit
oder Krankheit entbehrt jeder objektiven Grundlage. Die Feststellung,
dies und
das sei krank, verfügt nur als quasi amtliche Verordnung
über Verhalten und
dessen chemische und biologische Grundlagen. Wer zu jemandem sagt:
„du bist
krank“, vollzieht einen Herrschaftakt. Er definiert einen
Menschen auf eine nur
oberflächlich in der augenblicklichen Erscheinung
nachvollziehbare Seinsstufe.
Der Kranke hat kein Anrecht auf seine Krankheit, sie ist ein
natürliches Übel,
das geheilt werden muß.
Kranke haben einen Sonderstatus,
Aussätzige stehen außerhalb der Gesunden. Sie werden
geächtet, man sucht sich
vor Ansteckung zu schützen. Infektionsgefahr droht scheinbar
auch bei
Psychopathen. Sie bilden eine Gefahr für die Gesellschaft und
für sich selbst,
so legitimiert man ihre Zwangseinweisung. Jede Bezeichnung eines
Menschen als
krank geht von einer Annahme aus, daß die anderen, die
normalen, gesund seien.
Das allgemeine ist nie das kranke, sondern das gesunde. Gesundheit ist
darum
eigentlich nur das, was vielen gemeinsam ist. Der siebte Zeh, das
Überbein, die
Mandeln, der Blinddarm und die Alterserblindung werden nicht mehr
angenommen
als gesunde besondere Eigenheiten, sondern gelten als krankhaft. Eine
fortschreitende Medizin sägt, bohrt und schneidet die Menschen
alle zum
Einheitsformat zurecht. Je größer der medizinische
Fortschritt, desto
einheitlicher werden die Menschen aussehen. Medizin, die Erfinderin der
Unterscheidung von gesunden und kranken Menschen, liefert als Ausgleich
für die
Verstümmelungen, die die Herrschaft den Unterdrückten
anrichtet, einen Apparat
zum Hochpäppeln der Kaputtgemachten, ähnlich wie der
Sanitäter im Militär
abermaliges Kanonenfutter produziert. Der Körper wird
oberflächlich verputzt
und geflickt, ohne auch nur den Gedanken daran, was ihn
zerreißt und abfetzt.
Ich vermute, daß die historische Ursache für das
Aufkommen von Krankheit als
Existenzform im Leiden eines Menschen besteht. Davon zeugt auch noch
die
Bezeichnung „Psychopathie“, Leiden der Seele. An
der Realität von Schmerz wage
ich nicht sonderlich zu zweifeln, ich bin gerne bereit, etwaigen
Zweiflern
dessen Existenz zu zeigen.(Rudolph Bilz, Studien über Angst
und Schmerz.
Paläanthropologie Band 1.2, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1971,
101-124) Kritik
aber verdient die Frage der Heilung. Heilung als Bekämpfung
der Symptome ist
gängig, aber selten nachhaltig. Echte Heilung verstand sich
immer als
Erkenntnis und Kampf gegen die Ursachen der Krankheit. Liegen die
Ursachen
einer Krankheit außerhalb des Kranken, so heißt
Heilung hier Kampf gegen das,
was ihn von außen kaputtmacht. Schlafkrankheit etwa wurde
durch die Verseuchung
des Bodenseegebiets u.a. mit DDT bekämpft, eine strukturell
richtige, aber
kurzsichtige Aktion. So hilft es auch, nichts, bei Alkoholikern,
Fixern,
Kiffern und Jesus People eine Entziehungskur zu machen, solange der
Grund der Sucht,
die zum Leiden bringende sinnentleerte Gesellschaft und konkret: das
spezifische Nahfeld eines Patienten, nicht sinnvoll geworden ist. Man
kann
frigiden Frauen viel einreden, solange ihr Mann sie ständig
neu frigidisiert.
Manisch Depressive leiden auch wohl kaum nur an sich von Natur aus,
sondern
schon eher an dem Käfig, zu dem man sie
zurechtgestoßen hat. „Das soziale
System muß Untersuchungsobjekt sein, nicht das Individuum,
das man daraus
extrapoliert.“(R.D.Laing, Phänomenologie, 104)
Die herkömmliche
Psychiatrie
unterscheidet eine Reihe von verschiedenen Geisteskrankheiten. Diese
Typisierungen beruhen im wesentlichen auf offensichtlichen
Beobachtungen an den
als Patienten definierten Menschen. Wie in der Medizin werden
Symptomkonstellationen zu einem Gesamtbild zusammengefaßt.
Der Zweck solcher
Diagnose ist die Auswahl eines wohlklingenden Krankheitsnamens
für den
Patienten; erst dies soll dann eine Heilung möglich machen.
Auf Grund
Strukturen menschlicher Existenz geht diese freudianische Theorie zwar
auch
ein, aber immer durch intrapsychische Modelle (Ich, Es,
Überich bei Freud;
Persona, Animus/Anima und Selbst bei Jung). Geisteskrankheiten aus der
Struktur
der menschlichen Erfahrung von sich selbst und der Welt und anderen im
gegenseitigen Verhältnis her zu begreifen, war dieser Theorie
nicht möglich.
Statt kontextualem Verstehen vergibt solche Diagnose Tickets. Das Kind
soll
einen Namen haben.
Sicherlich existent ist eine
Vielfalt von Erscheinungsformen von Psychopathie. Aber ebenso wie es
bei
Gesunden einer Gesellschaft eine Vielfalt von Erscheinungsformen,
menschlich zu
leben, gibt, obwohl die Gesunden alle unter gemeinsamen und einfach
beschreibbaren Grund zusammenhängen stehen, so kommt man bei
der Erklärung
seelischer Abnormität auch mit wenigen einfachen Einsichten
aus.
Eine solche grundlegende Einsicht
ist der Widerspruch. Es gibt paradoxe Situationen, in denen alles, was
man tut,
falsch ist, in denen überhaupt nicht das richtige getan werden
kann. So das
Beispiel vom Barbier, der alle rasieren soll, die sich nicht selbst
rasieren.
Dieser Anweisung kann der Barbier nicht nachkommen, wenn er sich selbst
rasiert. Eine paradoxe Situation ist unhaltbar. Geisteskrankheit ist
eine Form
des Widerspruchs gegen solche widersprüchlichen Situationen.
Manische
Depressivität, Hysterie, Paranaia und dergleichen sind
Äußerungsformen
widersprüchlicher Wirklichkeitserfahrung und -Verarbeitung.
Diese Symptome
lassen sich aber noch eingehender verstehen, wenn wir das Problem, in
der
abweichenden Erfahrung dessen erkennen würden, was wir als
Wirklichkeit
bezeichnen. Ich werde mich in dem folgenden auf die Beschreibung von
Schizophrenie
beschränken, denn hier ist die Struktur des Widerspruchs der
Erfahrungswelten
am deutlichsten.
Als eine Konsequenz aus der
Einsicht, daß Schizophrenie häufig Folge paradoxer
Situationen außerhalb des
Individuums sind, wäre an eine Untersuchung solcher
fundamental paradoxen Lebensverhältnisse
zu denken. Um Geistesspaltung zu verhindern, müßte
dann die grundlegende
Seinsspaltung aufgehoben werden, die deren Ursache ist. So etwa
wäre an ein
Gespräch mit demjenigen zu denken, der dem Barbier die
verzwickte
Doppelbindungsanweisung erteilt hat; man könnte ihm verbieten,
so zu befehlen.
(Bateson, Gregory/ Jackson, Don D./ Haley, Jay & andere,
Schizophrenie und
Familie, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1969)
Auch eine Kritik christlicher
Religion springt dabei ab, die Kierkegaard präzise in ihrer
Paradoxität erkannt
hat. Grundwidersprüche hier sind das Schema Fleisch/Geist,
Gerechter/Sünder,
Person/Werk, Christ/Weltbürger. Es wäre zu
untersuchen, ob diese Ideologie
primär eine bestehende Wirklichkeit beschrieben hat, oder etwa
diese erst herstellte
durch eine Interpretation der Welt in einem Sinne, die der
Konservierung und
Selbstrechtfertigung einer allzu absolutistisch gewordenen Sekte
dienlich war.
Erkenntnistheorie gehört
auch in
die Psychiatrie. Wie ist überhaupt Erkenntnis möglich
über das, was man bei
anderen Menschen nicht sehen kann, ihre Seele? Die einzige
Möglichkeit dazu
ist, Rückschlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen. Man
kann also nur induktiv
verfahren, will man nicht beim, rein deduktiven Beschreiben von
Regelmäßigkeiten des Verhaltens bleiben. Wir sind
also im Dilemma: Die
induktive Methode ist notwendig spekulativ und ohne zureichende
Sicherheit; die
deduktive Methode irrt sich, weil sie meint, auf das
„Innere“ des Menschen, seine
Erfahrung und Empfindungen völlig verzichten zu
können und. nur output und
input zu berücksichtigen, während der Rest als
„black box“ ignoriert wird. Weil
sich also durch die Verschränkung von Erfahrung mit Verhalten
auch
Verborgenheit und Offenbarsein des Menschen verschränken, ist
eine angemessene
Methode der Erkenntnis von Menschen strukturell zur Einseitigkeit (und
damit
schon wieder Unangemessenheit) oder Nichtfolgerichtigkeit ihres
Vorgehens
verurteilt.
Sodann schränkt jede
Theorie ihre
möglichen Ergebnisse selbst ein, indem als Antwort auf
Untersuchungshypothesen
nur Ergebnisse akzeptabel sind, die ihr entsprechen. So impliziert jede
Theorie
und Methodologie schon die erwarteten Ergebnisse. Eine intrapsychische
Objekttheorie ist unfähig, menschliche Zweierbeziehungen
(Dyaden) oder noch
komplexere Sozialgebilde anders zu erfassen als je vom einzelnen und
seinen
Objektbeziehungen. Die Spieltheorie kann dagegen über die
Interaktionen
aussagen, aber nicht mehr über die Identität der
Spielenden als Individuen,
(vgl. Laing u.a., Interpersonelle Wahrnehmung, Frankfurt/Main 1971,
17-19) Auch
in der humanologischen Theoriebildung schlägt sich hier der
Konflikt von
Individuum und Gesellschaft nieder, die als unvereinbare
Denkansätze gehalten
werden, um zu rechtfertigen, daß schließlich doch
die Gesellschaft das
Individuum gerade da vernichtet, wo sie dieses betont feiert.
Analog dazu fehlt
natürlich auch
jede Erfahrung von einer nicht mehr antagonistischen Dialektik von
Individuum
und Gesellschaft - sie ist im Spätkapitalismus nirgends
denkbar, auch nicht in
den Kommunen von Marxisten, weil auch diese nicht ohne Beeinflussung
von den
Lebensprinzipien der Tausch- und Unterdrückergesellschaft
leben können.
Die psychoanalytische Theorie
muß
sich darüber klar werden, wie sie ihre Gegenstände
sehen will. „Insbesondere
kann der Mensch als Person oder Ding gesehen werden. (...) Die
Anfangsperspektive, mit der wir ein Ding sehen, determiniert unseren
ganzen
späteren Umgang mit ihm.“(Laing, Das geteilte
Selbst, 1974, Editione Continua
1974, 23) „Die Wissenschaft von den Personen ist eine Studie
menschlicher
Wesen, die ausgeht von der Beziehung zum anderen.. als Person und zu
einer
Darstellung des anderen, immer noch als Person,
gelangt.“(aaO. 24) Eine Theorie,
die den Menschen als komplexes physisches und chemisches System sieht,
also als
Organismus, gelangt nicht zu einer personalen Deutung menschlicher
Kommunikation. „In dem Menschen, als Organismus gesehen, ist
darum kein Platz
für seine Wünsche, Ängste, seine Hoffnung
oder Verzweiflung als solche. Das
Wesentliche unserer Erklärungen sind nicht seine Intentionen
gegenüber seiner
Welt, sondern Energiequanten in einem Energiesystem.“(Laing,
aaO 26) Natürlich
ist die Betrachtung des Menschen als Ding sogar nützlich, wenn
man biochemische
Phänomene erforschen will.
Aber auch die
Erkenntnisinteressen der Biochemie beim Menschen dürfen nicht
unbeachtet
bleiben. Neben den medizinischen Heilerfolgen haben die Forscher ein
recht
eigenartiges Forschungsfeld entdeckt: die genetische Manipulation und
die
Pillen für alles. Stärker als hier kann kaum noch
bewußt werden, daß der Mensch
Produkt seiner Umgebung ist. Bis hinein in die
Gemütszustände sind Menschen
kontrollierbar und hörig zu machen. Die Zwangsjacken als
Signum der physischen
Gewalt, die die Gesellschaft dem Abnormen antut, sind weitgehend
ersetzt durch
Sedativa und Maßnahmen wie Warmwasserbäder und
Elektroschocks. (Elektroschocks
waren eher in den USA üblich als in der BRD, doch nimmt ihre
Applikation
allgemein ab. 1961 jedoch konnte Erving GoFrankfurt/Mainan noch
schreiben: „Die
auf Empfehlung des Wärters erfolgende Verwendung der
Elektroschock-Behandlung
als Mittel der Einschüchterung, durch welches die Patienten
diszipliniert und
beruhigt werden sollen, ist ein weniger gravierendes, aber weit
verbreitetes
Beispiel derselben Praxis.“(GoFrankfurt/Mainan, Asyle,
Frankfurt/Main 1973,
364) Nicht nur die Entstehung der
Elektroschock“therapie“ verrät ihre
Grausamkeit:
„Es ist kein bloßer Zufall, daß Cerletti
die „Behandlung“ mit Elektroschocks in
den Schlachthöfen von Rom erfand, wo Schweine durch
elektrischen Strom getötet
wurden. Die Schweine, die nicht sofort starben, zeigten bemerkenswerte
Veränderungen in ihren Verhaltensweisen, und so kam er darauf,
auch
Geisteskranke zur Veränderung ihres Verhaltens mit
Elektroschocks zu behandeln,
ähnlich wie Hitler 60000 Geisteskranke zu 'experimentellen
Zwecken' und zur
'Verbesserung der Rasse' töten ließ.“(D.
Cooper, Der Tod der Familie, Reinbek
(Rowohlt)1972, 65) Auch die medizinische Ähnlichkeit des
Schocks mit einem
Epilepisieanfall weist auf die Unmenschlichkeit hin. Denn wie beim
Epilepsieanfall, der ja in der Elektro-Schockbehandlung nur
künstlich simuliert
wird, ist der Deliquent hinterher bewußtlos und hat weniger
lebendige
Gehirnzellen als vorher - was bei hinreichend häufiger
Anwendung zur Dekadenz
seiner Persönlichkeit bis an die Grenze des Vegetierens
führen kann.) Aber die
Biochemie ist weitaus weniger offenkundig brutal. Die einzige Therapie
in
deutschen Nervenheilanstalten ist die Versorgung mit Psychopharmaka,
von der
morgendlichen Visite abgesehen, „bei der in einer Stunde 500
Patienten vom
Arzteteam „besucht“ werden, und der als
„Beschäftigungstherapie“ ausgegebenen
Arbeitspflicht, die dem Fließband nur voraushat,
daß kein Akkord geleistet
wird. „Wenn nachts auf der Station dadurch für Ruhe
gesorgt wird, daß die
Patienten gezwungen werden, Drogen einzunehmen, wodurch eine
Verringerung des
Nachtpersonals ermöglicht wird, so nennt man dies
medikamentöse oder sedative
Therapie.“(E.GoFrankfurt/Mainan, Asyle, Frankfurt am Main
(Suhrkamp) 1973, 362)
Dieser Trend, die als Psychopathen etikettierten Insassen sogenannter
„Heilanstalten“ nur noch neurophysiologisch zu
sehen und zu behandeln, ist
bereits beim frühen Freud angestrebt. „Die Zukunft
mag uns lehren, mit
besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen
im
seelischen Apperat direkt zu beeinflussen;... vorläufig steht
uns nichts
besseres zu Gebote als die psychoanalytische
Technik...“(Freud, Ges. Werke
XVII, 108) Diese physiologische Einstellung zum
Seelen“apparat“ schlägt sich
theoretisch auch weiter nieder in dem psychohydraulischen
Energieverteilungsmodell, das Freud entwickelt, als er sein
ursprünglich
mechanistisches Konzept aufgab.
Seine mentalistische
Uminterpretation physikalischer Energiebegriffe (Trieb'energie', Lust =
Energieentladung usw.) bleibt aber abstrakt und nur Denkmodell. Denn
die
physikalische Energie ist meßbar, Triebenergie nicht.
„Das Modell des
seelischen Apparates ist so gefaßt, daß von den
Ereignissen, über die die
Metapsychologie Aussagen macht, Beobachtbarkeit zwar sprachlich
assoziiert,
aber tatsächlich nicht eingelöst wird - und nicht
eingelöst werden kann.“(J.
Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1973,
308)
Freuds Energieverteilungsmodell kann auf die Psychopharmakologie
zurückwirkend
den Anschein erwecken, als läge die Aufgabe bei der Behandlung
seelisch kranker
Menschen darin, ihren abnormen Energiehaushalt wieder ins Gleichgewicht
zu
bringen, wozu die Biochemie dienlich ist. Dabei besteht die
Möglichkeit an den
paracelsischen Gesundheitsbegriff vom Gleichgewicht der
Körpersäfte
anzuknüpfen. Die in biochemischer Forschung notwendige
Depersonalisation
erweist sich hier als Anfang einer Behandlungsweise von Menschen, die
nicht im
Dienst des Personseins der behandelten Menschen steht.
Es ist vorauszusehen, daß
die
Entwicklung der Biochemie weitergeht bis zur totalen psychischen und
somatischen Beeinflussung und Kontrolle von Menschen. Die
methodologische
Implikation der Verdinglichung des Forschungsobjekts Mensch
führt zu
Ergebnissen, die nichts als die Optimierung derselben darstellen.
Konnte
anfänglich die Objektivierung des Menschen in den
Naturwissenschaften
legitimiert werden durch deren Zweckrationalität:
daß die Ergebnisse die
physischen und psychischen Bedingungen für personale Existenz
bereithalten
sollten, indem die äußeren Ursachen für
menschlichen Verfall und Vernichtung
erkannt und behoben wurden - so entfällt heute diese
Legitimationsmöglichkeit
in mehrfacher Hinsicht.
1)
Die
Praxis der Adaption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse hat zwar zur
optimalen
Aufrechterhaltung des somatischen Existierens in der Medizin
geführt. Aber die
Praxis von Nervenheilanstalten beweist, daß in psychischer
Hinsicht eher ein
Verfall bis zum einfachen Dahinvegetieren eintrifft, bedingt durch die
unbefriedigenen Lebensverhältnisse dort.
2)
Die
Medizin ist zwar fähig gewesen, Seuchen und volksbedrohliche
Krankheiten fast
auszurotten. Die heutigen Existenzbedrohungen sind individualhistorisch
dagegen
mit weitaus größerem Aufwand an Recourcen als
früher aufzuheben, zB Kosten und
Häufigkeit der erfolgreichen Anwendung von
Herz-Lungen-Maschinen. Auf der
anderen Seiten sind aber durch die wirtschaftliche Ausbeutung der 3.
Welt in
diesem Erdteil die existentiellen Bedrohungen durch die Medizin nicht
weniger,
sondern stärker geworden. Die Anwendung von
naturwissenschaftlicher Erkenntnis
ist, an der Frage nach der
Verhältnismäßigkeit der Mittel gemessen,
eine nur
nach unserem vom Hippokrateseid beeinflußten Moralkodex
relevante Möglichkeit
der Aufhebung von Existenzbedrohung in der 3. Welt. Objektiv relevanter
sind
ökonomische Fragen geworden, von deren Lösung die
Aufhebung von einer weitaus
wesentlicheren Existenzbedrohung, dem Hungers von Millionen
abhängig ist. Im
Zusammenhang des täglichen tausendfachen Todes durch Hunger
und Krieg erhebt
sich die Frage, wie das kostspielige hochtechnisierte
Behandlungsmaterial der
medizinischen Versorgung in Industrieländern zu rechtfertigen
ist. Menschlich
verständlich bleibt dieser Trend doch zumindest
ökonomisch absurd.
Wie alle naturwissenschaftliche
Erkenntnis zeigt auch die Pharmokologie bezüglich ihrer
Möglichkeiten für die
Applikation in menschlichen Verhältnissen eine Ambivalenz: Wie
Atomenergie zur
Unterstützung oder Vernichtung des Lebens benutzt werden kann,
so können
Heilmittel auch als Gifte Verwendung finden. Kurz: bei weiterem
Fortschritt der
Pharmokologie wird sowohl eine totale Sanierung aller Menschen in
physischer
Hinsicht (von der 3. Welt abgesehen, die ökonomische
Umwälzungen braucht)
möglich; als auch totale Unterwerfung mittels Drogen. Denn es
zeigt sich in
Heilanstalten, daß umso weniger Disziplinierung
nötig ist, je mehr Drogen
eingesetzt werden. Sollte es einmal Glücksdrogen geben, so
braucht man eine
Gesellschaft nur abhängig zu machen davon und ist
fähig, totale Anpassung ans
totalitär gewordene System biochemisch zu
gewährleisten. Die UdSSR verwirklicht
dies schon teilweise, indem politische Systemgegner als Abnorme in
Heilanstalten eingeliefert werden, wo sie medikamentöse
Exorzision ihrer
systemtranszendierenden Potenzen erfahren. Das depersonalistische Input
der
Humanologien führt also zur Ergebnisambivalenz von totaler
Sanierung oder
totaler Verdinglichung.
Meine Frage ist nun, ob das eine
nicht etwa doch die Kehrseite des anderen wird. Denn auch totale
Gesundheit
wird ihr krankhaftes nicht mehr los: daß der von ihr
befallene Mensch Produkt
einer überdimensional verselbstständigten Technologie
geworden ist, der er sich
und seinen Körper zu unterwerfen hat. Ob dabei noch personale
Selbstbestimmung
möglich ist, darf bestritten werden, wenn man den
Einfluß der Technik auf die
Seele introspektiv reflektiert. „Die Technisierung macht
einstweilen die Gesten
präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den
Gebärden alles Zögern
aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den
unversöhnlichen,
gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. (...) In den
Bewegungen,
welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das
Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der
faschistischen
Mißhandlungen.“(Th.W.Adorno, Minima Moralia,
Frankfurt am Main (Suhrkamp)1973,
42f) Der Unterschied der hier formulierten physikalischen
Verdinglichung am
Fließband zu der in Heilanstalten praktizierten biochemischen
Verdinglichung
wird irrelevant angesichts der ebenbürtigen
Menschenunwürdigkeit, die sich auf
das Fehlen dialogischer Präsenz gründet.
Die Diagnose in der
psychiatrischen Praxis steht vor dem gleichen Phänomen der
ergebnismäßigen
Reproduktion methodologischer Implikationen. Sie bleibt
unfähig zur
Transzendenz ihres Systems, wenn sie im Patienten ein
Untersuchungsobjekt
sieht. Es hat zwei Möglichkeiten für die Diagnose.
Der Arzt kann versuchen, den
Patienten zu klassifizieren auf ein Krankheitsbild und die Genese
seiner
Abnormität ergründen. Als nächsten Schritt
setzt er dann die
Behandlungstherapie fest, welche von der Diagnose trennbar ist. Dieses
Modell
wird bei fast jeder Einweisung in Heilanstalten angewandt. Der Arzt hat
ein
Schema, der Patient füllt einen Fragebogen aus, indem er auf
bestimmte Weise zu
den Aktionen des Arztes reagiert. Der Arzt wertet die Reaktionen und
Informationen vom Patienten aus und ordnet daraufhin die Therapie an.
Dieses
Modell ist aus der somatischen Medizin übernommen. Es ist aber
nicht
übertragbar auf psychoanalytische Erkenntnis, denn diese
muß wegen der
Andersartigkeit des Erkenntnisgegenstandes einen erkenntnistheoretisch
völlig
anderen Weg der Diagnose einschlagen. Das Wort Diagnose
(Durcherkenntnis) ist
hierfür nicht mehr angemessen.
Die gescheitere Frage geht also
noch einmal zur ersten Frage zurück: Wie ist Erkenntnis der
Seele möglich? Zu
naturwissenschaftlicher Erkenntnis gehören Subjekt und Objekt.
Die Erkenntnis
muß für alle Subjekte, denen Erkenntnis
überhaupt zugänglich ist, zwingend
bestehen, und unter gleichen Ausgangsbedingungen beliebig oft
wiederholbar
sein. Diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisbedingungen sind in der
Psychoanalyse nicht in gleicher Weise gegeben. Das Objekt der
Erkenntnis ist
ein Mensch (Patient), das Subjekt ist ein Mensch (Arzt). Das, was ich
mit Seele
bezeichnet hatte, existiert aber weder im Patienten noch
außer ihm. Gemeint ist
die Einheit seines Verhaltens und Erfahrens. Das Verhalten ist
für den Arzt als
Erkenntnissubjekt direkt zugänglich. Die Erfahrung hingegen
ist ihm verborgen.
Sie kann nur in sprachlicher Form vermittelt werden. Damit ist eine
erste
Bedingung erkannt: Subjekt und Objekt müssen einen gemeinsamen
Verhaltens- und
Sprachzusammenhang haben, dh Redundanz als probabilistische
Regelmäßigkeit, die
einer Folge von Symbolen oder Geschehnissen innewohnt. (P.Watzlawick
u.a.,
Menschliche Kommunikation, Bern Stuttgart Wien, 3. Auflage, 35)
Ist für Erkenntnis eine
Kommunikation notwendig über
den Gegenstand, so liegt die besondere crux der Psychoanalyse darin,
daß der
Gegenstand selbst schon so etwas wie Kommunikation ist. Psychoanalyse
muß zur
Erkenntnis also über Kommunikation kommunizieren. Sie ist
Metakom-munikation.
Im Gegensatz zur mathematischen Erkenntnis liegen hier jedoch
Kommunikation und
Metakommunkätion, obwohl zwei verschiedene Ebenen, in einem
einzigen
Sprachzusammenhang. Ein weiterer Aspekt bildet die Tatsache,
daß Kommunikation
immer von jemand zu jemand geht. Wenn also die Seele eines Menschen nur
in
Kommunikation offenbar wird, so ist sie damit eine Funktion zum
Erkenntnissubjekt. Wenn das Offenbarwerden von Seele aber an das
Subjekt
gebunden ist, so entfällt für Psychoanalyse die in
Naturwissenschaften
konstitutive erkenntnistheoretische Bedingung der Wiederholbarkeit
für jedes
Subjekt, dem Erkenntnis möglich ist, bei Beibehaltung aller
Ausgangsbedingungen. Denn zur Ausgangsbedingung selbst gehört,
daß zwischen
Subjekt und Objekt eine Beziehung besteht. (Alfred Lorenzer,
Sprachzerstörung
und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse,
Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973, 215) Die Seele ist in dieser Beziehung
der
Erfahrungs- und Verhaltenszusammenhang, der sich beim Patienten durch
eine
ständige Bewegung von Informationen jeder Form zwischen
Subjekt und Objekt
bildet. Es kann darum keine Rede mehr sein von einem Erkenntnisobjekt
und einem
Erkenntnissubjekt, da beides eine Funktion des anderen ist,
sodaß das Subjekt
gezwungen ist, auch sich selbst in den Erkenntnisakt einzubeziehen als
Objekt.
Nun ist also nur noch sagbar: zwei Menschen treten in Kommunikation.
Diese
stellt sich dar als ein formaler Kreislauf von Person As Erfahrung von
Person
B, folgender Aktion zu B, B´s Erfahrung dieser Aktion
A´s als einziger
Möglichkeit von Erfahrung A's überhaupt,
B´s Verhalten auf alles bisher
geschehene, A´s Erfahrung dessen, usw. Diese Spirale von
Intererfahrung und
Interaktion hat inhaltlich natürlich durchaus Elemente, die
mit der
Kreisvorstellung unvereinbar sein können. Jeder von beiden
Personen ist gleich
Erkenntnissubjekt seiner selbst und des anderen wie auch
Erkenntnisobjekt
seiner selbst und des anderen. Das Kommunikationssystem ist ein
Rückkopplungssystem, in dem eine komplexe Verflechtung von
Informationsaustausch die Isolation eines Informanten
unmöglich macht. Die
Erkenntnis des Anderen, wie er in Beziehung zu mir ist, verlangt von
mir
Selbstreflexion, ebenso vom anderen, wenn er mitteilen will. Aber
Selbstreflexion allein ist ungenügend. Vielmehr muß
die Beziehungsspirale
gegenseitiger Erfahrung und Aktion reflektiert werden:
Du = wie ich deine Handlung
erfahre
Ich - wie ich glaube, daß
du mich
siehst
Du = wie ich glaube, daß
du
glaubst, daß ich dich sehe
Ich - wie ich mir dein Bild von
meinem Bild von deinem Bild von mir vorstelle usw.
Das gleiche kann von deiner Seite
aus geschehen. Unsere beiden Bilder von uns, einander, den Metabildern
werden
Phantasie mit Realwahrnehmung verschränken müssen,
weil Fragmente dieser Bilder
jeweils in die Mitteilungen einfließen, aber nie
vollständig. Deshalb ist
gewöhnlich nicht möglich, daß alle Bilder
beider Personen mit denen des jeweils
anderen übereinstimmen. Es sei denn, sie haben Zeit und
Motivation, ihre
Beziehung zu klären, indem durch möglichst
vollständige Mitteilung aller
Perspektiven diese Falsifikation oder Verifikation unterzogen werden.
Sachgemäße Erkenntnis wird dieses anstelle einer
fadenscheinigen Diagnose
versuchen. Wesentlich komplizierter noch wird psychologische Erkenntnis
in
Gruppen, wo jeder in Beziehung auf jedem agiert und seine Wahrnehmung
von jedem
beeinflußt wird. Die Bilder in einer Gruppe während
auch nur einer Minute zu
klären, wird vermutlich mehrere Stunden dauern. Die Menge
möglicher Erkenntnis
steht daher in keinem Verhältnis zur tatsächlich
vollziehbaren Erkenntnis. Daher
bleibt psychoanalytische Erkenntnis wesensmäßig
fragmentarischer Natur und kann
sich lediglich mit besonders starken Redundanzen befassen, also
besonders
häufig auftretenden Bildern.
Nun würde Psychoanalyse
nicht
vollzogen ohne bestimmte Erkenntnisinteressen. Diese liegen in
Leiderfahrungen.
Um dies zu erläutern, will ich zurückgreifen auf eine
mit verallgemeinerten
Erkenntnissen der Psychoanalyse gewonnene Theorie der Sprach- und
Verhaltenspathologie. Jeder Mensch tritt mit seiner Zeugung in einen
Sozialisationszusammenhang ein, dessen Einfluß nach der
Geburt verhältnismäßig
intensiviert wird und nicht abhängig ist von seinen
Motivationen und
Intentionen. Er wird in die Existenz geworfen. Mit seiner Existenz aber
sind notwendig
eigene Intentionen und Motivationen verbunden. Er bedarf zur
Fortsetzung seiner
Existenz gewisser Gegebenheiten, deren Sicherung das Zeil seiner
Intentionen
bildet. Da diese Gegebenheiten ihm nur innerhalb eines
Kommunikationszusammenhanges zugänglich sind, ist seine
Intention auf Kommunikation
angewiesen. Zudem stellt Kommunikation selbst eine Gegebenheit dar, die
frei
von ihrer Mittlerfunktion zu Bedürfnissen wie Nahrung, Pflege,
Wärme usw.
selbst ein Bedürfnis bildet. Zur Erlangung des Bedarften ist
jeder Mensch auf
eine Bedürfnisinterpretation in Form von Kommunikation
angewiesen. Mit der
Artikulation aber ist das Bedarfte noch nicht erreicht. Es
hängt von den
primären Bezugspersonen (Eltern) als Verkörperer der
gesellschaftlichen Normen,
innerhalb derer diese sozialisiert sind, ab, ob dem
Bedürftigen (Kind) das
Bedarfte zuteil wird, mithin, ob sich die Intentionen einer Bejahung
unterziehen können. Die Bedürfnisinterpretation
erfährt also entweder eine
Bestätigung oder eine Nichtbestätigung. Diese
Erfahrungen nimmt das Kind auf
und unterzieht sich dem Schluß, daß es sinnlos ist,
gewisse Bedürfnisse bei
permanenter Nichtbestätigung weiterhin kommunikabel zu machen.
Dieser Schluß
kann als Lernerfahrung bezeichnet werden. Da sich die Existenz in der
Zeit
äußert und mit ihr modifiziert,
äußert sich Lernerfahrung und -verhalten als
ein Prozeß. Leben ist ein Bildungsprozeß. Dabei
kommt der Sprache erhebliches
Gewicht zu. Sie steht in komplementärem Zusammenhang zum nicht
sprachlichen
Kommunikationsverhalten.
Watzlawick gebraucht für
nonverbales Verhalten und Sprache die unterscheidenen Begriffe von
analoger und
digitaler Kommunikation (Watzlawick, Menschliche Kommunikation, aaO
62ff).
„Analoge Kommunikation hat ihre Wurzeln offensichtlich in
viel archaischeren
Entwicklungsperioden und besitzt daher eine weitaus allgemeinere
Gültigkeit als
die viel jüngere und abstraktere digitale
Kommunikationsweise.“(aaO 63) Die
Analogie hat eine „grundsätzliche
Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Gegenstand“(62),
während digitale Kommunikation „lediglich ein
semantisches Übereinkommen für
diese Beziehung zwischen Wort und Objekt“ (62) ist. Analoge
Kommunikation ist
mit Tieren und fremdsprachlichen Lebewesen zu unterhalten, es bedarf
keiner
Sozialisation, keines expliziten Übereinkommens über
die Bedeutung. Der
scholastische Streit um die Universalien dürfte eine gewisse
Lösung durch diese
Unterscheidung erfahren, sobald der Begriff
„Universalien“ oder
Allgemeinbegriff auf den von „bedeutungsvoller
Kommunikation“ erweitert wird.
Der These des Realismus würde die analoge Kommunikation
entsprechen, der These
des Nominalismus die digitale. Menschliches und tierisches Leben
operiert mit
beiden Dimensionen. Besonders die Kunst amalgamiert beide Modi.
Für die menschliche Kultur
aber
ist Sprache unentbehrlich. „Es bestellt kein Zweifel,
daß die meisten, wenn
nicht alle menschlichen Errungenschaften ohne die Entwicklung digitaler
Kommunikation undenkbar wären. Dies gilt ganz besonders
für die Übermittlung
von Wissen von einer Person zur anderen und von einer Generation zur
nächsten.“(63) „Digitales
Mitteilungsmaterial ist weitaus komplexer,
vielseitiger und abstrakter als analoges.“(66) Es ist auch
genauer als
analoges. Sprache ist eindeutig, Gesten vieldeutig, obwohl auch das
Gegenteil
möglich ist. Wechselseitige Übersetzungen analoger in
digitale Kommunikation
(und umgekehrt) sind immer von Informationsverlust begleitet. Analoge
Kommunikation definiert vornehmlich die Beziehung, in der Menschen
zueinander
stehen, während digitale für Übermittlung
und Definition von
darüberhinausgehenden Inhalten sorgt. Wenn Seele ein
Kommunikationsphänomen in
einer Beziehung zwischen Menschen (oder Tieren) ist, so baut sie
vornehmlich
auf analoger Kommunikation auf, die zur Beziehungsdefinition
bereitsteht. Erst
durch die kulturelle Verlagerung der Hauptkommunikationsebene von der
analogen
zur digitalen wird Seele dann eine Erscheinung, die sich in Sprache und
Denken
produziert. Im Rahmen dieses Bildungsprozesses, als der menschliche
Ontogenese
charakterisierbar ist, vollzieht sich die Anpassung an digitale
Kommunikation,
dh an die Sprachnorm und hiermit an den gesamten Kodex
gesellschaftlicher
Normen, die sprachlich formulierbar sind. Dabei bildet die Tatsache,
daß über
bestimmte Bedürfnisintentionen aus Sprachschatzmangel digitale
Kommunikation
nicht möglich ist, gleichfalls eine Norm, die inhaltlich die
unaussprechbare
Intention annihiliert, indem sie sie nicht bestätigt. Der
Kodex
gesellschaftlicher Normen unterdrückt also einen Teil der
Intentionen eines
Menschen, während er andere Intentionen durch
Bestätigung in öffentlicher
Kommunikation hervorhebt. Dies ist keine ontologische Feststellung,
sondern
kennzeichnet repressive Gesellschaften. Die unsere gehört
dazu. Wir müssen
zwischen ontologischen Feststellungen und der Erwähnung der
besonderen
Charakteristika unserer eigenen Erfahrungshintergründe
unterscheiden, um zur
Vorstellung einer nichtrepressiven Gesellschaftsform fähig zu
werden. „Die
Mechanismen des Lernens, mit denen Freud rechnet, (Objektwahl,
Identifikation
mit dem Vorbild, Introjektion aufgegebener Liebesobjekte), machen die
Dynamik
der Entstehung von Ichstrukturen auf der Ebene symbolisch vermittelter
Interaktion verständlich. Die Mechanismen der Abwehr greifen
in diesen Prozeß
ein, soweit die gesellschaftlichen Normen, verkörpert in den
Erwartungen der
primären Beziehungspersonen, das infantile Ich mit einer
unerträglichen Gewalt
konfrontieren, zur Flucht gegen sich und zur Objektivation seiner
selbst im Es
nötigen.“(Habermas, Erkenntnis und Interesse, aaO
315) Die Ebene der Gewalt
verlagert sich zunehmend von direkter physischer Gewalt auf digital
vermittelte
Gewalt.
Zur letzten gehört auch
die
weiter unten behandelte paradoxe Kommunikation, also Doppelbindungen,
zu denen
Schizophrenie sich als Fluchtmaßnahme erweisen wird.
Doppelbindungen werden
meist durch Kontradiktionen zwischen analoger und digitaler
Kommunikation
erzielt, wenn Gesten das Gegenteil der Worte sagen, sind aber auch auf
nur
einer von beiden Ebenen möglich.
Paradebeispiel ist Luthers
kleiner Katechismus: „Wir sollen Gott fürchten und
lieben...“ Die zehnmalige
Wiederholung wirkt wie ein Mantra nachgerade hypnotisierend. Die Formel
entspricht dem peccator et iustus und Luthers
depressiv/demütiger
Selbsteinschätzung als Dreck (armer stinkender Madensack) und
grandios/manischer Selbstüberzuckerung als Doktor der
Theologie, dessen
Cranachbild im Professorentalar er liebend gern überall in
Kirchen aufgehängt
sah: eben doch ein Heiliger. Der Katechismus fungiert als
Einübung eines
ambivalenten Furcht-Liebe-Verhältnisses zu Gott, der in den
Geboten als
eifersüchtiger, fordernder Herr verehrt werden will und nicht
etwas gute
Lebensregeln zur Streitschlichtung bereithält. Von dem
gnädigen Gott spürt man
hier nichts.
Nach Freuds Modell sind die von
analoger und digitaler Kommunikation bestätigten Intentionen
das Ich, die
verbotenen und nichtbestätigten Intentionen das Es. Die
öffentliche
Kommunikation, gesellschaftliche Normen, Sprache und ihre Inkarnation
in den
primären Bezugspersonen entsprechen Freuds Über-Ich.
Der öffentliche Text wird
vom Individuum verinnerlicht, sodaß die
unterdrückten Intentionen auch bei
Fehlen von äußeren Gewalteinflüssen durch
Vertreter dieses Textes unterdrückt
bleiben. Die äußere Gewalt ist zu innerer Gewalt
geworden, die das Ich
retroflexiv gegen sich selbst richtet, genauer gegen alle Strebungen,
die zum
öffentlichen Text in Diskongruenz stehen. Gegen die zuletzt
formulierten Sätze
muß eingewendet werden, daß sie nur als
Vorstellungshilfe dienen, weil es für
die Seele kein reales Außen und Innen gibt; wenn
überhaupt, dann ist sie deren
Vermittlung. Das Ich macht das Es zum Objekt seiner
Unterdrückung, reitet es
wie ein Dressurreiter, wie es vorher Objekt gesellschaftlicher
Unterdrückung
war (und bleibt), aber das gleiche gilt auch in entgegengesetzter
Richtung: das
Es macht sich das Ich zum Objekt einer Unterdrückung, die vom
Ich als
unerklärlicher Zwang zu nicht von ihm gewollten Handlungen
erfahren werden. (Alfred
Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt/Main
1973 116, 200ff)
„Es sind verbogene und abgelenkte Intentionen, die sich aus
bewußten Motiven zu
Ursachen verkehrt haben und das kommunikative Handeln der
Kausalität
naturwüchsiger Verhältnisse unterwerfen. Sie ist
Kausalität des Schicksals, und
nicht der Natur, weil sie durch die symbolischen Mittel des Geistes
herrscht -
nur darum kann sie auch durch die Kraft der Reflexion bezwungen
werden.“(Habermas, Erkenntnis und Interesse, aaO 312)
Auf der sprachlichen Ebene stellt
sich diese gegenseitige Unterdrückung von Ich und Es in der
Sprachpathologie
Alfred Lorenzers (aaO 118ff) so dar: „Der originale
Abwehrvorgang findet in
einer kindlichen Konfliktsituation als Flucht vor einem
überlegenen Partner
statt. Er entzieht der öffentlichen Kommunikation die
sprachliche
Interpretation des abgewehrten Handlungsmotivs. Dadurch bleibt der
grammatische
Zusammenhang der öffentlichen Sprache intakt, aber Teile des
semantischen
Gehalts werden privatisiert. Die Symptombildung ist Ersatz für
ein Symbol, das
nun einen veränderten Stellenwert hat. Das abgespaltene Symbol
ist aus dem
Zusammenhang mit der öffentlichen Sprache nicht etwa ganz
herausgefallen;
dieser grammatische Zusammenhang ist aber gleichsam unterirdisch
geworden. Er
gewinnt seine Gewalt dadurch, daß er die Logik des
öffentlichen Sprachgebrauchs
durch semantisch falsche Identifikationen verwirrt. Das
unterdrückte Symbol ist
mit der Ebene des öffentlichen Textes zwar nach objektiv
verstehbaren, aus den
kontingenten Umständen der Lebensgeschichte resultierenden
Regeln, aber eben
nicht nach den intersubjektiv anerkannten Regeln verknüpft.
Deshalb ist die
symptomatische Sinnverschleierung zunächst weder für
andere noch für das Subjekt
selbst verständlich.“(Habermas, aaO 313) Das Subjekt
erfährt sich als
zwangsgesteuert und stört die nach dem öffentlichen
Text ablaufende
Interaktion. Die Verwirrung und Störung der Interaktion wird
nun entweder von
dem, der in sich die Störungen erfährt, oder von
Angehörigen, Vertretern seiner
Umwelt, zum Anlaß genommen, den als störend
Empfundenen in psychiatrische
Behandlung zu geben. Dabei sind zwei Wege möglich:
Psychotherapie oder
Einweisung in eine Heilanstalt. Zur Erfahrung von Verwirrung schreibt
E.
GoFrankfurt/Mainan: „Diese Erfahrung, die ein Mensch mit sich
machen kann,
gehört offenbar zu den stärksten Bedrohungen, die dem
Selbst in unserer
Gesellschaft widerfahren können, insbesondere da sie meist zu
einem Zeitpunkt
eintritt, wo der Betroffene auf jeden Fall bereits in Sorge ist, er
könnte das
bei sich selbst entdeckte Symptom auch nach außen hin
zeigen.“(GoFrankfurt/Mainan, aaO 131) Aus der
Bemühung, Interaktionsstörungen
zu beheben, entstand das Interesse der Psychiatrie. Die ersten
Maßnahmen, die
Errichtung von Asylen für Störenfriede, entspringt
aus dem gleichen Interesse
wie auch Gefängnisse (Michel Foucault, Wahnsinn und
Gesellschaft. Eine
Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/Main
(Suhrkamp) 1973,
68ff, 482ff; Irma Gleiss/ Rainer Seidel/ Harald
Abholz,
Soziale Psychiatrie. Zur Ungleichheit in der psychiatrischen
Versorgung,
Frankfurt/Main (Fischer) 1973, 74ff) und dann die mit deutscher
Wertarbeit
gerechtfertigten Konzentrationslager des Maßnahmenstaats
Hitlers: Exkommunikation
aller Häresie. Über diese Funktion kann auch der
heutige Irrenhausbetrieb mit
seiner Umwidmung zur „Heilanstalt“ nicht ganz
hinwegtäuschen. Durch die
Konzentration vieler Interaktionsgestörter in Kliniken war die
Möglichkeit
gegeben, durch Vergleiche und Forschung an den Insassen zu einer
Theorie zu
gelangen, die ihre Gemeinsamkeiten und Besonderheiten interpretiert.
Aus dieser
Situation ist die Psychiatrie als klinische Theorie hervorgegangen,
ebenso
Psychoanalyse und Psychologie. Denn Bewußtsein über
ein Phänomen ist erst durch
eine Ausnahme, eine Abweichung vom Phänomen möglich.
So bei Normen; auch
psychische Normalität bzw Psyche überhaupt wird erst
auffällig durch
Normabweichung, die sich in Interaktionsstörungen bei
„Abnormen“ offenbar
macht. (Kurt Schneider)
Psychologie entstand als
Psychopathologie. Später erkannte die Psychopathologie dann,
daß ein
Kausalzusammenhang der Störung mit in der vergangenen Zeit des
Lebens erlernten
Kommunikationserfahrungen besteht. Besonders frühkindliche
traumatische
Erfahrungen wirken sich später stark auf das weitere
Kommunikationsverhalten
aus, wie Freud feststellte. Schon in der intrauterinären
Erfahrung des Embryos
sind schädigende Einwirkungen traumatisierend, bestimmend
für nicht mehr
greifbar zu machende Grundgestimmtheiten und Atmosphären. Die
psychopathische
Kommunikationsstörung ist also Auswirkung früherer
Kommunikationszusammenhänge.
Diese Kommunikationszusammenhänge wurden nun Gegenstand der
Forschung in der
Psychiatrie. Ergebnis ist, daß man nicht mehr von normal und
abnorm sprechen
kann, sondern nur noch von als adäquate Verhaltensweisen auf
perverse
Kommunikationszusammenhänge hin entstandenen Verhaltensformen
und Symptomen.
„Psychiatrische Symptome müssen in monadisch
isolierter Sicht abnormal erscheinen;
im weiteren Kontext der zwischenmenschlichen Beziehungen des Patienten
gesehen
erweisen sie sich jedoch als adäquate Verhaltensweisen, die in
diesem Kontext
sogar die bestmöglichen sein
können.“(Watzlawick aaO 49) Auf die hierauf
gebildeten Systemtheorien, die jetzt anstelle intrapsychischer Theorien
treten,
wird noch eingegangen.
Zunächst aber wieder
zurück zum
Aspekt von Leben als Bildungsprozeß, indem „die von
der Gesellschaft nicht
lizensierten Bedürfnisdispositionen“(Habermas aaO
330) ein Eigenleben zu führen
scheinen. Die Psychiatrie hat aus der klinischen Erfahrungsbasis eine
allgemeine Theorie formuliert über die Genese von
Verhaltensstörungen. Sie kann
empirisch bis zu einem gewissen Grad abgesichert werden. Ihre
Erkenntnissituation war die Gesprächssituation mit Patienten.
Freud formulierte
in der „analytischen Grundregel“ die
„Bedingungen eines repressionsfreien
Reservats, in dem für die Dauer der Kommunikation zwischen
Arzt und Patient der
'Ernstsituation', also der Druck der gesellschaftlichen Sanktionen, so
glaubhaft als möglich außer Kraft gesetzt
ist.“(Habermas, aaO 306) In dieser
geschützten Situation reflektieren Arzt und Patient die
Lebensgeschichte des
Patienten, rekonstruiern sie aus den Erinnerungen und Träumen
des Patienten. Da
einem Menschen nicht jederzeit alles bewußt ist, stellt sich
die
Lebensgeschichte zunächst noch fragmentarisch dar, die
psychoanalytische
Rekonstruktion ist daher „wissenschaftslogisch an die
Voraussetzungen einer
Interpretation von verstümmelten und entstellten Texten, mit
denen die Autoren
sich selber täuschen, gebunden“. (Habermas aaO 307;
Lorenzer aaO 27, 228f, 171)
Denn erfahrungsgemäß sind die Erinnerungssperren
gerade bei den aus dem
öffentlichen Text gestrichenen Lebenserfahrungen, die der
Grund für
Verhaltensstörungen sind, besonders stark.
Die Paradoxität der
Analyse
besteht darin, daß gerade die für die Genese der
Pathologie entscheidensten
traumatischen Szenarien, Texte, Erinnerungen durch die
schützende Verdrängung
am schwierigsten zugänglich sind.(Lorenzer aaO 197)
„Wenn man sich einer
Erinnerung bewußt wird, erinnert man sich nämlich -
sagen wir - an die letzte
Gelegenheit, bei der man daran dachte... Die Schwierigkeit aber besteht
darin,
daß manche Türen sich schließen, wenn
andere sich öffnen. Das 'Unbewußte“ ist
das, was wir nicht mitteilen - uns selbst oder einander. Wir
können etwas einem
anderen übermitteln, ohne es uns selbst mit
zuteilen.“(Laing, Das Selbst und
die Anderen, Editione Continua 1973, 30) Die allgemeine Interpretation
der klinischen
Erfahrungen „erlaubt eine systematische Verallgemeinerung
dessen, was sonst
Historie bliebe... nach dem elastischen Verfahren der zirkulär
bewährten
hermeneutischen Vorgriffe... Aber auch diese Erfahrungen standen schon
unter
dem generellen Vorgriff des Schemas gestörter
Bildungsprozesse.“(Habermas, aaO
316; cf Lorenzer aaO 95)
„Jede historische
Darstellung
impliziert den Anspruch der Einmaligkeit. Eine allgemeine
Interpretation
hingegen muß, obwohl sie die Ebene narrativer Darstellung
nicht verläßt, diesen
Bann des Historischen brechen. (...) Sie ist eine systematisch
verallgemeinerte
Geschichte, weil sie das Schema für viele Geschichten mit
vorhersehbaren
alternativen Verläufen abgibt, obgleich jede dieser
Geschichten dann wiederum
mit dem Anspruch der autobiographischen Darstellung eines
Individuierten
auftreten können muß. (...) In jeder Geschichte, und
sei sie noch so
kontingent, steckt ein Allgemeines, denn aus jeder Geschichte kann ein
anderer
Exemplarisches herauslesen. (...) Wir können den 'typischen'
Fall auf den
eigenen Fall anwenden: wir selbst sind es, die die Applikation
vornehmen, das
Vergleichbare vom Verschiedenen abstrahieren und das abgezogene Modell
unter
den bestimmten Lebensumständen unseres eigenen Falles wiederum
konkretisieren.
(...) Die systematische Verallgemeinerung besteht also darin,
daß in
vorgängigen hermeneutischen Erfahrungen von vielen typischen
Geschichten im
Hinblick auf viele individuelle Fälle bereits abstrahiert
worden
ist.“(Habermas, aaO 32lf) Hiermit ist die Funktion des Arztes
charakterisiert.
Er ist Spezialist dieser allgemeinen Interpretation.
Der Erkenntniszusammenhang in der
Gesprächssituation von Arzt und Patient wird getragen vom
Patienten, der die
Erkenntnis seiner selbst unter Zuhilfenahme der allgemeinen
Interpretation des
Arztes leisten soll. Dabei orientiert sich der Patient an den
Hypothesen, die
aus der Typologie empirisch erforschter gestörter
Bildungsprozesse hergeleitet
sind und ihm vom Arzt nun als Interpretationsvorschläge
angeboten werden. Dies
geschieht selbstverständlich auf subtilste Weise, zB durch
Umformulierung der
eigenen Sätze des Patienten in der Spiegelmethode, durch
gezielte Fragen, die
eben schon implizite eine ganze Reihe von Aussagen enthalten, usw.
Diese
Hypothesen haben nur Geltung, wenn sie vom Patienten akzeptiert und in
seiner
Selbstreflexion auf den durchlaufenen Prozeß seiner Genese
bestätigt werden.
Die Gefahr dieser Vorstellung liegt darin, daß es keine
Möglichkeit der
Überprüfung gibt, ob der Patient erst aufgrund der
Hypothesen in seiner
Reflexion seinen Bildungsproseß auf diese hin selektiv
rekonstruiert, sodaß
eine unzureichende Hypothesenstellung das entscheidende Trauma oder die
vielen
kleinen Noxen seines gestörten Bildungsprozesses nicht
wahrnehmen kann, sodaß
die allgemeine Interpretation des Arztes den Kausalzusammenhang der
Pathologie
mit früheren traumatischen Kommunikationserfahrungen eher
verschleiert als
offenbart. „Da es nun aber in unserer Erfahrung keine
psychischen Zustände
gibt, welche man introspektiv außerhalb eines Menschen zu
beobachten vermöchte,
so kann das Verhalten der Archetypen ohne Einwirkung des beobachtenden
Bewußtseins überhaupt nicht erforscht werden, und
darum kann auch die Frage, ob
der Prozeß beim Bewußtsein oder beim Archetypus
anfängt, nie beantwortet
werden.“ (Carl Gustav Jung, Antwort auf Hiob, Olten/Freiburg
(Walter) 1973,
122)
Die freudsche Theorie ist
mittlerweile derart in höheren Bildungskreisen (bei denen
Neurose viel stärker
auftritt als in anderen „Schichten“) bekannt,
daß schon die Internalisierung
des intrapsychischen Energieverteilungsmodells selbst eine der
Sozialisationbedingungen darstellt, die in einer Analyse Paradigma der
Selbstinterpretation geworden sind. Die freudsche Katharsis findet dann
oft
vulgäre Applikationen, zB wenn man einem in Zorn geratenen
Menschen rät, „seine
Aggressionen abzureagieren“. (Adorno, Minima Moralia,
Frankfurt/Main 1973,
78ff) Meist dann gerade nicht an dem, dessen Fehlverhalten zur
Entstehung der
Wut führte. Erlaubt ist dann Sport, aber keine Demonstrationen
gegen Mißstände,
so unlängst der Rektor der Tübingen
Universität. Die Idiome der Freudschen
Theorie bilden mittlerweile eine Reservoir der Sticheleien, mit denen
verächtliche
Gebildete andere verletzen können, indem sie sie
„patientisieren“ oder
bloßstellen.
Neben der unzureichenden
Hypothesenstellung bildet die Tatsache, daß der Patient sich
wegen des
Interpretationsentzugs im öffentlichen Text der pathogenen
Kausalität der
abgespaltenen Intentionen derselben nicht bewußt sein kann,
einen zweiten
Faktor, der die Richtigkeit einer Analyse unentscheidbar macht.
Lorenzer
verlagert die Verifikabilität der Analyse in den Bereich der
Evidenz des
Analytikers, wo er mit empirischen Methoden nicht mehr
operationalisierbar ist
- im Sinne der Bedingung zuverlässiger wissenschaftlicher
Erkenntnis, unter
gleichen Ausgangsbedingungen für jedes
erkenntnisfähige Subjekt nachvollziehbar
zu sein. Denn nach Freud darf weder die Ablehnung einer Hypothese durch
den
Patienten vom Arzt als Falsifikation betrachtet werden, noch die
Bestätigung.
„Das Nein des Patienten beweist nichts für die
Richtigkeit der
Interpretation.... es steht uns frei anzunehmen, daß der
Analysierte nicht eigentlich
das ihm Mitgeteilte leugnet, sondern seinen Widerspruch von dem noch
nicht
aufgedeckten Anteil her aufrecht hält.“(Freud, WW
XVI, 49f) Auch bestätigende,
der Analyse nachhinkende Träume haben keine
Verifikationspotenz, da sie erst
auf die Hypothesen des Arztes hin geträumt sein
können. Ein direktes Ja des
Patienten besagt aber auch nichts. „Es kann in der Tat
anzeigen, daß er die
vernommene Konstruktion als richtig anerkennt, er kann aber auch
bedeutungslos
sein oder selbst, was wir 'heuchlerisch' heißen
können, indem es seinem
Widerstand bequem ist, die nicht aufgedeckte Wahrheit durch eine solche
Zustimmung weiterhin zu verbergen. Einen Wert hat dieses Ja nur, wenn
es von
indirekten Bestätigungen gefolgt wird, wenn der Patient in
unmittelbarem Anschluß
an sein Ja neue Erinnerungen produziert, welche die Konstruktion
ergänzen und
erweitern.“(Freud, WW XVI, 49) So ist die einzige
Möglichkeit von „Veri- und
Falsifikation der gesamte Verlauf der Analyse, die Entscheidbarkeit
psychoanalytischer Erkenntnis ergibt sich aus dem Kontext der gesamten
Analyse.(Lorenzer aaO 228f)
Unter dieser Voraussetzung wird
die Analyse zu einem infiniten Prozeß, einem Spiel ohne Ende,
wenn auch noch
folgende Bedingung gilt: Mit der analytischen Aufarbeitung des
Vergangenen sind
zwar die früheren Traumata bis zum gewissen Grad aufgehoben.
Aber es kommen
ständig neue traumatische Erfahrungen hinzu. Durch die
therapeutische Reflexion
mag der Patient ruhig zu einer Integration seiner konform zur
Gesellschaft von
ihm selbst vormals nicht lizensierten Bedürfnisdispositionen
gelangen, das Es
vom Ich sanfter reiten lassen. Aber das Ich ist eine Funktion des
sozialen
Umfeldes, Abbild der Gesellschaft, in der es lebt. Und die Analyse
integriert
wohl im Individuum die abgewehrten Strebungen in die akzeptierten. Aber
sie
vermag nichts daran zu ändern, daß der Horizont
gesellschaftlicher Normierung
weiterhin Intentionen abwehrt, indem diesen die öffentliche
Interpretation
verweigert wird. Wenn ein Patient seine abgewehrten Intentionen zu
akzeptieren
gelernt hat, haben es die Leute, mit denen er lebt, noch lange nicht;
weshalb
sie es auch ihm selbst verunmöglichen, eine volle
Interpretation aller seiner
Intentionen zu vollziehen. Zwar mag er einen gewissen Einfluß
auf die Anderen
durch seine in der Psychoanalyse erlernte Fähigkeit zur
Metakommunikation
ausüben können, aber seine grundlegende soziale
Erfahrung bleibt die des
Verstümmeltwerdens, bleibt traumatischer Natur. Was
gegenüber früheren Traumata
anders geworden ist, ist seine erweiterte Reflexion, das intensivere
Bewußtsein
von den Mechanismen seiner Verletzbarkeit. Aber dieses
Bewußtsein allein macht
die sozialen Verletzungen nicht schmerzloser und hebt die Funktion der
Mechanismen sozialer Anpassung in ihm nicht auf. Die Reflexion ist nur
fähig,
die vollzogene Anpassung aufzudecken, dieser ständig
nachhinkend. In einer
verletzenden Umwelt bleibt keine Identität heil.
Darum wird eine permanente
Reflexion über die von anderen beim Selbst abgewehrten
Intentionen vonnöten
sein, damit das Selbst die Kausalität des eigengesetzlich
gewordenen
Abgespaltenen erkennen kann und so aufheben. Ist Reflexion imstande,
ihre
eigene Kausalität im Begriff aufzuheben? Denn hierum geht es
der Analyse. „Das
tiefenhermeneutische Verstehen übernimmt die Funktion der
Erklärung. Es bewährt
seine explanatorische Kraft in der Selbstreflexion, die eine
verstandene und
zugleich erklärte Objektivation auch aufhebt, das ist die
kritische Leistung
dessen, was Hegel unter den Titel des Begreifens gebracht
hat.“(Habermas, aaO
332) Wenn Analyse Metakommunikation ist, so stellt sich in ihr das
Subjekt auf
eine höhere Ebene, von wo aus es die Kausalität zu
erkennen vermag, die es
bedingte. Die Möglichkeit zur Metakommunikation ist aber die
notwendige neue
Bedingung, von der die Aufhebung des Kausalen abhängt. Um
einen alten
Kommunikationszusammenhang also aufzuheben, ist ein neuer
nötig. Sobald aber
dieser - etwa bei Abbruch der Analyse - wegfällt und der alte
Zusammenhang -
etwa die nicht mittherapierte Familie - erneut bedingend wird
für die Existenz,
so verfällt ihm der Patient abermals. Rückfallquoten
sind bekanntlich bei allen
Integrations- und Resozialisierungskampagnen deprimierend hoch. Das ist
das
Geschäft der Psychiater, Wärter totaler Institutionen
und Sozialfürsorger: sie
erfreuen sich einer treuen Kundschaft. Als Inhaber eines
Dienstleistungsberufs
mit Zukunft vertreten sie das Vakuum, was durch den
Verfallsprozeß von
Verständnis, Vertrauen und Liebe in der repressiven
Gesellschaft - besonders in
den Trümmern des Bürgertums - entstanden ist. Sie
sollen die verdrängten
Intentionen von Zärtlichkeit, Liebe, Erotik, Autonomie,
Verständnis und
Verstandenwerden, Urvertrauen und Sinnbedürfnis wieder
hochpäppeln, weil sonst
die Quoten der Abnormen steigen. Die Kausalitäten der
Interaktionsstörungen
können vielleicht für die Therapiezeit aufgehoben
werden, aber sie kommen bei
der Reintegration unbarmherzig wieder. Wenn Aufhebung ein
emanzipatorischer Akt
ist, wenn Therapie den Patienten aus alten Kausalitäten
emanzipieren soll, so
bleibt sie bestenfalls eine Insel, von der aus es keinen Ausweg zum
Reich der
Freiheit gibt, es sei denn der Untergang. „Keine Emanzipation
ohne die der
Gesellschaft.“(Adorno, Minima Moralia, 228) „Von
einem Konzept im Sinne eines
‚Freisprechens’ als Revolutionsersatz (...) kann
keine Rede sein. (...) Jede
andere Vermutung wäre eben die der Psychoanalyse immer wieder
unterstellte Anmaßung,
ein idealistisches Aufklärungsvorhaben an die Stelle einer
politisch zu
leistenden Aufhebung der Deformationsbedingungen zu
rücken.“(Lorenzer aaO 35)
Reflexion
mag also ihre Kausalität im Begriff aufzuheben
vermögen.
Aber nur im Begriff. Ob der Begriff Möglichkeit zur
Veränderung hat, ist damit
noch lange nicht entschieden. Reflexion hat denn auch genuin
psychopathische
Seiten.
In der Philosophie führt
sie, von
aktiver Praxis isoliert, zur reinen Kontemplation im Elfenbeinturm.
(Adorno,
Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966, 144f) Es gibt auch eine Stufe
von
Dummheit, die der Erkenntnis seiner totalen Bedingtheit innezuwohnen
beginnt,
nämlich, daß bei dieser Reflexion der Reflektierende
vergißt, daß gerade diese
Erkenntnis auch eine Bedingtheit ist, in der er steht; das dialektische
Moment der
Überschreitung des bloß Gegebenen ist zugunsten
einer sturen Schematik dessen,
was als Erkenntnis einmal dialektischen Wesens war, gewichen und
hindert so an
jedem Versuch, in der Aktion eine Überschreitung der Situation
zu wagen, die im
Bewußtsein der völligen Bedingtheit sich dieselbe
gerade mit Geschick zu Nutze
macht, mit den eigenen Bedingungen arbeitend, dabei aber deren
Determination
durch die List des erfinderisch-produktiven Gedankens
überwindend. Gleichwohl
ist es für Reflexion, die das Reflektierte aufzuheben
wünscht, unerläßlich, den
besonderen Fall seiner Pathologie als Produkt eines Allgemeinen zu
erkennen.
Analyse, in der der Patient nicht von sich loskommt durch Reflexion,
taugt
nicht. „Gerade die unbeirrte Selbstbesinnung - jene
Verhaltensweise, die
Nietzsche Psychologie nannte -, also die Insistenz auf der Wahrheit
über einen
selber, ergibt immer wieder, schon in den ersten bewußten
Erfahrungen der
Kindheit, daß die Regungen, auf die man reflektiert, nicht
ganz 'echt' sind.
Stets enthalten sie etwas von Nachahmung, Spiel, Andersseinwollen. Der
Wille,
durch Versenkung in die je eigene Individualität anstatt durch
deren
gesellschaftliche Erkenntnis auf das unbedingt Feste, aufs Sein des
Seienden zu
stoßen, führt in eben die schlechte Unendlichkeit,
welche seit Kierkegaard der
Begriff der Echtheit exorzieren soll. (...) Nicht bloß ist
das Ich in die
Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im
wörtlichsten
Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr, oder schlechterdings aus der
Beziehung zum
Objekt. Es wird um so reicher, je freier es in dieser sich entfaltet
und sie
zurückspiegelt, während seine Abgrenzung und
Verhärtung, die es als Ursprung
reklamiert, eben damit es beschränkt, verarmen
läßt und reduziert.“(Adorno,
Minima Moralia, 202f) Selbstreflexion kann also auch ihrer
Kausalität
verfallen; dies prägt nachgerade die depressiven
Zustände der Dauergrübler. Die
Kausalität muß in der Reflexion akzeptiert werden,
eher ist sie nicht
transzendierbar. Für den Patienten heißt das, er
wird nicht eher frei von einem
Symptom, als bis er die hinter selbigem verborgene Intention akzeptiert
hat.
Dies wiederum kann er aber nicht, wenn die Anderen es nicht auch
akzeptieren.
Das Verfallen der Reflexion an ihre Kausalität, wenn diese
nicht akzeptiert
wird, ist am stärksten erfahrbar beim übersteigerten
Selbstbewußtsein
Schizophrener. „Das schizoide Individuum wird oft von dieser
zwanghaften
Bewußtheit seiner eigenen Prozesse
gepeinigt...“(Laing, Das geteilte Selbst,
aaO 13l) So, als scheiternder Versuch, ontologische Sicherheit durch
Reflexion
zu gewinnen, bildet Reflexion selbst ein Symptom, dessen
Kausalität zu
reflektieren bedeuten kann, ihm zu erliegen und sich durch
ständiges Steigern
der Meta, Metameta und Metametameta... bis Metan-ebenen seiner
Reflexion sich
ins Leiden hineinzukatapultieren. Gegen ontologische Unsicherheit hilft
Selbstreflexion nichts. Es ist hoffnungslos. Wenn das Symptom Angst vor
etwas
ist, so ist es nicht eher aufhebbar, als bis der Gegenstand der Angst
aufgehoben ist, real aufgehoben. Wenn der Gegenstand der Angst aber das
Nichtsein der eigenen Existenz ist, so bleibt die Angst. In dieser
Angst von
Geisteskranken offenbart sich am Einzelnen das Grauen, das das
Kollektiv
herstellt, seien die Vernichtungslager auch weit weg.
Dennoch bedarf es in der Analyse
der Reflexion nicht
weniger als vorher. Gerade ihr Verfall führt zur Zufriedenheit
mit dem freudschen
Schematismus. „Entspannt wird auf dem Diwan
vorgeführt, was einmal die äußerste
Anspannung des Gedankens von Schelling und Hegel auf dem Katheder
vollbrachte:
die Dechiffrierung des Phänomens. Aber solches Nachlassen der
Spannung
affiziert die Qualität der Gedanken: der Unterschied ist kaum
geringer als der
zwischen der Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der
Schwiegermutter. Die gleiche Bewegung des Geistes, die einmal dessen
'Material'
zum Begriff erheben sollte, wird selber herabgesetzt zum
bloßen Material für
begriffliche Ordnung. Was einem einfällt, ist gerade gut genug
dazu, daß
Geschulte entscheiden, ob der Produzierende ein Zwangscharakter, ein
oraler
Typ, ein Hysteriker sei.“(Adorno, Minima Moralia, 83) Dies
führt uns weiter ins
Arzt-Patient-Verhältnis. Der Arzt als Spezialist einer
allgemeinen Theorie hat
zwei Möglichkeiten ihrer Applikation. Entweder klassifiziert
er den Patienten
als besonderen Fall der allgemeinen Typologie. Das, was der Patient ihm
an Text
übermittelt, wird auf einer Metaebene ausgewertet, an der der
Patient nur im
Nachherein teilhat, indem er erfährt, was für eine
Krankheit er hat. Der
Patient liefert Information, der Arzt interpretiert diese, nicht ohne
zwischendurch feedbacks einzuholen. Beispiel für eine solche
Analysetheorie ist
Walter Loch: „Ich erkläre deutend dem Kranken
Zusammenhänge, dh Motive seines
So-Seins, indem ich sie als Hypothesen vor Augen führe. An
einer Stelle kommt
dann das ‚aha’-Erlebnis, kommt das ‚Jetzt
weiß ich, weshalb’, von einem ‚freudigen
Aufzucken’ begleitet. Meine Erklärung hat dazu
geführt, daß der Patient
versteht, meint also, er ist in der Lage, sie zu
gebrauchen.“(Loch,
Voraussetzungen, Mechanismen und Grenzen des psychoanalytischen
Prozesses,
Bern/Stuttgart 1965, 38)
Der Funktionsbestand ist
einseitig und komplementär aufgebaut. Der Arzt braucht den
Patienten zur
Diagnose, ohne ihn wäre er kein Arzt, wie keine Mutter eine
solche ist ohne ihr
Kind. Eine weitere Legitimation des Arztes liegt darin, daß
der Patient krank
sein muß. Wäre er dies nicht,
müßte sich der Arzt als Arzt nutzlos vorkommen,
er wäre dann nur noch ein einfacher Gesprächspartner
des Anderen. Indem der
Patient aber als krank gilt - und der Arzt sich für gesund
hält -, hat der Arzt
eine für sein Selbstbewußtsein stabilisierende
Rollenfunktion erlangt. „Der
psychotherapeutische Prozeß besteht zu einem großen
Teil darin, daß der Patient
seine falschen subjektiven Perspektiven aufgibt zugunsten der
objektiven des
Therapeuten.“(Bert Kaplan (Hrsg.), The Inner World of Mental
Illness. A Series
of First Person Accounts of What It Was Like, New York/Oxford (Harper
and Row)
1964, VII, zit. bei Laing, Phänomenologie der Erfahrung, 99)
Ein Arzt ist also
abhängig davon, daß es weiterhin Patienten geben
wird. Psychiater verderben
sich ihr Geschäft und ihr Selbstvertrauen, wenn sie in ihren
Patienten gesunde
Menschen sehen würden.
Dies gilt nicht für alle
Analytiker. Darin liegt auch die Möglichkeit, in der
Psychoanalyse in näherer
Zukunft völlig vom Begriff des Gesunden, Normalen oder
Kranken, Abnormen
abzurücken, der im Schneiderschen Psychopathiebegriff
‚Abweichung von einer
Durchschnittsnorm eines Kulturkreises’ implementiert wurde in
den Diskurs der
psychoanalytischen Theoriebildung und die Diagnoseglossare der WHO.
(Kurt
Schneider, Klinische Psychopathologie, Stuttgart7 (Thieme) 1966
unterscheidet
1. Abnorme Spielarten seelischen Wesens mit Schwachsinnigen und ihren
Psychosen
und 2. Seelisch Abnormes als Folge von Krankheiten. Dies wurde
Grundlage der
ICD und DCM) Einerseits ist die Attestierung von Devianz und
Abnormität zumeist
Herrenperspektive oder Spießer-Rancune. Andererseits aber
erlaubt dies die
Option, daß eine Abnormität in einem anderen Setting
oder Kulturkreis, einer
anderen Subkultur, als etwas Normgerechtes oder sogar Erstrebenswertes
geadelt
wird, zB als optimale Voraussetzung für den Schamanenberuf.
Abnormität sagt
weniger über das Leid des Patienten als über seine
Arbeitskraft im
kapitalistischen Verwertungszusammenhang. Die Perspektive entstammt der
Selbstlegitimation der mittelalterlichen Internierungshäuser,
in denen eine
ähnlich bunte Mischung schräger Vögel
gefangen war wie später in KZ´s und
Gulags.
Die Komplementarität der
Arzt-Patient-Beziehung
implizier schon deren Assymmetrie. Die Dilettanz, die dem Patienten
unterstellt
wird (auch in dessen eigenem Bewußtsein, sonst würde
er keinen Psychiater
konsultieren!), ergibt in Verbindung mit dem Spezialwissen des
Analytikers die Voraussetzung
einer Herrschaft des Analytikers über den Patienten. Die
Konstruktion des
Unbewußten erlaubt dem Arzt ständig, die
Interpretationsvorschläge des
Patienten abzulehen. „Wenn der Patient eine Deutung des
Analytikers ablehnt,
kann dieser immer erwiedern, daß seine Deutung sich auf etwas
bezieht, dessen
der Patient nicht gewahr sein kann, weil es ihm unbewußt ist.
Versucht der
Patient dagegen, Unbewußtheit als Begründung
für etwas anzuführen, so kann der
Analytiker dies gegebenenfalls mit dem Hinweis ablehnen, daß
der Patient nicht
davon sprechen könnte, wenn es unbewußt
wäre.“(Watzlawick, aaO 230) Der Patient
ist in der Zwickmühle. Nach Watzlawick bestehen weitere
Doppelbindungen, die
die Hierarchie indirekt unterstützen können, in der
gegenseitigen Übertragung
der Verantwortung für das Gelingen der Therapie. Der Patient
erwartet vom Arzt
Erklärungen und Verhaltensanweisungen, die zur Aufhebung der
Interaktionsstörungen führen sollen, wegen derer der
Patient sich der Therapie
unterzieht. Der Arzt legt die Verantwortung für der 'Erfolg'
in die Fähigkeit
des Patienten, spontan zu sein, ehrlich und aufrichtig, in die
Bereitschaft,
sich das vom Leib reißen zu lassen, was die repressive
Gesellschaft zu tragen
befiehlt. Besserung kann der Arzt als Fluchtversuch vor dem wirklichen
Problem
ansehen, während er das gleiche mit der Klage des Patienten
über das Ausbleiben
von Besserung des Symptoms auch anstellen kann. Benimmt sich der
Patient wie
ein Erwachsener, also mit voller Monteur der gesellschaftlichen
Verhaltensweisen,
die zur Geheimhaltung nichtlizensierter Bedürfnisse notwendig
sind, so deutet
der Arzt dies als Widerstand gegen die Analyse; benimmt er sich nicht
wie ein Erwachsener,
so kommt ihm vom Arzt die Deutung als infantiler Syndrombildung zu.
(Vgl.
Watzlawick aaO 229)
In allen diesen
Möglichkeiten
innerhalb des Analysenganges ist der Arzt im Vorteil. Aber eine weitere
Möglichkeit der Herrschaftsausübung des Arztes steht
diesem juristisch zu bei
der Einweisung in eine Heilanstalt. Damit hat er den Ruf eines Menschen
in
seiner Hand. Von seiner Meinung hängt ab, wie der Patient in
Zukunft von der
Gesellschaft gesehen wird und damit behandelt wird, ob als Psychopath
oder
Normaler, einer von denen oder einer von uns. Er hat das soziale
Todesurteil
über einen Menschen in seiner Hand und das ist dann die
Verantwortung über
Leben und Tod, die das hohe Honorar der Ärzte in der BRD und
USA legitimiert,
wenigstens nach offizieller Darstellung, sogar noch hier in
Tübingen von
Professoren der Medizin ernsthaft vertreten. Der Unterschied von
Herrschaft
innerhalb oder außerhalb der direkten Arzt-Patient-Situation
liegt im
jeweiligen Verständnis vom Heilungsprozeß. Wird
Diagnose und Heiltherapie
getrennt wie bei allen Einweisungen in Heilanstalten, so findet die
Herrschaft
durch eine außerhalb der direkten Situation liegende
gesellschaftlich
eingeräumte Potenz des Arztes, über die Zukunft des
Patienten zu befinden,
statt. Es ist mit der Macht eines Richters vergleichbar, der einen
Angeklagten
das erste Mal in dessen Leben als 'schuldig' verurteilt und hiermit
dessen
weiteres Leben determiniert auf einen Kreislauf vom Gefängnis,
Freilassung in
die ihn ablehnende Gesellschaft, Verzweiflung, materielle
Existenzbedrohung
durch Arbeitslosigkeit, Beeinflussung durch den 'kriminellen'
Freundeskreis, in
den jeder Häftling alsbald sozialisiert wird, erneute
'Strafhandlung',
erneutert Prozeß, erneute Einbuchtung usw. In diesem
Teufelskreis findet eine
fortschreitende Zerstörung des Selbstwertgefühls
statt.
Etwas anders gelagert ist der
circulus vitiosos beim Christen. Die Sektenideologie lebt geradezu von
der
Dissoziation zur gesellschaftlichen Normalität. Die
Inkommensurabilität mit den
Kindern dieser Welt wird Insignium des neuen Seins mit einem nachgerade
unzerstörbaren und unbeirrbaren Selbstwertgefühl,
gerade auch in mystischen
Praktiken, die das Selbst in Gott hinein aufgeben und daran erstarken.
Zwar
hatte der Gläubige im Abendland stets soziale Anerkennung
genießen dürfen. Er
wußte sich als Teil einer starken Gruppe, kollektiver
Narzißmus ließ ihn sich
stark fühlen. Sein Status innerhalb der Gemeinde gab ihm
Selbstachtung, auch
wenn er fundamentalistische Kuriositäten von sich gab, die in
der säkularen
Welt als Spleen, verwirrt oder wahnhaft verpönt werden.
Möglicherweise findet
der Abnorme im Irrenhaus ebenfalls Gleichgesinnte, vielleicht gleich
sensible
Menschen, die ihn ebenso achten und lieben können, wie sich
die Kinder Gottes
lieben. „Sie sahen einander an und lächelten und
wußten, daß „D“
überhaupt
nicht die schlimmste Station war, sondern die ehrlichste. Die anderen
Stationen
mußten einen „Status“ aufrechterhalten
und die äußere Form wahren. (...) So
flüsterten die Stationen A und B ihren kleinen Symptome,
nahmen ihre
Beruhigungsmittel und fürchteten sich vor lauten
Geräuschen, offener Qual oder
aufragender Verzweiflung. Die Frauenstation D schaukelte manchmal wie
ein Boot,
aber ihre Insassen fühlten sich frei von den geheimen
trügerischen Unterströmen
verworrenen Wahnsinns.“(Hannah Green, Ich habe dir nie einen
Rosengarten
versprochen. Bericht einer Heilung, Stuttgart2 (Radius) 1974, 65)
Durch die Zerstörung des
Selbstwertgefühls und Vermittlung einer völlig neuen
sozialen Identität, die
wiederum die direkte Identität bestimmt, hat der Arzt den
Patienten völlig in
seiner Gewalt, er entscheidet über die Dissozialisierung und
somit über den
sozialen Tod. Gewöhnlich sind die Patienten, auf die dieses
zutrifft, unfreiwillig
beim Arzt. „Ein relativ kleiner Teil der vorklinischen
Patienten gelangt
freiwillig in die Heilanstalt“ (GoFrankfurt/Mainan aaO 13l)
und etwa ein
Drittel wird rückfällig eingeliefert (aaO 130). Es
ist anzunehmen, daß dem
Patienten diese Potenz der Einweisung bekannt ist, wenn die Diagnose
gestellt
wird. Es ist weiterhin anzunehmen, daß für einen
Großteil dieser Patienten die
dissozialisierende Funktion der Heilanstalten bekannt ist. Sie wissen
dann, daß
von dem Eindruck, den der Arzt von ihnen bekommt, ihre weitere Zukunft
abhängt.
Sie stehen in einer Prüfungssituation und empfinden
Streß. In diesem Fall ist
die Analyse- und Erkenntnisbedingung der Psychiatrie nicht gegeben,
nämlich die
geschützte Kommunikation, „in dem für die
Dauer der Kommunikation zwischen Arzt
und Patient die 'Ernstsituation', also der Druck der gesellschaftlichen
Sanktionen, so glaubhaft als möglich außer Kraft
gesetzt ist.“(Habermas aaO
306) Mithin: obwohl hier Erkenntnis unmöglich ist,
hängt von ihrer
verwaltungstechnisch verordneten Scheindurchführung die
soziale Existenz des
Patienten ab. Schlimmer scheint mir Repression, die ohne brutale
Brachialgewalt
auskommen muß, nicht mehr denkbar. Diese Trennung von
Erkenntnis und Heilung
führt zur perfidesten Form von Herrschaft, die der Arzt im
Auftrag der
Gesellschaft seinen Opfern anzutun hat.
Da Zwangseinweisungen in
Heilanstalten häufiger in der Unterschicht stattfinden, ist
diese auch von
solchen Bedrohungen stärker beschattet. Unterschichtler sind
durch ihren
restringierten Sprachcode für den Diskurs auf der Psychocoach
weniger geeignet,
der bei schwerster Symptomatik sowieso ineffizient bleibt und dem
Sedativum
unterlegen bleibt, vom Kostenrahmen ganz abgesehen. Der Malocher kommt
in die
Klapse, der Lehrer darf als Privatpatient auf die Coach.
Die Psychoanalyse freilich hat,
von Freud wohl auch in diesem Zusammenhang erspürt, den
Ruhmestitel, „daß
Forschung und Behandlung bei ihr zusammenfallen“(Freud, WW
VIII, 380). Für
diese Form der Heilung gilt die oben als Herrschaft innerhalb der
Analyse
beschriebene Machtmöglichkeit des Arztes. Eine
depersonalistische Diagnose aber
ist selbst schon von der Zwanghaftigkeit der Mittel, die sie verordnet.
Denn
die gegenseitige Depersonalisation ist gerade die Krankheit, an der
sowohl die
Normalen leiden als auch die Psychopathen. Depressionen hat
mittlerweile fast
jeder dritte von den Freuden seiner Berufsanforderungen. Sich nicht auf
Augenhöhe zu begegnen, sondern den Anderen zu einem Objekt zu
degradieren, ist
eine der Ursachen, die Schizophrene herstellt. Deshalb ist sie nicht
geeignet,
den Zustand eines Schizophrenen zu ändern. Im Gegenteil: ein
Angstszenario der
Schizophrenen wird verstärkt. So natürlich auch in
der Heilanstalt, wo
Schizophrene als unheilbare Fälle unter
Drogeneinfluß aufs Abstellgleis des
Lebens gestellt werden. Litten sie vorher unter Hoffnungslosigkeit, so
hat
diese nun eine Entsprechung in der realen Situation gefunden und die
subjektive
Erfahrung der Schizophrenen hat ihr objektives Korrelat - wenigstens
etwas. Der
Paranoiker erlebt endlich seinen Wahn als Wirklichkeit der Verfolgung.
Wer in einem anderen Menschen ein
Objekt sieht, sieht nicht ihn. Weil er ihn nicht sieht, vernichtet er
ihn.
Ver-nichtung ist aber schon Heideggerscher Angstanalyse (Sein und Zeit,
Tübingen12 (Mohr) 1972, 186, 276, 265) infiltriert in all
seiner
ontologisierenden und damit falschen Verallgemeinerung. Bedrohung vor
dem
Nichtsein, Angst vor Unheimlichkeit und der Unbezüg-lichkeit
des Todes
reflektiert Heidegger ohne die Fähigkeit, diese
Ängste in einen Zusammenhang
mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu bringen.
Jüngels Deutung des Todes als
Verhältnislosigkeit (Tod, Stuttgart 1971, 99f, 171)
läßt nun das dialektische
Verhältnis darin deutlich werden: daß die
gesellschaftlichen Verhältnisse
verhältnislos machen. So fühlen sich viele
Schizophrene als Tote im Leben
(Laing, Das geteilte Selbst, aaO 171, 217, 240, 252; cf Dorothee
Sölle, Die
Hinreise, Stuttgart 1975, 7-23) Wie paradox diese Aussage ist,
dürfte klar
sein: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens, Den Tod erlebt
man
nicht.“(Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus,
Frankfurt am Main9
(Suhrkamp) 1973, 113, Nr. 6.4311) Das Leben des Schizophrenen lebt
nicht.
Schlimm nur, daß dieses Grauen von Heidegger sogar noch zum
Existential
verpositiviert wird: „Mit dem Tod steht sich das Dasein
selbst in seinem
eigensten Seinkönnen bevor.“(Sein und Zeit, 250)
Heideggers Rekurs aufs nackte
Selbst gleicht darin der zum Scheitern verurteilten Strategie
Schizophrener.
Inbegriff von Scheitern ist ja denn auch der Tod. „Der Tod
aber wird zum Kern
des Selbst, sobald es sich vollends auf sich
reduziert.“(Adorno, Jargon der
Eigentlichkeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1971, 114)
Nichtsdestoweniger hat
Heidegger gerade darum die Fähigkeit, das
Lebensgefühl einer dekadenten
faschistischen Gesellschaft in voller Unbewußtheit zu
schildern. Er und die
Schizophrenen haben die Fühler am Puls ihrer Zeit, wittern
nicht nur den
süßlichen Verwesungsgeruch des Meisters aus
Deutschland (Paul Celan,
Todesfuge), sondern erleben den Tod, der unter der Oberfläche
aller
menschlichen Beziehungen im Spätkapitalismus und dessen
historischen Vorstufen
bis in die intimste Zelle strahlt, am ganzen Körper. Ihre
lebendige Verwesung
offenbart nur prophetisch das, was das gesellschaftlich Allgemeine ist;
ihre
Abnormität ist die Entlarvung des Normalen. Von der
Charakteristik des Todes im
Leben hat auch der humanologische Depersonalismus sein
Bedürfnis zur
Klassifikation, Qualifikation, Sektion der Eigenschaften eines Menschen
nach
dem Vorbild der gesellschaftlichen Arbeitsteilung,
Neutralität,
Kausalifizierung historischer Genesen. Diagnose potenziert in sich noch
einmal
all das Kranke, Krankmachende, das Psychopathen aus besonders offenen
Schadstellen der Gesellschaft, meist Familien oder stressenden
Arbeitsteams, in
sich aufgesogen haben. Heilung ist ihr schon lange nicht
möglich. Unerträglich
aber der Gedanke, daß sie selbst unter den
mitleidsvoll-mitleidslosen Blicken
ihres Greifers/Wärters sich ausziehen sollen, um leichter
erfaßt werden zu
können.
Und selbst in der Psychoanalyse
nach Freuds Prägung findet im kleinen genau das von Marcuse
mit ‚repressiver
Entsublimierung’ Bezeichnete statt. (Adorno, Die revidierte
Psychoanalyse, in:
Soziologica II, 94ff zur milderen Variante Karen Horneys) Keine Zelle
in der
Gesellschaft, die nicht deren Mimesis wäre. In der Analyse
sollen die
abgewehrten Intentionen ins Ich durch Aufdeckung und Aufhebung ihrer
Kausalität
integriert werden. Damit soll ihre Macht über das Ich
gebrochen werden. Ihre
störende Macht. In der Analyse wird also die zu
Interaktionsstörungen führende
verinnerlichte Abwehr nichtlizensierter Bedürfnisdispositionen
abgewehrt, um
der von ihr verursachten Störung Herr zu werden. Das
Störende wird durch
Integration aufgehoben. Und gerade in dieser Integration der
Gegensätze
wiederholt Analyse das Totalitäre der Gesellschaft, in deren
Dienst sie steht.
(Vgl. H.Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied6 1974, 14) Durch
die
direkte, 'spontane' Bedürfnisbefriedigung mit billigen
Derivaten bourgeoiser
Luxusgüter – von der Hollywoodschaukel bis zur
Plastikkaminuhr - wird das
Proletariat aufgehoben in eine äußere
Ähnlichkeit zur Bourgeoisie. Damit
entfällt der äußerlich sichtbare
Antagonismus von Privatbesitz und Lohnarbeit
und die Macht des Proletariats ist durch Aufhebung seines
Klassenbewußtseins
gebrochen.
Heilung hat in der Psychiatrie
notwendig diese Funktion Die transzendierende Seinsweise, die jede
Abnormität für
eine totalitäre Gesellschaft haben muß, bedroht
deren eindimensionales
So-und-nicht-anders-sein. Leichte Fälle werden nach
tiefenpsychologischen
Methoden Therapien im Gespräch unterzogen, schwere
Fälle werden sofort als
unheilbar dissozialisiert, verdrängt wie der Tod selbst. Die
Psychopathen sind
- nimmt man Freuds Intrapsychikum - das Es der Gesellschaft, die
abgedrängten
Intentionen, sind der einer öffentlichen Interpretation
entzogene Text, sind
die nicht lizensierten Bedürfnisdispositionen, das
Unbewußte, der Schatten,
alles das, was die Gesellschaft nicht
wahrhaben will von sich selbst. Die
unterdrückten
Triebe füllen die Irrenhäuser.(Foucault, Wahnsinn und
Gesellschaft)
Noch ist das gesellschaftliche Ich
mächtiger, wird
es vermutlich auch bleiben. Aber die Psychopathen und all ihre abnormen
Brüder,
mit Jesus und Sokrates und allen Heiligen, stören das Ich doch
wenigsten so
gewaltig, daß die Ich-Inkarnation Hitler es sich nicht nehmen
ließ, sie alle
einzupferchen und zu vergasen.
Was heißt Aufhebung der
Vergangenheit? Vergangene Traumata sollen analytisch wiederentdeckt
werden und
ihr Einfluß auf die Gegenwart beseitigt werden. So sieht es
das Freudmodell mit
seinen Kindheitsstudien vor. Aber auch wenn man zugesteht,
daß jedes Verhalten
von vergangener Erfahrung weitgehend mitbestimmt ist, so wird dies
zumindest
relativiert von der Tatsache, „daß, was immer
Person A über ihre Vergangenheit
Person D mitteilt, untrennbar mit der gegenwärtigen Beziehung
zwischen den
beiden verknüpft und von ihrem Wesen her beeinflußt
ist.“(Watzlawick, aaO 46)
Es ist die Vergangenheit die Bedingung der Gegenwart, aber von der
Gegenwart
her bedingt sich, was aus der Vergangenheit sie bedingt.
Niemals kann einer alles von sich
wissen noch erst recht dieses einem anderen übermitteln. Was
mir also bewußt
wird in deiner Gegenwart, das wird auch von dir mitbestimmt. Redest du
über
deine Mutter, so fällt mir auch ähnliches und
unähnliches über meine Mutter
ein. Fragst du nur, wie meine Mutter ist, so fällt mir gar
nichts ein. Du hast
keinen Grund, mir deshalb Widerstand gegen etwas mir nicht
bewußtes
vorzuwerfen.
Die Ursachen, meiner Genese wirst
du finden wollen? Meinst du, daß, wenn du schon postulierst,
daß sie mir nicht
bewußt seien, du sie in mir ganz ergründen
könntest? Du selbst bist auch eine
dieser Ursachen meiner Genese. Vielleicht ist mir nicht
bewußt, wie du auf mich
wirkst. Vielleicht machst du mir unmöglich, darüber
nachzudenken. Wenn ich nur
deine Genese wüßte, um dein Verhalten zu mir
erklären zu können und dann zu
wissen, wie ich dich verstehen kann und wie du auf mich wirkst. Du
meinst, es
ist krankhaft, wenn ich mich vor anderen Leuten ausziehe?
Exhibionismus? Aber
weißt du, so verklemmt, wie du darauf reagierst, ich
weiß nicht, aber du mußt
da wohl irgend ein frühkindliches Trauma haben...
Viele Analysemodell gehen von der
Vorstellung frühkindlicher Traumata aus, in denen bestimmte
Bedürfnisse und die
Situation ihrer Versagung ins Unbewußte verdrängt
werden. Die schwarze
Pädagogik bürgerlicher sowie proletarischer Erziehung
gibt dazu sattsam
Illustrationsmaterial. Diese frühen Schäden soll
Psychoanalyse reparieren.
Sollte einmal Erziehung weniger beschädigen, wäre in
diesem Maße Psychotherapie
weniger erforderlich.
Im Es setzen nach Freud die
abgedrängten Strebungen und Praxisfiguren ein Eigenleben fort,
daß dem
Bewußtsein des Ich nicht zugänglich, gleichwohl aber
für dessen Verhalten
ausschlaggebend ist. Es führt zu
Wiederholungszwängen, die sich das Ich nicht
erklären kann. Das Es zwingt unbewußte Reaktionen
herbei, die eine Antwort auf
das traumatische Szenario sind. Da oft die Eltern wesentliche Agenten
der
Traumaszenen waren, überträgt das Es die Rolle der
verletzenden Person auf
gegenwärtige Personen. Es gehorcht dem Chef genau wie dem
Vater, trotzt ihm
gleich dem Vater, usw. Kein Wunder, wenn es im analytischen setting die
verinnerlichten Vaterfunktionen auf den Therapeuten projiziert. Wenn
der
Analytiker durch seine Fragen sich zudem noch als der Wissende zeigt,
ist die
Übertragung unvermeidlich. Dies ist kein Defekt des Patienten,
sondern vom
setting evoziert. In der idealiter herrschaftsfreien Kommunikation der
Therapie
hat der Analytiker die Deutungsmacht über den Patienten, der
von seinem Wissen
Hilfe erhofft. Ferenczi hat auf Gegenseitigkeit gesetzt und dem
Klienten ebenso
Kompetenz und Deutungsmacht zugebilligt. Damit hat er der Therapie
völlig neue
Möglichkeiten geschaffen.
Wo aber der Arzt über die
Zwangseinweisung
entscheidet ist er selten nur der Retter, wird eher als drohender Vater
oder
Richter wahrgenommen.
„Das Verhalten des
Patienten ist
bis zu einem gewissen. Grad eine Funktion des Verhaltens des
Psychiaters im
selben Verhaltensfeld. Der typische psychiatrische Patient ist eine
Funktion
des typischen Psychiaters und des typischen psychiatrischen
Krankenhauses.“(Laing, Das geteilte Selbst, aaO 33) Indem die
Psychiatrie ihr
blindes Augenmerk auf die Vergangenheit ihrer Opfer richtet, und all
ihre
Verhaltensstörungen als Produkte ihrer Vergangenheit
postuliert werden, ist es
der Psychiatrie möglich, mögliche Kritik an ihrer
Methode, Menschen als Nichts
zu behandeln, abzulenken, weil ihre Theorie nur die Vergangenheit als
Grund von
Verhaltensstörungen zuläßt. Im Irrenhaus
hat diese Funktion die Fallgeschichte.
Sie stellt die ganze Vergangenheit des Patienten bloß:
„Kein Sektor seines
gegenwärtigen oder früheren Lebens ist also der
Zuständigkeit und dem Mandat
der psychiatrischen Beurteilung entzogen. (...) Dabei wird so
verfahren, daß
aus seinem ganzen. Lebenslauf eine Liste jener Vorfälle
zusammengestellt wird,
die 'symptomatische' Bedeutung haben oder hätten haben
können. (...) Wie ich
glaube, treffen die meisten in diesen Fallgeschichten enthaltenen
Angaben im
großen und ganzen zu; andererseits ist es ebenso richtig,
daß der Lebenslauf
fast eines jeden Menschen genügend ehrenrührige
Tatsachen hergäbe, um die
fallgeschichtliche Rechtfertigung für eine Hospitalisierung zu
liefern.“(E.GoFrankfurt/Mainan,
Asyle, aaO 154, 157) Was bei Habermas noch idealisiert als
Repressionsfreiheit
in der Arzt-Patient-Beziehung (aaO 306) auftritt, um die Vergangenheit
zu
begreifen im Hegelschen Sinn, sieht im Irrenhaus so aus,
„daß der Patient,
falls diese ihn betreffenden Pakten (seiner Fallgeschichte, M.L.) wahr
sind,
gewiß nicht vom üblichen kulturellen Zwang, sie zu
verheimlichen, befreit ist
und daß er sich vielleicht umso stärker bedroht
fühlt, als er weiß, daß sie
ordentlich gesammelt vorliegen und er keinerlei Einfluß
darauf hat, wem sie zur
Kenntnis kommen.“(GoFrankfurt/Mainan, aaO 157) „Bei
der Aufnahme und bei
diagnostischen Sitzungen werden ihm Fragen gestellt, auf die er falsche
Antworten geben muß, wenn er seine Selbstachtung nicht
verlieren will, worauf
ihm die richtige Antwort entgegengehalten wird.“(aaO 160)
Mittels Informationen
über seine Vergangenheit wird das eigene Bild eines Patienten
von sich ständig
entwertet. Das angeblich 'falsche'
Idantitätsbewußtsein soll der Realität
angepaßt werden. „Diese verbalen Auf- und
Abwertungen des Selbstbildes finden
vor dem Hintergrunde einer ebenso gefährlich schwankenden
institutionellen
Basis statt. Entgegen der allgemeinen Auffassung gewährleistet
das
'Stationssystem' ein erhebliches Maß an interner sozialer
Mobilität innerhalb
der Anstalt, besonders im ersten Jahr des Aufenthalts.“(aaO
160) „Die
strafweise Versetzung eines Patienten auf eine schlechtere
Station wird dargestellt als
Überweisung auf eine Station, deren Verhältnisse ihm
angemessen sind“. (aaO
362) „Durch diese Maßnahmen kann der Patient einer
Rückkopplung seiner eigenen
Meinung über sich unterstellt werden: je mehr er sich zu ihr
stellt, umso
stärkere Repression droht ihm durch Strafversetzung und
direkte kommunikative Demütigung.
Je mehr er sich mit der Meinung der Klinik über ihn
identifiziert und seine
'Identität-für-sich' aufgeben lernt, desto
angenehmere Behandlung erfährt er.
„Vom Patienten wird 'Einsicht' verlangt, und man erwartet,
daß er sich die
Meinung der Klinik über sich selbst zu eigen macht oder
wenigstens so tut als
ob.“(aaO 153) Durch die ständig fluktuierende
Identität, die so entsteht, lernt
der Patient, „daß man ein akzeptables Selbstbild
als etwas außerhalb seiner
selbst Stehendes ansehen kann, welches sich geschwind und ohne weiteres
aufbauen, verlieren und wieder aufrichten läßt. Und
er erfährt, daß es möglich
ist, einen Standpunkt einzunehmen – und mithin ein Selbst zu
entwickeln –
unabhängig davon, was die Klinik einem geben oder verenthalten
kann.“(aaO 163)
Und so vollzieht sich an ihm sehr wohl Heilung - Heilung aber in etwas
anderer
Weise, als es unter den hiesigen Gesellschaftsverhältnissen
gut ist und
gewollt. „Die Situation in der Heilanstalt erzeugt also
anscheinend eine Art
kosmopolitische Weisheit, eine Apathie hinsichtlich des eigenen
bürgerlichen
Status. Unter diesen unernsten und doch seltsam übertrieben
moralischen
Bedingungen wird das Aufbauen und Zerstören des Selbst zu
einem schamlosen
Spiel, und wenn der Patient lernt, diesen Prozeß als ein
Spiel zu betrachten,
dann leistet dies einer gewissen Demoralisierung Vorschub, denn es
handelt sich
um ein sehr elementares Spiel. (...) '; Sobald er (der Patient)
erkennt, was es
heißt, wenn die Gesellschaft einem ein lebensfähiges
Selbst abspricht, verliert
diese bedrohliche Definition - die Drohung, die einen Menschen auf das
Selbst
verpflichtet, das die Gesellschaft ihm zudiktiert - ihre Wirkung. Der
Patient
gewinnt neuen Boden unter den Füßen, sobald er die
Erfahrung;; macht, daß es
sich mit einem Verhalten, welches die Gesellschaft als
selbstzerstörerisch
ansieht, gut leben
läßt.“(GoFrankfurt/Mainan, aaO 163)
Aufarbeitung der Vergangenheit
gewinnt also im Irrenhaus die durch und durch befreiende Funktion,
daß der
Patient lernt, sich nichts mehr aus ihr zu machen. Er ist frei geworden
von
moralischen Definitionen.
Ich will die Bedeutung der
Vergangenheit für die Gegenwart nicht verharmlosen. Denn
politisch wäre gerade
eine Aufarbeitung der Vergangenheit notwendig. Betrachtet man das
Nachkriegsdeutschland bis heute, so zeigt sich, daß hier
gerade auf einer
gesellschaftspsychologischen Ebene Reflexion über Auschwitz
unterlassen wurde.
Deshalb ist der Faschismus in der BRD auch das geblieben, was er war.
Die den
Faschismus stützenden, faschistoiden Individuen zeichnen sich
in ihrer
Charakterstruktur aus durch ein „schwaches Ich und
bedürfen darum als Ersatz
der Identifikation mit großen Kollektiven und der Deckung
durch diese.“(Adorno,
Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Erziehung zur
Mündigkeit,
Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1970, 17) Die Ichschwäche der
autoritären
Charakterstruktur führte zum kollektiven Narzißmus,
der Identifikation mit dem
Volksganzen, dem der Führer voranstand. Dieser Herdentrieb,
der sich bei
Rotznasen reproduziert, die nur im Pöbel stark sind, stand mit
Ende des 3.
Reiches vor einer harten Krise. „Dieser kollektive
Narzißmus ist durch den
Zusammenbruch des Hitlerregimes aufs schwerste geschädigt
worden. Seine
Schädigung ereignete sich im Bereich der bloßen
Tatsächlichkeit, ohne daß die
Einzelnen sie sich bewußt gemacht hätten und dadurch
mit ihr fertig geworden
wären. Das ist der sozialpsychologisch zutreffende Sinn der
Rede von der
unbewältigten Vergangenheit. Auch jene Panik blieb aus, die
nach Freuds Theorie
aus 'Mas-senpsychologie und Ich-Analyse' dort sich einstellt, wo
kollektive
Identifikationen zerbrechen. Schlägt man die Weisung des
großen Psychologen
nicht in den Wind, so läßt das nur eine Folgerung
offen: daß insgeheim,
unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene
Identifikationen und der
kollektive Narzißmus gar nicht zerstört wurden,
sondern fortbestehen. (...)
Sozialpsychologisch wäre daran die Erwartung
anzuschließen, daß der beschädigte
kollektive Narzißmus darauf lauert, repariert zu werden, und
nach allem greift,
was zunächst im Bewußtsein die Vergangenheit in
Übereinstimmung mit den
narzißstischen Wünschen bringt, dann aber auch noch
die Realität so modelt, daß
jene Schädigung ungeschehen gemacht wird.“(Adorno ,
aaO 19f) Eine Maßnahme
hierzu ist der zwanghafte Verlust von Geschichtsbewußtsein -
mitbedingt
allerdings durch die in Konjunkturzyklen laufende Wirtschaft und ihr
Tauschgesetz, bei dem aufgehende Rechnungen in die Akten kommen und
vergessen
werden können. Kennzeichnete den Feudalismus das
Traditionsbewußtsein, so
überlebt es sich im Rationalismus der bürgerlichen
Gesellschaft, in der man
quitt ist und das Festhalten an Erinnerung schon etwas depressives an
sich hat.
„Erinnerung, Zeit, Gedächtnis (werden) von der
fortschreitenden bürgerlichen
Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert
„(Adorno, aaO
13). „Noch die psychologischen Mechanismen in der Abwehr
peinlicher und
unangenehmer Erinnerungen dienen höchst
realitätsgerechten Zwecken. (...) Die
Tilgung der Erinnerung ist eher eine Leistung des allzu wachen
Bewußtseins als
dessen Schwäche gegenüber der Übermacht
unbewußter Prozesse. Im Vergessen des
kaum Vergangenen klingt die Wut mit, daß man, was alle
wissen, sich selbst
ausreden muß, ehe man es den anderen ausreden
kann.“(Adorno, aaO 14)
Zum kollektiven Narzismus der
Faschistoiden gehört als Konstituens der Haß auf
alles, was nicht an der
heimlichen Verschworenheit der Ich-Schwächlinge teilnimmt, was
nicht sich
besinnungslos und blind dem Kollektiv ausliefert. Diese Wut wird an
allen
Abnormen ausgelassen. Meist werden sie noch zu
Sündenböcken des
wirtschaftlichen Mißerfolgs gemacht, unter Anstachelung der
insgeheim und offen
Herrschenden (die an ihm Schuld haben); doch ist diese Beschuldigung
bei den
Kranken des Kollektivs nicht gegeben. Sie stellen nur lebensunwertes
Leben dar,
dem der Gnadentod gewährt werden möge - und sei es in
unserer Gesellschaft, die
nach den Vergasungsanstrengungen an den Sechsmillionen ersteinmal eine
historische Atempause braucht, auch nur der soziale Gnadentod der
Dissozialisierung. Die kollektive Aufbewahrung in diesen
Totenhäusern der noch
Lebenden ist dabei die billigste Lösung des Problems; die
somatische
Instandhaltung mit Drogen und der notdürftigsten
körperlichen Wartung erspart
jegliche Verpflichtung zu gesprächstherapeutisch angemessener
Betreuung und der
Vermittlung dessen, woran alle so kranken und wonach die Irren lechzen:
„Jeder
Mensch heute, ohne jede Ausnahme, fühlt sich zuwenig geliebt,
weil jeder
zuwenig lieben kann.“(Adorno, aaO 10l)
Bei Schizophrenen, die ein vom
gewöhnlichen Erfahrungsmodus völlig abweichendes Bild
von sich haben, müßte
eine Heilung die Zerstörung dieses Bildes erreichen. Ihr
phantasiertes Bild muß
an unsere Realität angepaßt werden. So lautet auch
eine psychiatrische
Krankdefinition auf mangelnde Realitätsanpassung.
„Unser Wahrnehmen der
'Realität' ist die perfekte Erfüllung unserer
Zivilisation. Realität
wahrzunehmen! Wann hörten die Leute auf zu fühlen,
daß das, was sie wahrnahmen,
nicht real war? (...) Ausweichen ist eine Beziehung, in der man sich
vom
ursprünglichen Selbst wegtäuscht; dann
täuscht man sich zurück, so daß es wie
Rückkehr zum Anfang aussieht. Eine doppelte Einbildung gibt
vor, keine zu
sein.“(Laing, Das Selbst und die Anderen, aaO 43f) Heilung
Schizophrener führt
dazu, daß sie eine Scharade spielen lernen. Sie lernen, so zu
tun als ob.
Vielleicht werden sie darin so geschickt, daß sie sogar sich
selbst für eine
Zeitlang bluffen können und meinen, sie seien so wie sie tun
als ob sie seien.
Sie sind dann an die Realität angepaßt, indem sie
sich in eine Phantasie - die,
seiend zu sein -hineinsteigern. „Dieser Entfremdungseffekt
ist heimtückisch.
Wir alle können unter Verlust unserer 'eigenen'
Identität leicht in soziale
Phantasiesysteme gezogen werden und bemerken es erst im
nachhinein.“(Laing, Das
Selbst und die Anderen, aaO 36) „Der Verlust eigener
Erkenntnisse und
Wertungen, den das Einnehmen einer falschen Position (einer doppelt
falschen,
weil man nicht sieht, daß sie falsch ist) mit sich bringt,
wird erst im
nachhinein 'realisiert'. (...) Der Mensch in einer doppelt falschen
Position
fühlt 'real'; ohne sich betäubt zu 'fühlen',
wird er gerade durch dieses
'Realitäts'gefühl betäubt. Sich aus dem
falschen Realitätsgefühl aufzurütteln,
erfordert eine Entrealisierung des fälschlich für
real Gehaltenen und eine
Neurealisierung des fälschlich für irreal
Gehaltenen.“(aaO 37) Laing versteht
also unter 'Heilung' etwas anderes als die Anpassung der Abnormalen an
unsere
Realität, weil er unsere Realität für eine
Phantasie hält. Vermutlich gibt es
Leute, die nun Lust bekommen, Laing zu heilen.
Ich beschrieb die Situation der
Psychopathen als die der gesellschaftlichen Unterdrückung. Sie
teilen diese
natürlich mit anderen Gruppen. Ist ihre Krankheit vielleicht,
daß diese
Menschen unterdrückt wurden und werden? Dann bekäme
Heilung den Marschrhythnus
des „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“. Die Frage
nach ihrer Heilung präzisiert
sich hiermit zur Frage nach den Bedingungen von Emanzipation der
Unterdrückten.
- Eine, die schwerste, ist, daß die Befreiung der
Unterdrückten auch die
Befreiung der Unterdrücker von ihrer Herrschaft impliziert.
Also mit Adorno:
Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft. Und nebenbei eine
später noch
eingehend beschriebene Kritik an Laing: Es gibt keine 'eigene
Identität', die
nicht Produkt des sozialen Identifiziertwerdens ist. Das wahre Selbst
ist eine
Fiktion. Es wird definiert „durch die in einem sozialen
System für dessen
Mitglieder verbindlichen Gegebenheiten.“(E.
GoFrankfurt/Mainan, Asyle aaO 166)
Diese Gegebenheiten aber müssen mit dem utopischen Licht der
Erlösung als
wegnehmbare Gegebenheiten erhellt werden. Laing ist es zudem auch klar,
daß es
keine eigene Identität gibt. „Die eigene
Identität eines Menschen läßt sich
nicht vollkommen von seiner Identität-für-Andere
abstrahieren.“(Das Selbst und
die Anderen, aaO 89)
Psychopathen sind
Unterdrückte,
neben vielen anderen. „Die Unterdrückten leiden an
dem Zwiespalt, der sich in
ihrem innersten Sein breit gemacht hat. Sie entdecken, daß
sie ohne Freiheit
nicht echt existieren können. Aber indem sie sich nach echter
Existenz sehnen,
fürchten sie sie. Sie sind zu ein und derselben Zeit sie
selbst und der
Unterdrücker, dessen Bewußtsein sie internalisiert
haben.“(Paulo Freire,
Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek (Rowohlt) 1973,
35) Unsere Vorstellungen
von Wirklichkeit haben die Psychopathen verinnerlicht und glauben
darum, wenn
sie die Welt anders sehen, müssen sie verrückt sein.
Von ihrer Unterdrückung
sie zu befreien bedeutet hieraufhin, ihnen klarzumachen, daß
sie nicht verrückt
sind, wenn sie die Welt anders sehen, daß sie ihrer eigenen
Erfahrung vertrauen
lernen sollen, und nicht unserer Nicht-Erfahrung.
Seiner eigenen Erfahrung trauen
ist ein Symptom, daß man als Ichstärke zu gewahren
hat. Der Faschist zeichnet
sich durch die Unfähigkeit zur eigenen Erfahrung aus.
Watzlawick beschreibt
einen Versuch von Asch, der Gruppeneinfluß auf Individuuen,
untersucht. Von den
insgesamt pro Versuch je 8 Studenten waren 7 heimlich ohne Wissen des
achten,
der wirklichen Versuchsperson, aufgeklärte Mitspieler des
Experiments. Allen
wurden verschiedene Tafeln Parallelen gezeigt, und sie hatten zu sagen,
welche
Tafeln gleichlange Parallelen zeigten. Die 7 Eingeweihten gaben
einstimmig
immer dieselbe falsche Antwort und der achte Proband, der immer als
vorletzter
antworten mußte, paßte sich den falschen Antworten
der anderen an. „Asch fand,
daß unter diesen Umständen nur 25 Prozent der
Versuchspersonen ihren eigenen
Wahrnehmungen trauten, während 75 Prozent sich in einem
kleineren oder größeren
Grad der Mehrheitsmeinung unterwarfen, einige blindlings, andere mit
beträchtlichen Angstgefühlen.“(Watzlawick,
aaO 21) Adorno sagt, es habe nicht
viel Sinn, den faschistischen Antisemitismus mit
Aufklärungsarbeit und Verweise
auf Fakten über Juden zu bekämpfen,
„während der genuine Antisemit vielmehr
dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine
Erfahrung machen kann, daß er
sich nicht ansprechen läßt.“(Adorno, Was
bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit, aaO, 26) Die beiden obigen Quellen sprechen nicht
gegeneinander,
da Arschs Experiment wohl kaum in einer nichtfaschistoiden Umgebung
gemacht
wurde und die faschistischen Züge der autoritären
Charakterstruktur auch in
bisher noch nicht direkt faschistischen Gesellschaften (England ?)
vertreten
sind, ohne weniger gefährlich zu sein.
Psychopathen ist Mut zur
Eigenerfahrung zu machen. Das kann viel tiefer in Psychosen
hineinführen als
jede an dere Heilmethode. „Einige als schizophren
etikettierte Leute zeigen
(nicht alle, nicht unbedingt) in Worten, Gesten und Aktionen
(linguistisch,
paralinguistisch und kinetisch) ein Verhalten, das
ungewöhnlich ist. Manchmal
drückt (nicht immer, nicht unbedingt) dieses
ungewöhnliche Verhalten (das sich
uns, den anderen, wie gesagt, optisch und akustisch manifestiert)
absichtlich
oder unabsichtlich ungewöhnliche Erfahrungen des Betroffenen
aus. Manchmal
scheinen (nicht immer, nicht unbedingt) diese ungewöhnlichen
Erfahrungen, die
sich durch ungewöhnliches Verhalten ausdrücken, Teile
einer potentiell
geordneten, natürlichen Sequenz von Erfahrungen zu sein. Diese
Sequenz kann nur
sehr selten zum Vorschein kommen, weil wird so stark
beschäftigt sind mit der
'Behandlung' des Patienten durch Chemotherapie, Schocktherapie,
Milieutherapie,
Gruppentherapie, Psychotherapie, Familientherapie - jetzt manchmal am
allerbesten und fortschrittlichsten auch durch alles zusammen. (...)
Die
'innere' Welt (die ungewöhnliche Erfahrung der Schizophrenen;
M.L.) braucht uns
nicht unbewußt zu sein. Meistens realisieren wir nicht ihre
Existenz. Doch
viele Leute dringen in sie ein - unglücklicherweise ohne
Führer und unter
Verwechselung von äußeren mit inneren und inneren
mit äußeren Realitäten. Im
allgemeinen verlieren dann diese Leute die Fähigkeit, bei
normalen Beziehungen
angemessen zu funktionieren.“(Laing, Phänomenologie
der Erfahrung, aaO 1l2f) In
diese innere Welt nun einzudringen mit dem Mut zur Reise ins unbekannte
Land
ist der psychotische Prozeß. Man kann ihn
unterdrücken, indem man dem
Losgereisten noch mehr Angst macht, als er ohnehin schon hat vor dem
verbotenen
Garten.
Man kann ihn auch begleiten, ihm
Mut zur aberteuerlichen Reise machen und die institutionellen
Maßnahmen
treffen, damit diese Reise glückt. „Diese Reise wird
erfahren als ein Schreiten
ins 'in', als ein Schreiten rückwärts durchs eigene
Leben, in und zurück und
durch und hinein in die Erfahrung der Menschheit, vielleicht weiter ins
Wesen
der Tiere, Pflanzen und Mineralien.“(Laing aaO 115)
Laing schlägt anstelle des
üblichen Degradierungszeremoniells der Psychiatrie ein
Initiationszeremoniell
vor, ähnlich wie bei denen, die erstmals kiffen, fixen oder in
früheren Zeiten
hochzeitsnächtigen. „In der Psychiatrie
würde das heißen: EX-Patienten helfen
zukünftigen Patienten, verrückt zu werden. Erreicht
wird dadurch eine Reise
I
von
außen nach innen,
II
vom
Leben in eine Art von Tod
III
vom
Vorgehen zum Zurückgehen,
IV
von
zeitlicher Bewegung zu zeitlichem Stillstand,
V
von
irdischer Zeit in äonische Zeit,
VI
vom Ego zum
Selbst,
VII
von außerhalb (postnatal) zurück in
den Schoß aller Dinge (pränatal)
und danach eine Rückreise
1.von innen nach außen
2. vom Tod ins Leben
3. von einer
Rückwärtsbewegung wieder zu einer
Vorwärtsbewegung,
4. von der Unsterblichkeit
zurück zur Sterblichkeit,
5. von der Ewigkeit zurück
zur Zeitlichkeit,
6. vom Selbst zu einem neuen Ego,
7. von
kosmischer Fötalisierung zur existentiellen
Wiedergeburt.“(Laing aaO 117)
Damit ist der natürliche
Heilprozeß eines Menschen, der von dieser Gesellschaft krank
gemacht wurde,
beschrieben. Es ist auch ein Befreiungsprozeß der
Unterdrückten, von deren
verinnerlichtem Bewußtsein ihrer Unterdrücker.
„So ist die Befreiung ein
Geburtsvorgang, und zwar ein schmerzvoller. Der Mensch, der zur Welt
kommt, ist
ein neuer Mensch, der nur lebensfähig ist, sofern der
Widerspruch
Unterdrücker-Unterdrückter von der Humanisierung
aller Menschen überholt
wird.“(P.Freire, aaO 36) Wie alle Befreiung
Unterdrückter kann dieser
Geburtsvorgang nur das Werk der Unterdrückten selbst sein.
Um ihre Menschlichkeit
wiederzugewinnen, müssen sie aufhören, Dinge zu sein,
und als Menschen kämpfen.
Das ist eine radikale Forderung. Sie können nicht als Objekte
in den Kampf gehen,
um später Menschen zu werden. Der Kämpft beginnt mit
der Erkenntnis der
Menschen, daß man sie vernichtet hat.“(Freire, aaO
54) Ver-nichtet! Unter
diesem Aspekt entpuppt sich die Psychose Schizophrener als Anfang eines
Erkenntnisprozesses ihrer Situation in der für Menschen
intensivst möglichen
Form. Noch fehlt ihnen zumeist heute der Blick für den
Zusammenhang ihrer
psychotischen Form von Erkenntnis mit der
kulturell-sozial-ökonomischen
Situation ihrer selbst und der näheren
Lebensverhältnisse (meist Familie), die
der direkte Grund für ihr Aussteigen aus einer manifest
unerträglichen
Situation ist.
Das einzig noch zu
rechtfertigende Verhältnis des Arztes zum Patienten ist das
von Solidarität,
Vertrauen und Liebe. Hinzu kommt noch die Kategorie Hoffnung, um die
Trias des
Korintherbriefs vollzumachen, Kap. 13,13. Ohne Zukunft geht ein Mensch
seelisch
kaputt. Er braucht Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und
zwar ständig
mehr, als er unmittelbar nutzen kann. 'Hintergrundserfüllung'
nennt dies Arnold
Gehlen. „Das Bewusstsein, dass eine Befriedigung eines
Bedürfnisses jederzeit
möglich ist (…) nennen wir
Hintergrunderfüllung, wobei im Grenzfalle das vorausgesetzte
Bedürfnis gar nicht mehr in handlungsbesetzende
Aktualität übergeht.“(Urmensch
und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn
(Athenäum) 1956,
50). Heidegger putzt es auch sehr fein heraus als Sorge: „das
Dasein ist ihm
selbst in seinem Sein je schon vorweg.“(Sein und Zeit aaO
19l) Solidarität und
Vertrauen auf den Patienten führt in der Kategorie Zukunft zur
Hoffnung. Statt
den Patienten unter dem Aspekt seiner Gewordenheit zu sehen (was die
retrospektive Analyse unter dem Ziel der
Vergangenheitsbewältigung exerziert),
muß er - wie überhaupt jeder Mensch, den man liebt -
unter dem Aspekt seiner
Möglichkeiten gesehen werden. Brechts Keunergeschichte von der
Liebe meint
gerade dies. Wer einen geliebten Menschen so anspricht, daß
diesem in seiner
Selbstdefinition fast jede Möglichkeit offengelassen wird, der
gibt ihm sowohl
Anregung wie objektive Möglichkeit, das zu werden, was er noch
werden kann.
Statt Definitionen vollzieht der hoffende Mensch Infinitionen, um es
mit
Moltmann zu sagen. Liebe kann anstecken. Lieben kann nur der Geliebte,
was beim
Kind deutlich wird. „Für Verstehen könnte
man Liebe sagen. Aber kein Wort wurde
mehr prostituiert. (...) Wenn man ihn nicht verstehen kann, ist man
kaum in der
Lage anzufangen, ihn auf irgendeine Weise effektiv zu lieben. Uns wird
befohlen, unseren Nächsten zu lieben. Man kann aber nicht
diesen bestimmten
Nächsten um seiner selbst willen lieben, ohne zu wissen, wer
er ist. Man kann
nur seine abstrakte Menschlichkeit lieben. Man kann kein Konglomerat
von
schizophrenen 'Symptomen' lieben. Keiner hat Schizophrenie, wie man
eine
Erkältung hat. Der Patient hat keine Schizophrenie 'bekommen'.
Er ist schizophren.
Der Schizophrene muß kennengelernt werden, ohne
zerstört zu werden. Er wird
entdecken müssen, daß das möglich ist. Der
Haß des Therapeuten wie auch seine
Liebe sind darum im höchsten Grad wichtig.“(Laing,
Das geteilte Selbst, aaO 41)
Vergleicht man Laings erste Buch
(Das geteilte Selbst) von den hier zitierten mit seinen
späteren Werken, so
fällt auf, daß er früher noch viel
stärker beschäftigt war damit, den
Unterschied von Gesund und Krank logisch und psychologisch zu begreifen
und das
sog. Kranke als etwas nur strukturell anderes zu erklären als
das Gesunde. Für
die späteren Arbeiten war es bei Laing
selbstverständlich, daß Schizophrenie
keine Krankheit mehr war und nicht einmal mehr Leiden macht als
Gesundheit,
wenn sie nicht gesellschaftlich so verdammt wäre, er ging aber
wesentlich
weiter als früher, indem er Schizophrenie als eine der
wichtigsten Formen von
Gesundung von gesellschaftlicher Verstümmelung begreift. Unter
dieser Sicht
wird die relative Milde Laings im Frühwerk gegenüber
den Kränkungen der
Gesellschaft verständlich. Immerhin löst er aber
nichtsdestoweniger das
Versprechen einer existentiellen Studie über geistige
Gesundheit und Wahnsinn
ein. Diese Erkenntnisstufe ist für jede gesellschaftliche
Erkenntnis
unentbehrlich, um nicht vom Regen der bürgerlichen
Erfahrungsverstümmelung in
die Traufe des gleichermaßen zur Ideologie bar jeder
Erfahrung verspießten
Linksertums zu geraten, daß aus reinem Marxorthodoxismus noch
wirklich glaubt,
es gäbe in der BRD ein Proletariat und dies stünde
sogar noch auf Seiten
linksradikaler studentischer Intellektueller.
Gesundheit und Krankheit bemessen
sich nach der Größen der Diskrepanz zwischen dem
Verständnis des einen Menschen
von sich und dem anderen und dem Verständnis des anderen
Menschen von sich und
vom anderen. Wenn das Sein-für-sich-selbst und das
Sein-für-den-anderen bei beiden
mit dem jeweiligen Entsprechungspart des anderen zur Deckung gelangt,
werden
sich beide für gesund halten. „Wenn jedoch besonders
fundamentale Diskrepanzen
übrigbleiben, nachdem alle Versuche, sie zu beheben,
fehlgeschlagen sind, dann
gibt es keine andere Alternative als die, daß einer von uns
geisteskrank sein
muß. (...) Ich schlage darum vor, daß geistige
Gesundheit oder Psychose
gemessen wird an dem Grad der Konvergenz oder Divergenz zwischen zwei
Personen,
von denen der eine nach allgemeinem Konsensus als geistig gesund
gilt.“(Laing,
Das geteilte Selbst, aaO 43f) Dabei hat Laing zum Glück nicht
gesagt, wer von
beiden gesund und wer krank ist. Weniger abstrakt präzisiert
sich das am Sein
oder Nichtsein von Liebe. „Manche Leute sind viel
empfindlicher als andere,
wenn es darum geht, daß sie nicht als menschliche Wesen
anerkannt werden. Wenn
einer in dieser Hinsicht sehr empfindlich ist, kann es ihm leicht
passieren,
daß er als schizophren diagnostiziert wird. Freud sagte von
Hysterikern, was
Fromm-Reichmann dann später auch von Schizophrenen sagte:
daß ihr Bedürfnis,
Liebe zu geben und zu empfangen, größer sei als das
der meisten Menschen. Man
könnte umgekehrt sagen: Wenn dein Bedürfnis, Liebe zu
geben und zu empfangen,
(was immer 'Liebe' sein mag), zu groß ist, kann er dir sehr
leicht passieren,
als schizophren diagnostiziert zu werden.“(Laing, Das Selbst
und die Anderen,
aaO 113) „Vor den Begriffen des Gesunden und Kranken, ja den
mit ihnen
verschwisterten des Vernünftigen und Unvernünftigen
selber vermag Dialektik
nicht Halt zu machen. Hat sie einmal das herrschende Allgemeine und
seine
Proportionen als krank - und im wörtlichsten Sinn, gezeichnet
mit der Paranoia,
der 'pathischen Projektion' - erkannt, so wird ihr zur Zelle der
Genesung
einzig, was nach dem Maß jener Ordnung selber als krank,
abwegig, paranoid - ja
als 'verrückt' sich darstellt, und es gilt heute wie im
Mittelalter, daß einzig
die Narren der Herrschaft die Wahrheit sagen. Unter diesem Aspekt
wäre es die
Pflicht des Dialektikers, solcher Wahrheit des Narren zum
Bewußtsein ihrer
eigenen Vernunft zu verhelfen, ohne welches sie freilich untergehen
müßte im
Abgrund jener Krankheit, welche der gesunde Menschenverstand der andern
mitleidslos diktiert.“(Adorno, Minima Moralia aaO 89)
Günther Rohrmoser (Das
Elend der kritischen Theorie, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse,
Jürgen
Habermas, Freiburg im Breisgau (Rombach) 1970) unterstellt Adorno, in
seiner
Negativen Dialektik als Ausweg aus der aporetischen Gesellschaft als
einzige
noch mögliche Praxis Schizophrenie zu predigen. Er will damit
als bekennender
Rechtskonservativer Adorno schmähen. Indes tut er ihm damit
mehr Ehre an als er
ahnte.
Laing beschreibt das Krankhafte
der Schizophrenie, dh das, was sie von der gesellschaftlich
herrschenden krankhaften
normalen Gesundheit unterscheidet, als Ontologische Unsicherheit. Er
vergleicht: „Das Individuum kann also sein eigenes Sein als
real, lebendig,
ganz erfahren; als, unter normalen Bedingungen, so sehr verschieden vom
Rest
der Welt, daß seine Identität und Autonomie niemals
in Frage gestellt werden;
(...) Das kann aber auch nicht so sein. Das Individuum mag sich unter
normalen
Lebensbedingungen eher irreal als real fühlen;
buchstäblich eher tot als lebend
vom Rest der Welt unbestimmt differenziert, so daß seine
Identität und
Autonomie immer in Frage gestellt sind. Vielleicht fehlt ihm die
Erfahrung der
eigenen temporalen Kontinuität. Vielleicht besitzt es kein
sich über alles
hinwegsetzendes Gefühl personaler Konsistenz oder
Kohäsion. Vielleicht fühlt es
sich eher körperlos als substantiell und außerstande
anzunehmen, daß das Zeug,
aus dem es gemacht ist, wahr, gut und wertvoll ist. Und es kann sein
Selbst als
teilweise getrennt von seinem Körper
empfinden.“(Laing, Das geteilte Selbst,
aaO 50f) Wer sich so wenig lebendig, real, mit sich identisch, in der
Zeit,
verkörpert und akzeptabel empfindet, muß
natürlich sich von äußeren mnd inneren
Einflüssen (körperlichen Einflüssen)
besonders stark bedroht fühlen. Fast
alles, was für uns ontologisch Sichere notwendige
Lebenssituation ist, bedeutet
für einen ontologisch Unsicheren eine Bedrohung. Gegen diese
Bedrohungen muß er
natürlich eine Schutzstrategie aushecken, um ihr standhalten
zu können.
Zunächst aber eine Reihe von Bedrohungen, die für uns
andere lebenswichtig
sind. Sie werden vor allem in den Ängsten vor
Verschlungenwerden, Eindringen
der Realität und Dingsein offenbar.
Angst vor Verschlungenwerden
durch andere Menschen oder verwirrende Verhältnisse ist Angst
vor dem Verlust
der eigenen Identität. Wer gefressen wird, oder aufgesaugt,
wer in ein Loch
stürzt, oder im Wasser ertrinkt - verliert seine
Identität. Denn im Magen, in
der Möse, unter Wasser, in einer Masse ist man nicht mehr man
selbst. Und je
unsicherer die Identität sowieso schon ist, desto
beängstigender wirkt jede
kleinste Vereinnahmung. Desto stärker versucht der, der Angst
vor dem
Untergehen hat, sich an alles panisch zu klammern, was ihn vor den
verschlingenden Schlünden retten kann. Beziehungen
können so sein, daß man
nicht mehr so sein kann, wie man meint, daß man sei. Andere
verändern notwendig
immer ein Stück weit die eigenen Erfahrungen seiner selbst und
somit die
Identität. Also bedeuten andere Menschen eine Gefahr
für das Ichsein.
Strategie? Man meidet sie. Man isoliert sich. Man versteckt sich hinter
Verhaltensmasken. Man flieht in einen Bereich, der keinem anderen
Menschen
zugänglich ist. Das kann der eigene Körper sein. Aber
ihn kann man noch
berühren und verletzen. Also flieht man noch eine Stufe tiefer
in sich hinein.
Verlegt die Ichgrenze zum Nicht-Ich hin immer tiefer in sich hinein.
Will
Selbst sein und scheidet aus sich alles aus, was die anderen in einem
waren.
Man betrachtet alle Verhaltensweisen, die man von anderen angenommen
hat (und
das sind leider alle) als falsches Selbst, als fremde Personen im
eigenen Sein,
und distanziert sich von ihnen. Das Selbst wird so ein immer kleineres
Refugium
und verarmt bis zum Vakuum. Aber wenigstens dieses Vakuum bin Ich. Ich
bin ein
Vakuum. Ich bin ein Nichts. Ich bin nicht.
„Die Neurose ist die
Methode, dem
Nichtsein auszuweichen, durch Ausweichen vor dem Sein. Im neurotischen
Zustand
fehlt die Selbstbejahung nicht, sie kann sogar sehr stark und
überbetont sein
Aber das Selbst, das bejaht wird, ist ein reduziertes
Selbst.“(Paul Tillich,
Der Mut zum Sein, Stuttgart 68, 70) „Ein starkes
Gefühl eigener autonomer
Identität ist nötig, damit man als ein menschliches
Sein zu dem anderen in
Beziehung sein kann. Sonst bedroht jede Beziehung das Individuum mit
dem
Verlust der Identität. (...) Hierbei fürchtet das
Individuum Bezogenheit als
solche mit allem und jedem oder sogar mit sich selbst, weil die
Unsicherheit
über die Stabilität seiner Autonomie es in jeder
Beziehung ständig den Verlust
seiner Identität und Autonomie befürchten
läßt. (...) Man vermutet das Risiko
des Verschlungenwerdens im Verstandenwerden (und so im Begriffen- und
Bejahtwerden), im Geliebtwerden oder einfach im
Gesehenwerden.“(Laing, Das
geteilte Selbst, aaO 53) Die Tragik der Strategie liegt darin,
daß ein solcher
Mensch von einem falschen Identitätsverständnis
ausgeht, indem er meint, sein
Ich konstituiere sich durch all das, was es nicht ist. Seine
Identität wird
markant durch den stroffen Gegensatz zu allem anderen. Darin liegt ein
ontologischer Irrtum. Die Angst gründet sich auf die
Erfahrung, daß man sich
gegenüber anderen nicht so behaupten kann, wie man zu sein
vermeint. Der
grundlegende Wunsch wird in keiner Beziehung zu etwas
Nicht-ich-seiendem
erfüllt: daß man mich sein läßt.
Eine Aktion hat wesenhaft schon etwas
entäußerndes in sich. Jede Aktion offenbart das
Selbst. Sie hebt das Sein auf.
Darum ist die Aktion eine Form von Selbstverlust. Wer gesehen wird, ist
verletzbar. In härtester Form dokumentieren dies die
Tarnfarben des Militärs
und dessen Nacht-und-Nebel-Aktivitäten. Die Nacht ist die
Freundin der Krieger,
dh Raubmörder. Die Sonnenbrillenmode der Jungmädchen
und die Sucht, Parties
ohne Licht zu feiern, auch beim Schmusen und Bumsen kein Licht zu
dulden, um
oft perverserweise nichtmal vom Geliebten gesehen zu werden, sind
zeitgemäßige
Konkretionen einer leichteren Form dieser Angst. Leichter, weil sich
weniger
Leute dran stören. Wer verstanden wird, ist durchschaubar. Wer
durchschaubar
ist, kann kontrolliert werden. Wer kontrollierbar ist, ist
beherrschbar,
verfügbar. Autonomie eignet aber Unverfügbarkeit.
Darum muß man, um autonom und
unverfügbar zu sein, jedes Verstandenwerden vermeiden.
Menschen zu durchschauen
und hieraufhin sie unter Kontrolle zu halten ist ein unmenschliches
Verhalten.
Es wird allerdings heute unter den Bezeichnung Wissenschaft getrieben.
Alle
experimentellen Menschenversuche versuchen, Gesetze von Interaktion
aufzustellen. Ein Gesetz aber ist etwas außerhalb der
Autonomie und Identität
des individuierten Menschen stehendes. Funktionsgesetze als allgemeine
Bestimmungen können notwendig werden, einzusehen. Aber die
Identität
konstituiert sich aufgrund der Besonderheit, nicht der Allgemeinheit.
Daß jeder
Mensch ein besonderes Wesen bis zur Unvertretbarkeit ist, scheint zur
gesellschaftlichen Illusion geworden zu sein. Deshalb hat ihn die
Theologie in
ihre Gedankenwelt aufgenommen, damit er wenigstens nicht verlorengehe
als
Gedanke. Der Mensch in der Industriegesellschaft ist ersetzbar geworden
wie die
Maschinen. Auf subtilste Weise hat sich dieses Prinzip auch durch die
Familie
bis in die Liebe hinein eingeschlichen in das Leben. Je ersetzbarer die
Menschen aber geworden sind, desto stärker wird ihre
Unersetzlichkeit in den
Todesanzeigen und dem Individualismus als Sucht und Ideologie
hochgespielt.
Kontrolle ist ein gesellschaftliches Grundprinzip. Sie findet statt von
der
faschistischen Denunziation mißliebiger Nachbarn im
Hitlerreich der Deutschen
über das Gerede in den Dörfern bis zu den Spitzeleien
und Spionageaffären gegen
Linksradikale und die Russen. Eines ihrer Motive ist die Neugier, die
aus
unterdrückten Eigenerfahrungen stammt, und die Angst vor jedem
Anderssein des
Anderen, weil man nicht übervorteilt werden will, wo man seine
objektive
Nachteilssituation erfährt. Oder Kontrolle ist ganz einfach
ein Mittel der
Herrschenden, um die Beherrschten bei der Stange zu halten. Jede
falsche
Bewegung wird mit Strafen vom Terror bis zum Tod beantwortet. Wer den
wunden
Punkt eines anderen entdeckt hat, kann hineinbohren und diese
Möglichkeit als
erpresserisches Drohmittel benutzen, um ihn gefügig zu machen.
Welch ein
Wunder, wenn unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen
Verstandenwerden zu
einer Gefahr wird. Mir scheint fast, daß diese Angst
realistischer ist, als wir
wahrhaben wollen. Geliebtwerden zu fürchten allerdings mag
verwundern; ist es
doch sehnlichster Wunsch in einer Welt, in der jeder zuwenig liebt,
weil er
zuwenig Liebe geschenkt bekommt. Aber Liebe hat bei uns durchaus alles
denkbar
lieblostest an sich, wie deren Verkäuflichkeit beweist. Ich
glaube, die
Eheerfahrungen zeigen bei uns durchgängig, wie
heruntergekommen Liebe ist. Oft
wird ihre Vorgabe als Druckmittel benutzt, um Gegenliebe zu bekommen.
Liebe ist
vom Tausch verschlungen. Ich liebe, damit du mich liebst, du liebst
mich, damit
ich dich liebe. Oft führt diese Spirale der
Finalitäten zu übelsten
Verdrehungen. Man will geliebt werden. Man glaubt vom anderen dasselbe,
und
nicht selten auch zu Recht. Man kann es ihm nicht verdenken. Der andere
hat ein
Recht darauf, daß man ihn liebt. So ist Liebe durch das
Rekurrieren auf das
Recht des Tauschgesetzes zur Verpflichtung geworden. Jeder von beiden
fühlt
sich verpflichtet zu lieben und gibt es darum auch dann vor, wenn er
gar keine
Lust zu lieben hat. Ergebnis sind Szenen wie die, daß beide
nach dem
mißglückten Orgasmus zugeben, keine Lust gehabt zu
haben. Er muß nichteinmal
mißglückt sein. Fast ist unnötig zu sagen,
daß Liebe weder Recht noch
Verpflichtungen mit ihrem Wesen vereinbaren kann. Das Recht auf Liebe
erlischt
gerade in dem Augenblick, wo es eingelöst wird. Aber da unter
Liebe all der
erpresserische Tausch assoziiert wird, ist wiederum realistisch,
Geliebtwerden
zu fürchten.
Nun zur Angst vor dem Eindringen
der Realität ins Ich. „Das Individuum
fühlt, daß es leer ist wie das Vakuum.
Aber diese Leere ist es selbst. Obwohl es andererseits ersehnt,
daß diese Leere
gefüllt werde, fürchtet es die Möglichkeit,
daß dies passieren könnte, weil es
zu fühlen begonnen hat, daß alles, was es je sein
kann, dieses fürchterliche
Nichts eben dieses Vakuums ist. (...) Realität als solche,
Verschlungenwerden
oder Implosion androhend, ist der Verfolger.“(Laing, aaO 55)
Das Implodieren
der Realität ins Ich ist nichts als der beschleunigte
Sozialisationsvorgang.
Was von außen mit Schlägen an das Ich herangetragen
wurde, dringt - was nicht
mehr unmittelbar fühlbar - ins Ich ein und nistet sich dort
eindrücklichst als
handgreifliche Erfahrung ein. Benjamin hat Folter als beschleunigten
Sozialisierungsprozeß beschrieben. Von der Realität
überwältigt zu werden ist
in jedem Fall schmerzhaft. Kein Wunder also die Angst vor der
Vergewaltigung.
Nach Freud war das Realitätsprin- zip dazu da, daß
das Individuum keinen
Schaden nehmen möge. Das aber ist abstrakt gedacht. Wer heute
an der Realität
sich anpaßt, nimmt durch und durch Schaden in Hülle
und Fülle. In Hülle, denn
er merkt oft nicht einmal, worin er besteht: daß er nicht
mehr er ist, sondern
das Opfer eines brutalen Über-Ich. Ein Teil der
Realität, an die man sich
anzupassen gezwungen wird, ist gerade dies von Freud aufgekochte
Argument, es
gehe besser, wenn man gehorcht, und die Realität verschlingt
in sich bis man
nicht mehr Ich ist. Dafür ist man dann Realist und einer
Erpressung
ohnegleichen anheimgefallen. Realität heute
läßt sich einzig ertragen unter dem
phantastischen Licht ihrer Aufhebbarkeit. Hoffnung allerdings macht es
dem Ich
zwar leichter, da die Realität so grauenhaft nicht immer
bleiben wird; aber
auch schwerer, denn wo die Freiheit nahe ist, beginnen die Ketten zu
schmerzen.
Die Strategie gegen die Realität ist beim ontologisch
Unsicheren nicht von der
Validität der Hoffnung. Wie auch beim Verschlungenwerden
greift der Unsichere
zur Isolation. Er zieht sich zurück in die Welt der Phantasie.
„In der
Phantasie kann das Selbst jeder sein, überall sein, alles tun,
alles haben. Es
ist so omnipotent und vollkommen frei - in der Phantasie. (...) Je mehr
dieser
phantastischen Omnipotenz und Freiheit gefrönt wird, desto
schwächer, hilfloser
und gefesselter wird es in Wirklichkeit.“(Laing, aaO 103)
Aber die Phantasien
laugen aus. „Phantasie, ohne in gewissem Maß in der
Realität verkörpert zu sein
oder durch Injektionen der 'Realität' bereichert zu werden,
wird immer leerer
und ätherischer.“(aaO 104) Phantasie ist ihrem Wesen
nach eben nicht eine von
Realität abgespaltene Welt, sondern eine menschliche
Grundhaltung zur Realität,
nämlich deren schöpferische Umgestaltung zur Heimat.
Kreativität ohne Material
wird ihr eigener Totengräber. Der in die Monade ausgewanderte
Mensch auch.
Phantasie ist nur eine weitere Form der Isolation gegen das
Bedrohliche. Durch
die phantastische Art der Existenz verhält sich ein Mensch
natürlich auch nicht
nach Maßgabe der Anforderungen der Realität. Er ist
unangepaßt. Man nennt diese
Haltung paranoid. Angst vor dem Dingsein ist eine dritte Variante in
der
Charakteristik schizoider Angstvorstellungen. Sie ist eng verbunden mit
den
anderen Ängsten. Menschliche Beziehungen haben als
Hauptkennzeichen, daß der
eine das Subjekt des anderen ist wie jener Subjekt von diesem. Das
Verhältnis
zu Dingen aber ist das zu Objekten. Wenn ein Mensch einen anderen zum
Objekt
macht, so ist das ein verdinglichtes Verhältnis, unmenschlich
und entfremdend.
Die gewöhnlichen Beziehungen in unserer Gesellschaft sind
verdinglicht. Jeder
sieht im anderen ein Objekt für die Verwirklichung eigener
Ziele und Zwecke.
Durchgehend sind auch und gerade die unmittelbarsten Beziehungen, wie
Flirt und
Concubinat, derart vermittelt, daß sie schon ganz vom Denken
und Fühlen in
Zwecken erobert wurden. Man 'investiert' in eine Beziehung, wie ein
Geschäft.
Statt Habermas´scher symbolisch vermittelter Interaktion, der
jede Kausalität
und Finalität überschreitenden unverzweckten
Beziehung, werden Beziehungen nur
noch vom rein geschäftlichen Interesse angegangen. Wer im
Walde so für sich
hingeht, wird heute unterwegs sein zu einem Autostrich; jedenfalls
nicht ohne
Absichten. Man macht sich schon fast schuldig, wenn man einmal irgendwo
keine
Absichten hat. Eben: Habermas' symbolisch vermittelte Interaktion wird
ihre
durchgängige Vermitteltheit von Zwecken auch nicht mehr los.
Die Zweckfreiheit
gerade ist verdächtig; sie hat eine ungeheuer wichtige
Zweckbestimmung in sich.
Für Stunden steigt man aus aus dem Streß, um
möglichst rationell und schnell wieder
möglichst fit zu werden für den Alltag.
Drastisch letztlich hat sich die
Division der Gesellschaft
in
Individuen, die konkurrierend jeder seine materiellen Eigeninteressen
zu
vertreten verpflichtet sind und auf diese Weise jede wahre
Individuation umgehen
gelernt haben, auch aufs Freuds intrapyschische Monade
übertragen. Jeder
braucht den anderen als libinidös besetzbares Trieb-Objekt.
Diese Ideologie
stammt aus dem Ausverkauf der
Liebe
durch deren Verfall an die Verkäuflichkeit. Die Nutte ist
freilich gerade das
Modell für Freuds Sexualtheorie. In derart
durchgängig zweckrational
vermittelten Verhältnissen und beim Zerfall des Individuums in
ein Konglumerat
von Rollenspielpositionen ist wahrlich jeder Mensch des anderen
Kommunikationsobjekt. Sich zu fürchten vor dem Zergehen des
Anerkanntwerdens
als Subjekt, indem
man als
Objekt behandelt wird, scheint mir nur angemessen an die
Realität zu sein; auch
hier fällt der größere Realismus der
schizoiden Ängste gegenüber dem
Normalempfinden auf. Diese Ängste sind Offenbarungen der
Realität. Es muß in
einem sprachlichen Vermittlungsprozess immer
etwas
übertrieben werden, um den Erfahrungsverlust, der beim
Umsetzen von analoger in
digitale Kommunikation entsteht, auszugleichen. Übertreibung
ist in dieser
Funktion ein Element von Wahrheit. Wir würden
Depersonalisationsangst bei
Schizophrenen vermutlich als übertrieben bezeichnen. Aber: in
ihrer
Übertriebenheit gerade haben sie den Offenbarungscharakter
für das Leben einer
Gesellschaft unter ihrer allgemeinen Bewußtseinslage. Sie
vertreten all das vom
öffentlichen Text verheimlichte über das Leben einer
Gesellschaft. Ihre
Wahrheit ist so empörend, daß man sie für
unwahr erklären muß, um sich ihr
entziehen zu können.
„Depersonalisation ist
eine
Technik, die überall dann als Mittel zur Behandlung eines
anderen verwendet
wird, wenn dieser langweilig oder zu störend wird. (...) Wenn
man den anderen
als frei Handelnden erkennt, setzt man sich der Möglichkeit
aus, sich als Objekt
von dessen Erfahrung zu erfahren und so dem Gefühl, der
eigenen Subjektivität
beraubt zu werden.“(Laing, Das geteilte Selbst, aaO 56f)
Strategisch verhält
sich der ontologisch Unsichere dazu, indem er dem verdinglichenden
Verhalten
des anderen, seinem tötenden Blick zuvorkommt und sich selbst
zum Ding macht.
Ein Ding hat zu anderen Existenzen ein dingliches Verhältnis;
im Dingbereich
gibt es nichts Nichtdingliches mehr, darum sind auch die anderen
Menschen
nichts als dinglich statt personhaft. Wenn der andere aber eine
Dingbarkeit in
meinen Augen geworden ist, so muß ich nicht mehr
fürchten, von ihm verdinglicht
zu werden. Wenn ich ihn für irreal halte, für eine
Fiktion, eine Phantasie, so
kann er mir nichts mehr anhaben. Gegen die eigene Depersonalisation
durch
andere versucht der ontologisch Unsichere, diese präventiv zu
depersonalisieren
und sich selbst auch, denn dann war er es, der die Depersonalisation
inszeniert
hat. Lieber tötet noch er selbst sich, als sich töten
zu lassen von den
anderen. Diese panische Flucht in den Tod ist politisch an der Parole
„Lieber
tot als rot“ des fanatischen Faschisten zu studieren, der
verbal immer zum
äußersten bereit ist und das schon seit seiner
Kindheit in der Hitlerjugend.
Manch militärischer Selbstmord in Preußen war denn
auch zur Vermeidung der
sicheren öffentlichen Exekution inszeniert, als Ehrentod in
heldisch-hybriden
Pathetismen schon lange vorher, fast von der Wiege an,
durchgeträumt von A - Z,
damit im Ernstfall nichts mehr schief geht, was statt Pathos zu
Peinlichkeit
führen würde. Wer depersonalisiert, kann sich keine
Beziehungen mit
beidseitigem Subjektsein und gleichgroßer Autonomie
vorstellen. Ja, wo sollte
er eine solche Vorstellung auch hernehmen? Wenn nicht aus den
literarischen
Phantasien der letzten Vertreter des Humanismus oder dem
Verhältnis von Bauer
und Bäurin, die eh schon im Aussterben begriffen sind.
Die Ängste, verschlungen,
erdrückt und versteinert zu werden, führen zu einem
Teufelskreis. „Es scheint
auch, daß die bevorzugte Angriffsmethode gegenüber
dem anderen auf dem gleichen
Prinzip basiert wie der Angriff, den man in der Beziehung des anderen
zu einem
selbst impliziert fühlt. (...) Der Prozeß involviert
einen circulus vitiosus.
Je mehr man seine eigene Autonomie und Identität durch
Aufhebung der
spezifischen menschlichen Individualität des anderen zu
erhalten versucht,
desto mehr fühlt man sich gezwungen, damit fortzufahren, da
mit jeder Leugnung
des ontologischen Status der anderen Person die eigene ontologische
Sicherheit
verringert wird. Die Bedrohung, die der andere für das Selbst
ist, wird
potenziert und muß daher um so verzweifelter negiert
werden.“(Laing, aaO 63)
Es wird noch komplexer. Denn die
Intention zur Isolation von Beziehungen mit Leuten, der
Realität und jeder
autonomen Lebensäußerung eines anderen löst
gleichzeitig schon wieder die Angst
vor ihr aus. Wie someist das paranoid erfürchtete das
unbewußt ersehnte
darstellt. Jedes Sein braucht Bestätigung, will es seiner
bewußt sein.
Bewußtsein aber ist die menschliche Form zu sein. Es
impliziert die Fähigkeit
zur Rückwendung auf sich, Re-flexion. Aber der cartesische
Schluß vom Denken
aufs Sein ist ein Trugschluß; nichts ist vermittelter als
Denken und Reflexion,
die im „cogito ergo sum“ als unmittelbares
Verhältnis zum Sein gedacht scheint.
Adam sah, daß er nackt war. Eva muß es ihm gesagt
haben.
Die Erkenntnis des eigenen
autonomen Seins, des eigenen Körpers und der
Identität ist nie unmittelbar. Es
gibt keine Identität und Selbsterfahrung, die nicht schon
vermitteltes
Erfahrenwordensein durch die anderen erfahren hat. Wenn die Mutter ihr
Embryo
nicht im Leib schon befühlt, betastet und liebkost; wenn der
Vater ihm nicht
mit seinem Schwanz klarmacht, daß es einen Unterschied
zwischen diesem und dem
Embryo selbst gibt, dann kann notwendig ein solchermaßen
unbeachtetes Kind gar
nicht auf die Idee kommen, daß es sei. Beachtetwerden ist
also die Urerfahrung,
aufgrund derer erst sich Identitätsbewußtsein
entwickeln kann. Würden Tramper
sich auf ihre Logik verlassen, so müßten sie an
bundesdeutsclren Autobahnen
bald zum Schluß kommen, sie seien nicht, weil sie nicht
wahrgenommen werden.
Das liegt aber am Unwillen der Autofahrer, andere Menschen zu sehen,
die sie
u.U. durch die Anwesenheit in ihrem Auto bedrohen könnten. Wer
von anderen also
zuwenig beachtet wurde, kann gar kein
Identitätsbewußtsein entwickeln, was aus
Achtung hervorgeht. „Wir grüßen den uns
Begegnenden, indem wir ihm Gutes
wünschen oder ihn unserer Ergebenheit versichern, oder ihn
Gott anempfehlen.
Aber wie mittelbar sind diese abgescheuerten Formeln (was ahnt man noch
in
'Heil!' von der ursprünglichen Machtverleihung!) gegen den
ewig jungen,
leiblichen Beziehungsgruß des Kaffern: 'ich sehe dich!' oder
dessen amerikanische
Variante, das lächerliche und sublime 'Rieche
mich!'.“(Martin Buber, Ich und
Du, in: Das dialogische Prinzip, Heidelberg 65, 22) Um an die eigene
Existenz
zu glauben, braucht jeder Mensch andere, die dem Selbst dessen Sein
bestätigen.
Alleinsein bedeutet unter diesen Bedingungen, die bei ontologische
unsicheren
Menschen übertrieben stark benötigt werden, die
Bedrohung, die das Nichtsein
mit sich bringt. Laing schreibt von einer Frau: „Ihre
Sehnsucht war es immer,
wichtig und bedeutsam für jemand anderen zu sein. Es
mußte immer jemand anderes
da sein. Am liebsten wollte sie geliebt und bewundert werden, aber wenn
das
nicht möglich war, bevorzugte sie es, eher gehaßt
als nicht bemerkt zu
werden.“(aaO 66) Das führte bei ihr zur Angst vor
jeder Masse in der
Öffentlichkeit. Denn in einer Masse existieren keine
Beziehungen. Man ist umso
einsamer, je mehr Masse da ist. Diese Situation wird dann absolut
unhaltbar:
aus Angst vor anderen flieht man sie; je mehr man sie flieht, desdso
unsicherer
wird man über sein Sein und desto mehr hat man Grund zur
Befürchtung, die
anderen können einen verschlingen, in einen eindringen, einen
versteinern. Die
Angst potenziert sich und gipfelt im Bewußtsein, ein Nichts
zu sein, ein Toter,
Vakuum.
Dann verhält man sich auch
wie
leblos, wird kataton. „Das Humane haftet an der Nachahmung:
ein Mensch wird zum
Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert. In
solchem
Verhalten, der Urform von Liebe, wittern die Priester der Echtheit
Spuren jener
Utopie, welche das Gefüge der Herrschaft zu
erschüttern vermöchte.“(Adorno,
Minima Moralia, aaO 204) Wer liebt, ahmt den Geliebten nach.
Pärchen zeigen oft
gleiche Rede und Gestik, der Dackel geht wie sein Herr, Anna-Magdalena
Bach
schrieb am Ende eine von Johann Sebastians Hand nicht mehr
unterscheidbare
Notation. Aber dieses Phänomen weitet sich bei dem, der sich
an sein Fitzelchen
Autonomie klammert wie einen Strohhalm, zur existentiellen Bedrohung.
„Das
Individuum kann fürchten, jemanden zu mögen, weil es
findet, daß es unter dem
Zwang steht, so zu werden wie jeder den es mag.“(Laing aaO
72)
Lieben bedeutet Gefahr; der
Geliebte dringt in das Selbst hinein und erstickt die Autonomie.
Gleichzeitig
kann, wenn man auf Gegenliebe gestoßen ist, das Geliebtwerden
die Angst vorm
Verschlungenwerden auslösen, auch die Angst vorm
Verstandenwerden, da, Liebe
ohne Verständnis unmöglich ist. Was tun: Isolation,
gegen das Geliebtwerden
vorbeugen, indem man sich selbst liebt, gegen das Verstandenwerden,
indem man
sich selbst vollständig zu verstehen und durchschauen
trachtet. „Sich selbst
vollständig verstehen (sich selbst einverleiben), ist ein
Schutz gegen das Risiko,
in den Strudel des Verständnisses gesaugt zu werden, das eine
andere Person für
einen hat. Sich selbst durch eigene Liebe konsumieren, kommt der
Möglichkeit
zuvor, von anderen konsumiert zu werden.“(Laing aaO 63) Gegen
das
Verstandenwerden schützt also Selbstbewußtheit. Ein
überdimensional
ausgebildetes Selbstbewußtsein ist zur Kontrolle des eigenen
Seins entwickelt.
Mit der eigenen Kontrolle über sich kommt man der der anderen
zuvor. Aber das
Ausmaß der Kontrolle durch die anderen wird in der Regel vom
Paranoiker doch
etwas überschätzt.
„Selbst-Bewußtheit impliziert zwei Dinge: sich
seiner selbst
bewußt sein und sich seiner als Beobachtungsobjekt eines
anderen bewußt
sein.“(Laing, Das geteilte Selbst, aaO 131) Ich habe durch
Selbstbewußtheit
also meine Wirkung auf mich selbst und auf andere unter Kontrolle. Aber
die crux
liegt darin, daß es unmöglich ist, die Wirkung auf
andere richtig abzuschätzen,
man vertut sich da absolut. Denn die Erfahrung des anderen von mir ist
für mich
unerfahrbar, es sei denn, er teile sie mir durch sein Verhalten mit.
Aber jeder
unsichere Mensch ist elementar an seiner Wirkung auf andere
interessiert. Die
soziale Identität interessiert deshalb, weil wir von
frühan so erzogen werden,
daß wir unsere 'eigene' Identität unserer sozialen
anzupassen haben. Dies ist
ein verhängnisvoller Mechanismus. „Das schizoide
Individuum wird oft von dieser
zwanghaften Bewußtheit seiner eigenen Prozesse gepeinigt...
Das übersteigerte
Gefühl, immer gesehen zu werden oder zumindest immer
potentiell sichtbar zu
sein, kann grundsätzlich auf den Körper bezogen
werden, aber die Beschäftigung
mit dem Gedanken, sichtbar zu sein, kann durch den Gedanken verdichtet
werden,
das geistige Selbst sei durchdringbar und verwundbar, als glaube das
Individuum, man könne gerade durch es hindurch in seinen
'Geist' oder seine
'Seele' blicken.“(ebd.)
Gewöhnlich werden Kinder
unter
größtmöglicher Kontrolle erzogen und sind
fast immer der Sichtbarkeit durch
andere ausgesetzt; auch da noch, wo ihr geheimster Bereich ist. Sogar
ihr
Schlaf steht unter Bewachung. Gedrängte
Wohnverhältnisse begünstigen die
Steigerung der Kontrolle. Wie alle sozialen Erfahrungen wird auch die
der
Kontrolle internalisiert. Kinder fangen an, sich selbst zu
kontrollieren und
ihr Selbstbewußtsein zu übersteigern, sie wagen
keine Untaten mehr aus Angst vor
der Möglichkeit der Kontrolle ihrer Eltern. Sie kontrollieren
ihr Verhalten
nach den Kriterien ihrer Eltern, dabei unterstützt vom Drang
zur Nachahmung,
der Liebesurform. Auch objektiv ist die eigene Sichtbarkeit in der
Familie oft
eine Gefahr; jegliche Sexual- und Analbetätigung kann durch
das Bewußtsein des
Gesehenwerdens mit neurotischen Ängsten affiziert werden, weil
Eltern in
unserer Repressivgesellschaft solche Erfahrungen nur selten dulden,
wenn sie
ihre Kinder erwischen. Sichtbarkeit macht Kontrollierbarkeit und
Reprimierbarkeit möglich. Zwar ist Sichtbarkeit
vonnöten, um Bestätigung durch
andere zu erfahren und hierdurch des eigenen Seins gewiß zu
werden. Aber in
unseren repressiven Familien handelt es sich ja um
übersteigerte Sucht zur
Sichtbarmachung eines Menschen bis in seine Intimität hinein.
Kinder haben bei
uns in den seltensten Fällen ausreichend Gelegenheit, mit sich
allein zu sein,
unbeobachtet. Man legitimiert diese Kontrollsucht - besonders in den
Frühjahren
- damit, daß man aufpassen muß, daß das
Kind nichts 'anstellt'. Nur im Wohle
des Kindes liegt es, kontrolliert zu werden, sagt man. Ergebnis ist die
Unfähigkeit zum Alleinsein, zu echter Intimität und
damit natürlich erst recht
zu jeder Form von echtem Zusammensein mit anderen. Nur wer für
sich sein kann,
kann mit anderen sein. Die Verstümmlung der Intimität
führt schließlich auch
zur Sucht, jedes Geheimnis zu erforschen, hinter jeden Menschen dringen
zu
wollen. Wir alle kennen die Schnüffelsüchte unserer
Mütter, Wirtinnen und Tanten,
besonders in Schwaben. Dabei vermute ich, daß die relativ
größere Neugier der
Frau - wenn überhaupt - nur durch die relativ
größere Kontrolle aller Mädchen
bedingt ist. Mädchen sind vor Vergewaltigung, durch ihre
Freunde zu schützen,
dies ist heiligste Elternpflicht; während dieselben ihren
Söhnen oft jeden Bums
verzeihen. Kontrolle wird so jedem eingefleischt. Kein Wunder, wenn sie
übersteigert wird, wo doch deren Einfleischung ins
Maßlose geht. In der Tat
müssen Kinder, nachdem sie das Gefühl des perfekten
und totalen
Kontrolliertwerdens erlernt haben und die dazugehörigen
Hemmungen lernen, daß
nicht alles kontrollierbar ist. Daß man nicht immer und
überall kontrolliert
wird, daß es Erfahrungen im Selbst gibt, die keiner erfahren
kann, wenn man sie
nicht absichtlich durch sein Verhalten mitteilt. Das Lügen
wird gelernt, das
Verweigern von Mitteilungen, die der Kontrolle dienen sollen. Die
Intimität
wird langsam und mühevoll der Gewalt der Eltern abgetrotzt.
Aber diese
spätkindlichen Erfahrungen wiegen nicht die Traumata der
anfänglichen
Intimitätsverstümmlung auf. Im Zeitalter der Wanzen
und Abhörgeräte, heimlich
gebauter Kameras, wird es ohnehin immer mehr zur Illusion, es
gäbe noch
Geheimnisse• Intimität wird ständig
stärker destruiert.) Aus der aggressiven
Potenz der Verstümmelten wächst die Macht, die zur
weiteren und vollständigen
Kontrolle aufruft. Von dieser Potenz der unnatürlichen
Neugierde im Menschen
erhält auch die Wissenschaft ihre Funktionäre. In
Reproduktion
gesellschaftlicher Kontrolle muß auch der Natur und allem
Sein das letzte
Geheimnis abgetrutzt werden - nur um festzustellen, daß
hinter ihm mehrere
weitere liegen.
„Selbstbewußtheit
in der
ontologisch unsicheren Person spielt eine Doppelrolle: 1. Seiner selbst
bewußt
werden und wissen, daß man anderen Leuten bewußt
wird, ist ein Mittel, sich
seiner Existenz zu versichern und auch der ihren. (...) 2. In einer
Welt voller
Gefahren ist es ein ständiges sich-der-Gefahr-Aussetzen, ein
potentiell
sichtbares Objekt zu sein. (...) Die naheliegende Abwehr gegen so eine
Gefahr
besteht darin, sich auf die eine oder andere Weise unsichtbar zu
machen.“(Laing, aaO 134f) Übersteigertes
Selbstbewußtsein hemmt Spontanität.
Aus der Erfahrung, daß Gesehenwerden Kontrolle bringt, diese
meist aber
repressiv, Gesehenwerden mithin repressive Erfahrung bedeutet - der
Blick
anderer kann kaum liebevoll vorgestellt werden -, wird das Madigmachen
durch
die anderen verinnerlicht bis ins Sichselbstmadigmachen des nicht
eigentlich
mehr kritischen Bewußtseins seiner selbst. Man verwirft den
Stoff, aus dem man
gemacht ist, man verwirft die eigenen Intentionen und Gefühle,
nicht ahnend
vielleicht sogar, daß sie nur Mimesis des Allgemeinen sind.
Kritische Selbstprüfung
legitimiert so leicht dann nichts mehr an Aktionen und Erfahrungen.
„Das
schizoide Individuum existiert unter der schwarzen Sonne, dem
bösen Blick
seiner kritischen Selbstprüfung. Das grelle Licht seiner
Bewußtheit tötet seine
Spontaneität, seine Frische; es zerstört alle Freude,
unter diesem Licht
verdörrt alles. (...) Das heißt, es verwandelt seine
lebendige Spontaneität in
etwas Totes und Lebloses, indem es sie inspiziert. (...) Sich seines
Selbst
bewußt sein ist immer noch eine Garantie, eine
Bürgschaft für die Fortdauer
seiner Existenz, obwohl dieses Leben ein Totsein im Leben bedeuten
kann.“(Laing, aaO 139) Reflexion macht den Reflektierenden so
zum eigenen
Objekt und versteinert es und damit letztendlich sich selbst. Und
Durchdringen
eines Objekts ist ihr zugleich gegeben. Reflexion führt also
zum Sichauffressen
und das ist ungemein ungesund. Sie setzt sich in Spiralen auf
ständig
steigenden Ebenen fort und führt in immer engeren Windungen
bis zur völligen
Handlungsunfähigkeit und u.U. bis zur Selbstaufhebung ins
Nichts. Zur normalen
Selbsterfahrung gehört, sich als ein verkörpertes
Individuum mit raumzeitlicher
Kontinuität zu erfahren. Das Selbst fühlt sich eins
mit seinem Körper.
Schizoide Selbsterfahrung kann all das nicht aufweisen. Die Bewertung
solch
völlig verschiedener Arten, menschlich zu sein und sich zu
erfahren, wäre
absurd, wie es die Bewertung eines Menschen nach der Farbe seiner
qualmenden
Socken wäre. Es sind zwei Arten zu sein. Man kann beide
durchleben, wenn man
will und kann. Die „verkörperte Person hat das
Gefühl, Fleisch, Blut und
Knochen zu sein, biologisch lebendig und real zu sein: Sie
weiß sich als
substantiell. (...) Die verkörperte Person, voll impliziert in
den Begierden,
Bedürfnissen und Aktionen ihres Körpers, ist Schuld
und Angst unterworfen, die
Folgen dieser Begierden, Bedürfnisse und Aktionen sind. Sie
ist Subjekt der
Frustrationen des Körpers und auch seiner Gratifikationen.
(...) Verkörpertsein
als solches ist keine Garantie gegen Gefühle der
Hoffnungslosigkeit oder
Sinnlosigkeit. (...) das Körper-Selbst ist keine
unzerstörbare Festung gegen
die Zerstörung durch ontologische Zweifel und Unsicherheiten;
es ist nicht in
sich ein Bollwerk gegen die Psychose.“(Laing, aaO 81,83)
Die Probleme des
Verkörpertseins
sind nur andere als die des unverkörperten Seins.
Stärker oder Schwächer? „Das
unverkörperte Selbst, als Beobachter all dessen, was der
Körper tut, engagiert
sich in nichts unmittelbar. Seine Funktionen sind Beobachtung,
Kontrolle und
Kritik dessen, was der Körper erfährt und tut und
diejenigen Operationen, die
man gewöhnlich als rein 'geistige' definiert. Das
unverkörperte Selbst wird
hyperbewußt. Es versucht, sich seine eigene Imago zu
postulieren. Es entwickelt
eine Beziehung zu sich selbst und dem Körper, die sehr komplex
werden kann.“(Laing,
aaO 84) Zu dem, was der Körper und sein Verhalten sind, kann
ein solcher Mensch
nicht 'Ich' sagen. Es ist für ihn ein Es. Wenn
überhaupt, so bildet der Körper
den „Kern eines falschen Selbst“ (ebd). Das kann
bis zu körperlicher
Schmerzunempfindlichkeit gehen. In Auschwitz haben sich sowas viele
gewünscht.
„Was das Individuum, je nachdem, als sein 'eigenes',
'inneres', 'wahres' oder
'wirkliches' Selbst bezeichnet, wird getrennt von jeder
Aktivität erfahren, die
von einem anderen beobachtet werden kann“.(Laing, aaO 89) Das
Selbst erfreut
sich also absoluter Verborgenheit, womit einer der sehnlichsten
Wünsche eines
unsicheren Menschen in Erfüllung geht. Mit seiner
Verborgenheit ist es vor
allen möglichen Angriffen sicher, so scheint es.
„Von innen schaut das Selbst
nun hinaus auf die falschen Dinge, die gesagt und getan werden, und
verabscheut
den Sprecher und Täter, als ob er irgendein anderer sei. (...)
Das Individuum
entwickelt einen inneren Mikrokosmos, aber diese autistische, private,
intraindividuelle 'Welt' ist natürlich kein mögliches
Substitut für die einzige
Welt, die wirklich da ist, die mit anderen geteilte
Welt.“(Laing, aaO 91)
Der Körper ist aber nicht
nur
ansich die Konzentration eines falschen Selbst, sondern quasi
Träger
verschiedener Subsysteme eines ganzen und oft recht komplexen Systems
von
falschen Selbsten. Ohne es zu wollen spielt dann der Körper
verschiedene
Verhaltensrollen, die der Schizophrene vollkommen von besonders
geliebten und
gehaßten Menschen übernommen hat. Diese geliebten
oder gehaßten Personen
dringen in ihn ein und nehmen im Körper ihren Platz ein. So
sieht sich das
Wahre Selbst dann im eigenen Körper fremden Mächten,
Personen und
Verhältnisabläufen gegenüber. Es kann in
erbitterter Feindschaft mit ihnen
stehen. Die gehaßten Tischsitten des gehaßten
Vaters können so etwa zuerst nur
kopiert werden, um diesem durch das eigene Verhalten einen Spiegel
seines
Verhaltens vorzuhalten, um ihn von den gehaßten Tischsitten,
die vielleicht
objektiv hassenswert sind, abzubringen; dies scheitert aber und die
kopierten
Tischsitten nehmen aus Verzweiflung und potenziertem Haß
gegen den
unverständigen Vater übertriebene Ausmaße
an und beginnen ein Eigenleben zu
führen, was eine Art von Autonomie gegenüber dem
Wahren Selbst führt, oft zu
einer völligen Beherrschung des Wahren Selbst. Das Wahre
Selbst fühlt sich dann
von den Personen in ihm gepeinigt, gequält und
unterdrückt. Im Grunde ist
dieses Empfinden nur eine überaus klare Demonstration der
Verinnerlichung von
Normen, die allerdings hier in personifizierter Form auftreten. Ein
Schizophrener kann mehrere Menschen in sich haben, wie ein Schauspieler
auch
mehrere Charaktere verkörpern kann. Aber der Schauspieler ist
dabei meist Herr
über das, was er spielt. Und er spiel seine Rollen. Der
Körper des
Schizophrenen aber ist das was er spielt. Darunter leidet das Wahre
Selbst.
Seine Unterdrückung von den Personen seines Körpers
offenbart prophetisch die
allerorts verdrängte gesellschaftliche Unterdrückung.
„Das Selbst wird nicht
als mitverantwortlich für das Tun des falschen Selbst oder der
Selbste gefühlt
und dessen oder deren Aktionen werden als zu nehmend falsch oder leer
empfunden.“(Laing, aaO 90)
Zwischen Aktion und Passion
besteht eine Spaltung - so wenig es natürlich beide in reiner,
mit dem
Gegenpart unvermischter Form gibt. Die Person, das Wahre Selbst,
erfährt sich
im schizoiden Zustand völlig unzugehörig zu jeder
Form von Aktion des Körpers.
Erfahrung als der Apparat des Wahren Selbst, der Person, ist zu keiner
Selbstmitteilung
mittels des Verhaltens zu bewegen. Das Verhalten hat sein Eigenleben
und
natürlich auch einen eigenen Erfahrungsbereich. Aber es
offenbart nicht das
Wahre Selbst. Die normale Relation von Selbst, Körper und Welt
(Selbst / Körper) -
Andere,Welt
ist zu
Selbst ( Körper /
Andere,Welt)
geworden. Darum kann das Selbst
nie direkt mit Anderen und der Welt in Beziehung stehen, auch wenn es
dieses
ersehnt. Sinn konstituiert sich durch bezogene
Verhaltensabläufe.
Sinn selbst ist wesentlich ein
Relationsphänomen. Eine sinnvolle Aktion kennzeichnet sich
durch einen
Zusammenhang von Intentionen, durch ihr Verhältnis in einem
Kontext von
Aktionen. Dieses Verhältnis ist durch gegenseitige
Bestätigungen der einzelnen
Aktionen charakterisierbar. Sie setzen einander teils voraus, teils
folgen sie
auseinander. Sinn ist eine Folge von Aktionen, die zueinander kausale,
finale,
implikative, paradoxe, antinomistische und andere Verhältnisse
auf weisen
können. Kurz: Sinn wird durch und als Bezüglichkeit
konstituiert.
Für Interaktion gilt diese
Definition auch und gerade. Sinn wird hier erlebbar, wenn zwei
Intentions- und
Akti onsträger (Menschen, Eier, Grashalme) so agieren,
daß eine Aktion mittels ihrer
Erfahrung durch den anderen Aktionsträger zu einer anderen
Aktion Grund bildet,
die dieser andere Aktbnsträger vollzieht, und es dann zu einer
weiteren
Erfahrung und Aktion vom ersten Aktionsträger kommt usw.
Sobald zwei Subjekte
zueinander in das Verhältnis von Kommunikation treten,
entsteht Sinn. Da das
schizoide Selbst nie unmittelbar mit etwas anderem als es selbst in
Beziehung
treten kann, erfährt es auch keinen Sinn mehr. Daher
rührt das Gefühl der
Sinnlosigkeit, der Ziellosigkeit, Leere. Sinnlos ist der Tod, denn er
ist das
Ende aller Verhältnisse. (Ein mögliches
Verhältnis zwischen Menschen, Eiern und
Grashalmen ist das Ostereiersammeln im Garten.) In Beziehung treten
kann das
schizoide Selbst nur noch zu den Objekten seiner Phantasie und den im
Körper
eingebürgerten Personen. Hier baut sich auch ein Sinn auf.
Aber eben nur als
System der Phantasie. Während ein verkörpertes
Individuum von den Interaktionen
mit anderen her Sinn erfährt und merkt, daß es von
außerhalb seines eigenen
Seins her durch Aktionen und Reaktionen bestätigt wird, fehlt
für das schizoide
Selbst jede Bestätigung seines Phantasiesystems von
außen. Es ist auf sich
allein gestellt in der Sinnkonstruktion. Noch schlimmer: die
Außenwelt trägt
völlig andere Sinnkonstitutionen an das Selbst heran, die im
stroffen Gegensatz
zum eigenen Sinnerleben stehen und dieses dadurch eher
zerstören als
bestätigen. In dieser Situation ist das Aufrechterhalten von
Sinn
außergewöhnlich schwer. Gleichzeitig führt
diese Sinndivergenz noch tiefer in die
Phantasiewelt hinein, die vor der Bedrohung durch fremde
Sinnkonstellationen
nur durch völlige Abspaltung von der Realität
aufrechtzuhalten ist. Die
Isolation von der Realität wächst mit wachsender
Sinndivergenz. Man
katapultiert sich in ewige einsame Isolation.
„Das wahre Sein des
Menschen ist
vielmehr seine Tat; in ihr ist die Individualität wirklich,
und sie ist es,
welche das Gemeinte in seinen beiden Seiten aufhebt.“(Hegel,
WW III, 242) So
erfährt sich der verkörperte Mensch, als wesenseins
mit seinem Verhalten, er
verhält sich. Nur aus seinem Verhalten kann er sich erkennen,
er erfährt sich
nie unmittelbar, sondern stets durch sein Verhalten. Er ist, was er
tut. Die
Person ist das Werk. Jede Tat ist die Offenbarung der Person. Wer
Sichtbarkeit
fürchtet, wird sich nicht offenbaren wollen. Er wird nichts
tun oder jede Tat
als uneigentliche Seinsmöglichkeit hinstellen.
„'Er', sein 'Selbst', ist
endlose Möglichkeit, Fähigkeit, Intention. Der Akt
ist immer das Produkt eines
falschen Selbst. Der Akt oder die Tat ist niemals seine wahre
Realität, er
möchte 'dem objektiven Element' ständig
unverpflichtet bleiben - darum ist die
Tat immer (oder zumindest glaubt er, sie ist) eine
vorgetäuschte, eine
vermeintliche Verrichtung, und er kultiviert vielleicht so weit er kann
diese
'innere' Negation all dessen, was er tut, in dem Bemühen,
alles, was er tut,
als 'null und nichtig' zu deklarieren“(Laing, aaO l09).
„Aber seine Freiheit
und seine Omnipotenz werden in einem Vakuum exerziert und seine
Kreativität
besteht bloß aus der Fähigkeit, Phantome zu
erzeugen. Die innere
Aufrichtigkeit, Freiheit, Omnipotenz, Kreativität, denen das
'innere' Selbst
als seinen Idealen huldigt, werden darum aufgehoben durch ein
koexistierendes,
quälendes Gefühl der Selbstduplizität des
Mangels an wirklicher Freiheit, der
äußersten Impotenz und
Sterilität.“(ebd.) Diese innere Aufrichtigkeit ist
dabei
allerdings flugs wieder eine totale Determination aus
gesellschaftlichen
Verhältnissen. In ihrer Abstraktheit, die jeder absoluten
Aufrichtigkeit
innewohnt, wird gerade sie, ein nie-und-nimmer-wirklich-selbstisches,
dem
wahren Selbst zum Verhängnis. Die angebliche Omnipotenz der
wahren
Möglichkeiten des Selbst entpuppt sich dann im Klartext als
Impotenz. War
anfänglich das Sich-Distanzieren von dem eigenen Verhalten nur
ein Mittel, um
vor der Gefahr des Sichzuerkennengebens und Definibelmachens sich zu
schützen,
so wird es später dem wahren Selbst gar nicht mehr
möglich, sich durch Taten zu
offenbaren, auch wenn es wollte. Die anfängliche Illusion ist
zur Wahrheit
geworden. Das Selbst lebt in einer anderen Welt und jeder Kontakt ist
abgerissen.
„Das Selbst
fühlt sich natürlich
nur sicher im Versteck, in der Isolation. So ein Selbst kann
natürlich zu jeder
Zeit isoliert sein, ob andere Leute anwesend sind oder nicht. Aber das
funktioniert nicht. Keiner fühlt sich mehr 'verletzbar',
keiner fühlt sich mehr
durch den Blick einer anderen Person preisgegeben als das schizoide
Individuum.“(Laing, aaO 93) Die Abgrenzung gegen die
äußere Bedrohung bewirken
die Auflösung und das Zerbrückeln von innen. Es kommt
zur fortschreitenden
Paralyse. Die Situation ist paradox. Gerade das Befürchtete
wird durch seine
Abwehr heraufbeschworen. „Wer sich aber verstockt bei seinem
bloßen Sosein,
weil ihm alles andere abgeschnitten ward, fetischisiert es dadurch.
Losgelöste,
fixierte Selbstheit. wird erst recht zu einem
Äußerlichen, das Subjekt zu
seinem eigenen Objekt, das es pflegt und erhält. Das ist die
ideologische Antwort
darauf, daß der gegenwärtige Zustand sichtbar
allerorten jene Ich-Schwäche
produziert, die den Begriff von Subjekt als Individualität
auslöscht.“(Adorno,
Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1971, 102)
Schizophrene sind nicht zu dumm,
um zu merken, wie sie verarmen, nicht nur an Affekten. Ihr nichtiges
Vakuumdasein macht ihnen zugleich wieder Sehnsucht auf den scheinbaren
Reichtum
der bunten Welt. Ihre Strategie ist aber auch in jeder Hinsicht
paradox. „Nach
dem Reichtum dort verlangt man im Gegensatz zu der Leere hier; dennoch
wird
Teilnahme ohne Verlust des Selbst als unmöglich empfunden und
ist auch nicht
genug, und darum muß das Individuum an seiner Isolierung
festhalten ... weil es
dadurch an seiner Identität festhält. Es sehnt sich
nach vollständiger
Vereinigung. Aber gerade diese Sehnsucht erschreckt es, weil es das
Ende seines
Selbst bedeuten wird. Es wünscht keine Relation
wechselseitiger Bereicherung
und wechselseitigen Austauschs, des Gebens und Nehmens zwischen zwei
einander
'kongenialen' Wesen. Es kann sich keine dialektische Beziehung
vorstellen.“(Laing, aaO 113) Darum ist das arme Selbst
eifersüchtig auf die
reiche Welt und beginnt, diese sehnend zu hassen. Der Haß
aber treibt es
wiederum weiter weg von dem Ersehnten. Eine Zerreißen der
Seele unter
Schmerzen. Alles mündet in tragischer Perfektion der
Scheiterns.
Die Frage nach der
Identität
steht ins Haus. Die Theologien haben sie teils zur Grundfrage unserer
Neuzeit
erklärt, teils zum Hobby. Solange die bedrohte
Identität für die Bedrohten
selbst noch ein Problem bildet, solange ist die lebenserfahrene
Bezeichnung der
Identitätsfrage als eines Hobbythemas von utopischer Natur;
der weniger
Fortgeschrittene muß bei ihr verharren, bis sie ihn nicht
mehr nötigt. Da das
Identitätsproblem komplex ist, muß einfach begonnen
werden.
Kein Mensch ist für sich.
Er ist
mit anderen. Daher ist seine Identität keine streng
logizistische
Sichselbstgleichheit. Sondern sie ist ein Verhältnisbegriff in
Interaktionen
und -erfahrungen. Kaum ein menschliches Verhältnis ist dem
anderen gleich, wenn
auch die verwaltete Welt uniforme Verhältnisse wuchern
läßt. Darum ist ein
Mensch auch nicht für alle der gleiche. „Diese
Alterationen meiner Identität,
indem ich ein anderer für dich, ein anderer für ihn,
ein wieder anderer für sie
(sing.), an noch anderer für sie (pl.) werde, werden in mir zu
vielfach
facettierten Meta-Identitäten oder Vielfachbildern vom
anderen, für den ich
mich bei den anderen halte - des anderen, der ich in meinen Augen
für die (den)
anderen bin. (...) Wir haben ein ego und ein alter. Wir stellen fest,
daß ich
mein eigenes Bild von mir selbst habe (direkte Perspektive), im Sinne
dessen
ich meine Selbstidentität bestimme. Jedoch ist
Selbstidentität eine
Abstraktion.“(Laing, Phillipson, Lee, Interpersonelle
Wahrnehmung,
Frankfurt/Main 1973, 15)
Eva sieht Marcel. Marcel sieht
Eva. Eva sieht, daß Marcel Eva anschaut. Marcel sieht,
daß Eva ihn anschämt.
Marcel findet Eva anziehend und sagt ihr mit seinem Blick: du bist
für mich
anziehend. Eva erfährt, daß sie anziehend ist. Damit
hat sie eine Identität
angeboten bekommen, die sie ablehnen kann - wenn sie das Gegenteil zu
sein
meint - oder akzeptieren - wenn sie einverstanden damit ist, anziehend
zu sein.
Sie hat in nicht repressiver Form ein Identifikationsangebot erhalten,
das sich
in jedem Fall auf ihre Selbstidentität auswirkt: sie hat die
Metaidentität
eines schönen Mädchens. „Die Anderen sagen
einem, wer man ist. Später wird man
dann die Art und Weise, wie einen die Anderen definiert haben,
bekräftigen oder
zu entkräften suchen. (...) Doch wie auch ihre besonderen
späteren
Veränderungen aussehen mögen, die erste soziale
Identität wird einem zugeteilt.
Wir lernen, die zu sein, die wir nach dem Urteil der Anderen bereits
sind.“(Laing, Das Selbst und die Anderen, 99) Eine Mutter
wird ihr Kind als
Kind behandeln. Darum meint dies, es sei ein Kind. Später wird
es einmal kein
Kind mehr sein. Dann muß es anfangen, sich zu wehren, von der
europäischen
Mutter weiter als Kind behandelt zu werden. Europäische
Mütter sollen mal einen
Kursus mitmachen, wie man Kinder freigibt.
Indem man einen Menschen so
behandelt, als ob er dumm sei, erreicht man, ihm glauben zu machen, er
sei dumm
- denn er ahnt ja nicht, daß man nur tut als ob. Wenn er aber
glaubt, er sei
dumm, so ist allein dies schon der erste Akt von Dummheit; wir haben
ihn also
da, wo wir ihn hinhaben wollen. Jetzt sagen wir ihm das auch noch und
er
erkennt, daß er keine andere Wahl hat als die Dummheit. Max
Frisch sagte in
„Andorra“ gegen die Bildnismacher, daß
sie die Menschen zum Abbild ihres
Bildnisses machen. Das ist das Problem bei der Identität.
Eva erfährt
Jürgen durch dessen
Verhalten. (Jürgen ist mit seinem Verhalten identisch, vgl.
Hegel, WW III, 242)
Sie verhält sich aufgrund ihrer Erfahrung zu Jürgen.
Jürgen erfährt Eva durch
ihr Verhalten. Daraufhin verhält er sich wiederum zu Eva, usw.
Dieses System bildet einen
geschlossenen Kreislauf von Kommunikation. Er ist ununterbrechbar
außer durch
Trennung. Man kann sich nicht nicht verhalten. Auch Katatonie ist ein
Verhalten. Es teilt den Willen mit, nicht zu kommunizieren. Die einzige
Möglichkeit, die Erfahrung abzustellen, besteht im Schlaf, der
Narkose oder der
Trennung.
Unsere Erfahrung als
Sozialisationsprodukt setzt sich zusammen aus
1. der Person des anderen an sich
2. der unstrukturierten Wahrnehmung
3. der Interpretation, die nach
gesellschaftlichen Werten,
Programmen
und
Kriterien selektiert
4. den eigenen Erwartungen
5. den eigenen Phantasien.
Die Interpretationskriterien,
aufgrund derer man aus dem Verhalten des anderen selektiert, sind aus
durch
frühkindliche Erfahrungen und kulturell-moralische
sozialisation vermittelten
Internalisationen von gesellschaftlichen Formen abgeleitet. Diese
Kriterien
sind zumeist unbewußt.
„Man schätzt,
daß der Mensch pro
Sekunde 10 000 exterozeptive und propriozeptive sinneswahrnehmungen
aufnimmt.
Dies erfordert eine drastische Auswahl jener Wahrnehmungen, die den
höheren
Hirnzentren zugeleitet werden, da diese sonst mit unwesentlicher
Information
überschwemmt und von ihr blockiert würden. Die
Entscheidung jedoch, was
wesentlich und was unwesentlich ist, ist offensichtlich von Mensch zu
Mensch
sehr verschieden und scheint von Kriterien abzuhängen, die
weitgehend
außerbewußt sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist
das, was wir subjektiv als
Wirklichkeit empfinden, das Resultat unserer Interpunktionen“
(Watzlawick, aaO
92). Erfahrung ist, indem sie zur Erkenntnis wird und strukturiert,
entwirrt,
selektiert, schon ganz ein Produkt von sozialer Dimension. Mag
Erfahrung auch
die einzige Evidenz sein, so ist sie nicht weniger vermittelt. Nur der
erste
blöde Blick des Babys in die sterile Kreißsaalluft
ist noch unmittelbarste Erfahrung.
Durch Bestätigungen,
Zuschreibungen und Anweisungen kann Eva Marcels Identität
beeinflussen. Wenn
man unter Identität die Dialektik von Marcels Selbstbild von
sich und Marcels
Bild von dem Bild, was Eva von ihm hat, versteht, dh Dialektik von
direkter
Identität und Metaidentität(en), so kann durch die
Beeinflussung von Marcels
Metaidentität durch Eva Marcels direkte Identität
verändert werden. Eva
beeinflußt Marcels Metaidentität, indem sie ihm
zuschreibt, er sei eingebildet.
Marcel hat jetzt vor Eva die Möglichkeit der
Bestätigung. Bestätigung kann in
verschiedenen Schattierungen ausfallen.
1.Volle Bestätigung:
Stimmt, ich bin eingebildet.
2. partielle
Zurückweisung: Naja, manchmal vielleicht.
3. abschweifende
Reaktionen: Du bist arrogant, mich eingebildet zu nennen.
4. totale
Zurückweisung: Nein, ich bin nicht eingebildet.
5. totale
Nichtbestätigung: Was für ein schöner Tag!
Insgeheim glaubt Marcel, auch
wenn er leugnet, doch, daß Eva nicht völlig unrecht
hat. Zumindest wirkt er auf
sie eingebildet. Das beunruhigt ihn. Liebt er Eva, so wird er
versuchen, sich
so zu verhalten, daß Eva ihn künftig nicht mehr als
eingebildet empfindet. Er
gewöhnt sich mönchische Demütigkeit an. Er
wird ihr Dackel. So gelingt es Eva,
Marcel dahin zu bringen, seine Identität auf das
Selbstverständnis eines
Dackels hin zu verändern. (Empfehlung an Marcel: Lieber nicht
lieben.) Warum
sagte Eva Marcel, er sei eingebildet? Weil sie einen Dackel braucht.
Ohne
Dackel fühlt sie sich nicht so richtig als volle Person. Ohne
Geliebten wird
keine Liebhaberin zu ihrer Identität kommen, sie ist
abhängig von einem
Mensch,: der die komplementäre Identität
ausfüllt, der u.U. dackelt.
Zwischen der vermuteten
Metaidentität (meinen Bild von deinem Bild von mir) und der
tatsächlichen
Metatidentität besteht meist eine Diskrepanz, da die
Mitteilungen über die
Bilder, die jeder vom anderen hat, zumeist auf analoger Ebene verlaufen
und
daher weniger eindeutig sind als digital vermittelte Beziehungsaspekte.
Je
stärker die Definition der jeweils anderen Person auf die
digitale Ebene
umgelegt wird, desto stärker werden die vermuteten mit den
tatsächlichen
Metaidentitäten übereinstimmen. Dies ist ein Ziel von
Therapien. Bei Leuten mit
ausgeprägten Phantasiesystemen wird die
Nichtübereinstimmung bis zur völligen
Unvergleichbarkeit der tatsächlichen und der eingebildeten
Metaidentität
gelangen. Unter solchen Umständen ist eine Kommunikation
äußerst schwierig,
wenn nicht gar unmöglich.
Gleich und gleich gesellt sich
gern, wie Gegensätze sich anziehen. In solcher
Banalität liegt die Weisheit,
daß jeder bemüht ist, möglichst mit solchen
Leuten Beziehungen zu haben, die in
ihm genau das sehen, was er meint zu sein oder gerne sein will.
„Das setzt
voraus, daß ich einen anderen finde, dessen Kriterien mit den
meinen
übereinstimmen. (...) Mein Zentrum der Anziehungskraft
könnte nämlich der
andere, der ich fürden anderen bin, werden.“(Laing,
Phillipson, Lee,
Interpersonelle Wahrnehmung, aaO 27) Dabei findet also eine Verlagerung
des
dialektischen Identitätszusammenhangs von der
Selbstidentität auf fast
ausschließlich die Metaidentität statt. So ist jedes
Sein-für-sich-selbst nur
noch als Funktion des Seins-für-den-anderen möglich;
echte Intimität und
Autonomie zerfällt. Wenn sie überhaupt einmal war.
Die Veränderung der
Identität des
anderen kann für das Selbst eine sehr komplexe Gestalt
annehmen. Otto will Ina
verändern. Er wirkt zunächst auf seine Erfahrung von
Ina ein. Er projiziert auf
Ina seine Erwartungen, seine Phantasien und den Text seiner Kriterien
für die
Deutung und Bedeutung von Verhalten (Redundanz). So beginnt er in Ina
jemand zu
sehen, der Ina gar nicht ist, wenn man sie fragen würde, wie
sie von sich meine
zu sein. Nach dieser projizierten Erfahrung von Ina agiert Otto auch.
Er
reagiert auf sie wie auf eine Mutter, dabei glaubte Ina, seine Geliebte
sein zu
wollen, dürfen, können und zu sein. Jeder
Löwe nimmt schwer übel, wenn man ihn
wie eine Maus behandelt. Er bekommt das Gefühl, man verkennt
ihn, versteht ihn
nicht. Weil er sich unverstanden glaubt, fühlt er sich
gekränkt. Das kann böse
Folgen haben. „Eine jede Projektion ist mit der
gleichzeitigen Negierung dessen
verbunden, was die Projektion ersetzt. Projektion bezieht sich auf
einen Modus
des Erfahrens eines anderen, indem man seine Außenwelt vom
Standpunkt seiner
Innenwelt erfährt. Anders ausgedrückt: Man
erfährt die Wahrnehmungswelt
vermittels seiner Phantasiewelt, ohne gewahr zu werden, daß
man das
tut.“(Laing, Phillipson, Lee aaO 29) Indem Ina nun Ottos
Verhalten erfährt,
wird ihr Ottos Bild von ihr als Mutter auf analoge oder digitale Weise
vermittelt und sie erkennt, daß Otto sie für seine
Mutter hält. Wenn sie ihrem
eigenen Selbstverständnis Glauben schenken will, wird sie
Ottos Bild von ihr
für falsch halten und ihm dies mitteilen, indem sie z.B. mit
seinem Schwanz
anfängt zu spielen. Denn das machen nur Geliebte, keine
Mütter. Oder sie kann
ihm verbal mitteilen, daß er sich irrt, sie wolle ihn nicht
bemuttern, sondern
seine Geliebte sein. Nun kann Otto entweder seiner Projektion beihalten
und Ina
weiterhin solange wie eine Mutter behandeln, bis Ina entweder sich
seiner
Projektion anpaßt oder sich von ihm trennt. Oder er gibt
seine Projektion auf
und behandelt Ina als Geliebte, dh fängt an, mit ihr zu
spielen.
Noch komplexer wird es in den
Metametaebenen der gegenseitigen Identifikationen und Projektionen.
Mein Bild
von deinem Bild von meinem Bild von dir. Es kann auf der
Übereinstimmung der
primären Identifikationen aufgebaut sein. Otto und Ina
können sich
übereinstimmend als Geliebte identifizierten. Auf der
Metaebene zu dieser
Übereinstitnmung (oder Nichtübereinstimmung)
können sie nun verstehen, (oder
nicht verstehen), daß sie übereinstimmen. Otto
weiß, daß Ina weiß, daß er ihr
Geliebter ist. Er weiß, daß Ina weiß,
daß er weiß, daß sie es auch
weiß. Auf
einer Dritten Ebene können beide nun noch realisieren,
daß sie verstehen, daß
sie übereinstimmen. Das ist herrlich, sie haben dann keine
Probleme über ihre
Beziehung und können nun im Bett beginnen, sich auf die
Revolution der
gesellschaftlichen Verhältnisse vorzubereiten, denn ie beginnt
im Bett. Zwischen
Übereinstimmung, Verstehen der Übereinstimmung und
Realisation des Verstehens
der Übereinstimmung - oder das ganze mit den verschiedensten
Variationen mit
einem 'nicht' davor, - gibt es die weitesten Nuancen der gegenseitigen
Identitätsbestimmungen und Projektionen. Sieht man den
Inaktionsspielraum einer
Zwiebeziehung als einen Kreis von (Erfahrung Otto) (Verhalten Otto)
(Erfahrung
Ina) (Verhalten Ina) (Erfahrung Otto) usf, so bildet die Reflexion
einer
Beziehung auf die drei (und mehr) Ebenen von Kongruenz beider
Erfahrungen oder
Divergenzen eine Spirale. Der Kreis läuft allerdings zugleich
auch andersherum,
denn von der ersten Sekunde einer Beziehung an sieht jeder jeden, macht
sich
jeder von jedem ein Bild, agiert jeder zu jedem. So kann man sagen,
daß diese
Identitätsspiralen reziprok ineinander verschränkt
laufen und bei jedem Kommunikationsakt
- wenn auch unbewußt - alle drei Ebenen der gegenseitigen
Einschätzung
(Übereinstimmung, Verstehen der Übereinstimmung,
Realisation des Verstehens der
Übereinstimmung) mitschwingen. Natürlich erhalten
alle Erfahrungen durch ihre
Phantasie, Programm- und Wertkomponenten eine Bedingtheit durch
vergangene
Erfahrung, die sich durch Entwicklung eines bestimmten
Erwartungshorizontes an
den anderen auch auf die Zukunft hin überträgt.
Das entscheidende Problem in
diesen Spiralbildungen gegenseitiger Projektionen und Identifikationen
liegt
da, wo der eine des anderen Identitätsvorschläge, als
welche man ja jede
verhaltensmäßige Vermittlung der Projektion und
Identifikation ansehen kann,
akzeptiert oder nicht. Ob er seine Selbstidentität von seiner
Metaidentität her
ableitet und sich völlig passiv identifizieren
läßt - oder eine so starke
Selbstidentität hat, daß er fähig ist, die
Metaidentitäten abzuweisen, die in
absoluter Diskongruenz zu seinem eigenen Verständnis von sich
stehen. Ohne sich
dabei aber von den Metaidentitäten völlig zu
isolieren wie der Schizophrene.
Eine gefestigte Selbstposition in
diesem Sinne ist nicht apriorisch vorhanden, sondern muß den
Metaidentitäten
abgetrotzt werden. Von der Fremdbestimmung seiner Identität
muß jeder den Weg
finden zu der Selbstbestimmung derselben. Das führt
über Reflexion und Reue.
Das Ich, zu dem einen die anderen gemacht haben, erkennt sich in seiner
Gemachtheit und überschreitet sich, indem es gewisse
Strukturen seiner Selbst
im Begriff aufhebt, negiert, auf einer neuen Ebene als Mittel zu seiner
Selbstdefinition und -infinition benutzt. Das Selbst benutzt sein altes
Selbst,
um aus diesem Stoff den Tempel in drei Tagen oder mehr, oft und gern in
einer
Psychose, vielleicht unter Zuhilfenahme von Hasch, LSD oder anderen
süßen
Sachen, vielleicht auch unter unerhörter Anstrengung des
Begriffs (Hegel)
wieder aufzubauen. Es wird zu seinem eigenen Geburtshelfer und arbeitet
mit dem
Lehm, der vom mißlungenen Topf, den seine Eltern gemacht
haben, nochmal
eingeweicht wird, bevor er durchs Brennen hart wird. Die Befreiung des
Selbst
von alten Identitäten ist ein Anfang seiner Autonomie. In der
guten Psychose
fallen sie wie Eierschalen ab und das Ich tritt hervor und baut aus den
Schalen
neue Gefäße, deren es sich zum Leben bedient. Es ist
wiedergeboren.
Doch von solchermaßen
exodierter
Abfahrt in die neuen Möglichkeiten mit ihren Hoffnungen und
dem starken, sich
stärkenden Ich, daß auch dem Faschismus zu
widerstehen instande ist, nun zurück
in tiefste Ausweglosigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen - dem
Tragödienstoff ohnegleichen. Für das ichschwache
Selbst bedeuten alle
Metaidentitäten, die es aus den verschiedenen Beziehungen
erhält, eine Bedrohung.
Durch Bestätigung eines falschen Selbst kann es
tatsächlich sich so an seine
vom anderen falsch gemachte Metaidentität anklammern,
daß es diesem Phantom,
das es nicht ist, verfällt und so wird, wie es
bestätigt wurde. Das Kind,
dessen Mutter sagt, es sei ein Engel und solle seinen Pimmel nicht
anfassen,
wird später geschlechtslos sein wollen und verdammt IHN statt
sich seiner zu
erfreuen.
Falsche Selbst-Systeme
Schizophrener sind oft das Ergebnis von Projektionen anderer und
Bestätigung
der falschen Selbstsysteme, zu denen der Schizophrene dann wird.
Kollusion ist
gegenseitiges Vorspielen von falschen Rollen, die den jeweils anderen
zu
komplementären Rollen zwingen, es sei denn er verweigert die
Kommunikation und
steigt aus, indem er weggeht oder -was dasselbe ist - in sich geht und
nicht
wiederkommt. Das Spiel ist gegenseitige Selbsttäuschung, wobei
es dazugehört,
gerade dies nicht zuzugeben. „Die Kollusion des Anderen ist
erforderlich als
'Komplement' der Identität, die das Selbst aus einem inneren
Zwang heraus
aufrechterhalten muß. Man kann eine eigenartige Form von
Schuld erfahren, die,
glaube ich, für diese Disjunktion bezeichnend ist. Wenn man
Kollusion
verweigert, fühlt man sich schuldig, weil man nicht die
Verkörperung des vom
Anderen für seine Identität benötigten
Komplements ist oder wird. Gibt man aber
tatsächlich nach, läßt man sich
tatsächlich dazu verleiten, wird man seinem
eigenen Selbst entfremdet und macht sich deshalb des Selbst-Verrats
schuldig.“(Laing, Das Selbst und die Anderen, aaO 117) Diese
Aussage gilt auch
in jeder Rolle. Der Patient, der sich dem Psychiater nicht mitteilt,
wenn er
nicht will, muß es schon allein aus diesen
Schuldgefühlen heraus, dabei verrät
er sich. Das gleiche gilt in allen gesellschaftlich vorgefertigten
Rollen, die
den sie einnehmenden Individuen nicht gerecht werden. Also für
alle Rollen.
Außer der Rolle, zu spielen, eine Rolle zu spielen.
Ein Mensch hat subtilste
Möglichkeiten, Herrschaft über einen anderen
auszuüben und ihm Verhaltens- und
Seinsanweisungen zu erteilen. Die Bestätigung dessen im
anderen, was dieser als
ichfremd empfindet, man selbst aber gut gebrauchen kann, die
Projektion,
Abschweifreaktionen auf Partikel des anderen, die man ablehnt,
Zurückweisungen,
Betonung nebensächlicher Aspekte des anderen, Verwirrung des
Ich-Du-Verhältnisses, statt einen bestehenden Konflikt zur
Klärung zu bringen -
das sind einige Grundmuster von Herrschaftseinfluß.
Die grundlegende Struktur
für
verwirrende Beziehungen ist die Doppelbindung. Einer bringt einen
anderen oder
sich selbst oder beide - oder beide bringen einander in eine
für einen oder
beide unhaltbare Situation. Sie macht die anderen - mit Sartre - zur
Hölle.
Schizophrenie entsteht aus solchen Doppelbindungen als Versuch, wo man
physisch
nicht herauskommt, wenigstens psychisch abzuhauen, indem man sich in
sich
selbst ins Inkognito zurückzieht und alle Spuren der
Kenntlichkeit hinter sich
wegwischt.
Man hat die Familien Schizophrener
analysiert und erkannt,
daß ganze Familien solche Doppelbindungsstrukturen als
durchgehendes
Kommunikationsmedium gebrauchten und jeden mit hineinziehen, der sich
nicht
retten kann durch extreme Verweigerung oder die Fähigkeit, sie
zur Metakommunikation
über ihre Verhaltensstrukturen zu bewegen. In solchen
Familienkontexten wirkt
das schizophrene Sein als völlig angemessene Reaktion. Es ist
in keiner Weise
abnorm.
Jeder fünfte Insasse einer
Nervenheilanstalt wird wegen Schizophrenie eingewiesen. Diese Krankheit
verbreitet sich. In Vietnam kennt man sie nicht. Sie scheint
kulturbedingt zu
sein. Klassisch formuliert wurde die paradoxe Kommunikation erstmals
1956 von
der Forschergruppe um Gregory Bateson. (Gregory
Bateson/ Don D. Jackson/ Jay Haley/
John Weakland, Toward a theory of schizophrenia, in:
Behavioral Science,
Palo Alto (Wiley) 1956; Gregory Bateson/ Don D.
Jackson/ Jay Haley/
John Weakland, Schizophrenie und Familie,
Frankfurt/Main (Suhrkamp)
1969)
Zur klassischen double bind
gehören folgende Bestandteile:
„1. Zwei
oder mehr Personen. (...)
2. Eine
sich wiederholende Erfahrung. (...)
3. Ein
primäres negatives Verbot. (...)
4. Ein
sekundäres Verbot, das mit dem ersten auf einer abstrakten
Ebene im Konflikt steht
und das wie das erste durch Bestrafungen oder Signale durchgesetzt
wird, die
das Fortleben bedrohen. (...)
5. Ein
tertiäres Verbot, das das Opfer daran hindert, das Feld zu
räumen. (...)
6.
Schließlich ist dieser ganze Komplex von Elementen nicht mehr
notwendig, wenn
das Opfer gelernt hat, sein ganzes Universum in einer Struktur von
Doppelbindungen wahrzunehmen. Fast jeder Teil einer
Doppelbindungssequenz kann
dann schon genügen, um Panik oder Wut her
aufzubeschwören. Die Struktur von
Verboten, die im Konflikt zueinander stehen, kann sogar von
halluzinierten
Stimmen übernommen werden.“(op. cit. in: Behavioral
Science, 1956, 25l)
„Der Eine teilt dem
Anderen mit,
er solle etwas tun, und gleichzeitig teilt er ihm auf einer anderen
Ebene mit,
er solle es nicht tun oder er solle etwas anderes tun, das sich damit
nicht
vereinbaren läßt. Die Situation wird, für
das 'Opfer' durch ein zusätzlicher
Opfer besiegelt, das ihm untersagt, aus der Situation herauszukommen
oder sie
dadurch aufzulösen, daß er sich dazu
äußert. Das 'Opfer’ ist so in einer
'unhaltbaren' Position. Es kann nichts unternehmen, ohne daß
es zur Katastrophe
kommt.“(Laing, Das Selbst und die Anderen, aaO 157) Die
Bedeutung der beiden
paradoxen Anweisungen ist unentscheidbar. Doppelbindungen
führen nicht
zwangsläufig zur Schizophrenie, aber begünstigen sie
außerordentlich.
Es liegt nicht nur ein
Widerspruch vor, sondern dazu noch die Unmöglichkeit, den
Widerspruch zu
erkennen. Das verwirrt. „Im Fall der
widersprüchlichen Handlungsvorschrift
bleibt also die Wahl logisch möglich. Die paradoxe
Handlungsvorschrift dagegen
macht die Wahl selbst unmöglich: Weder die eine noch die
andere Alternative
steht tatsächlich offen, und ein selbstverewigender,
oszillierender Prozeß wird
in Gang gesetzt. (...) Im Fall der Doppelbindungen ist diese zunehmende
Verhaltenseinengung besonders drastisch, und nur ganz wenige Reaktionen
sind
pragmatisch möglich.“(Watzlawick aaO 201)
Doppelbindungen sind also
ausweglose Kommunikationsweisen, sie verschlingen alles, was in ihren
Bereich
kommt, sie sind der Strudel, in dem man nur tiefer und tiefer
hinuntergerissen
wird bis zum Untergang. Sie sind perfekte Dekadenzen menschlichen Seins
-
welches durch Freiheit kenngezeichnet ist. Sie lassen menschliche
Existenz
scheitern.
Soziologische Aspekte
dürfen
nicht fehlen, will man das Entstehen von Neurosen und Psychosen nicht
als
isolierte kontingente Individualdeformationen sehen. Denn bei aller
eingestandenen Kontingenz fallen doch ein ganzes Bündel von
Determinismen auf,
die paulinische Traurigkeit (2. Kor 7,10) in solidarischer Nachfolge
Jesu und
seiner Inkarnation in den leidenden Leibern und Seelen der Irren, die
das
Sterben Jesu an ihrem Leib tragen, mitten im Leben in den Tod gegeben
(2. Kor
4,9-11) zu erwecken geeignet scheinen. Die vom Sample her bislang
umfassenste
Studie über den Zusammenhang von „sozialer
Schicht“ und Pychopathiehäufigkeit
ist die „New Haven Study“ (August B
Hollingshead/ Fredrick C. Redlich,
Social Class and Mental Illness, New York (Wiley) 1958) Folgende
Schichteinteilung wurde vorgenommen:
l
Besitzer und Leiter von großen
Betrieben oder Instituten mit Universitätsabschluß
II
Das mittlere Management, eine sehr
Status- und aufstiegsbewußte Gruppe
III
Angestellte, kleine Geschäftsleute,
Techniker
IV
Facharbeiter, konsolidierte
Einwanderer
V
An- und
Ungelernte Arbeiter, Einwanderer, heruntergekommene Yankees, im
wesentlichen
Slumbevölkerung
Die Gruppe der innerhalb eines
Halbjahres in Behandlung befundenen Psychiatriepatienten (1891 Leute)
wird
prozentual verglichen mit einer Stichprobe aus 5% der insgesamt ca.
250.000
Leute zählenden „normalen“
Bevölkerung. Dabei kam folgende Relation heraus:
Bevölkerung % | ||
Schicht | Kranke | Stichprobe der Normalen |
I | 0,0 | 3,0 |
II | 7,0 | 8,4 |
III | 13,7 | 20,4 |
IV | 40,1 | 49,8 |
V | 38,2 | 18,4 |
Die Häufigkeit der
Erkrankungen
nimmt mit Abstieg der Sozialen Schicht zu. Je ärmer und
Heruntergekommener, desto
kranker. Eine zusätzliche Differenzierung zwischen Neurosen
und Psychosen
(deren psychiatrischer Unterschied nur die Schwere der Krankheit in
allgemein
übereinstimmendem Urteil ist - ansonsten variieren die
Unterscheidungen von
Theorie zu Theorie) ergibt folgendes Bild
Schicht | % Neurosen | % Psychosen |
I + II | 65 | 35 |
III | 45 | 35 |
IV | 23 | 77 |
V | 9 | 91 |
Hier wird recht krass sogar
deutlich, daß die Patienten der unteren Schichten - soweit
sie sich überhaupt
einer Behandlung unterzogen - fast ausschließlich wesentlich
schwerere
Erkrankungen haben als die zur Behandlung kommenden Patienten der
oberen
Schichten. In der Unterschicht (V) trifft man achtmal soviel
Psychotiker wie in
den Oberschichten. Also nimmt sowohl Häufigkeit als auch
Schwere des Leidens
mit absteigender sozialer Schicht zu. Allerdings ist zu vermuten,
daß die
Neurotiker der Unterschicht in obiger Tabelle erheblich
unterrepräsentiert sind
mit nur 9%, da die Bereitschaft zur psychiatrischen Behandlung in der
Unterschicht minimal ist und die Leute sich bei leichteren Erkrankungen
möglichst noch fernhalten vom psychiatrischen Apparat. Das
kann man aus der
Einweisungsstatistik der New Haven Study schließen:
(psychotische Ersterkrankungen) | ||||
Schicht | I+II | III | IV | V |
Einweisungsinstanz | ||||
Privatärzte | 21,4 | 59,4 | 44,1 | 9 |
Krankenhausärzte | - | 6,2 | 16,3 | 13 |
soziale Agenturen | - | - | 7,4 | 19,6 |
Polizei und Gericht | - | 4,8 | 18,9 | 52,2 |
Familie und Freunde | 42,9 | 17,2 | 8,1 | 2 |
Selbst | 35,7 | 60,2 | 2,6 | |
andere Fachleute | - | 6,2 | 2,6 | 4,2 |
(Die aufgeführten Daten
sind
entnommen aus: Gleiss, Seidel, Abholz, Soziale Psychiatrie, Zur
Ungleichheit in
der psychiatrischen Versorgung, Fischer Tb, Frankfurt/Main 1973, 41f,
116)
Selbst in schweren Fällen
gehen also
Unterschichtspatienten nicht von sich aus und nur selten von ihrem
Freundes und
Familienkreis überredet zur Behandlung. Über die
Hälfte wird zwangseingewiesen.
Vermutlich hängt das mit der geringen Internalisierung des
Überichs in der
Unterschichterziehung zusammen, die Konflikte zumeist
außenlenkt. Da für
schwere Erkrankungen ohnehin eine längere Zeit für
die Heilung benötigt wird
und vor allem jede Heilung die Mithilfe des Patienten vorraussetzt, ist
die
Chance für Heilung bei den Unterschichtspatienten erheblich
hochgradiger aussichtslos
als bei den mit leichteren Neurosen im Frühstadium schon von
selbst in
Behandlung kommenden Oberschichtspatienten. Begründet ist
dieses Verhalten bei
der Einweisung in dem unterschiedlichen Krankheits- oder
Normalitätsbegriff von
Unter- und Oberschicht.
In der Unterschicht gilt - auch in
somatischen
Leiden - ein viel größeres Spektrum von Eigenheiten-
als „normal“ als in der
Oberschicht, die sehr stark an die Krankdefinitionen der Herrschenden
Psychiatrie angepaßt sind, weil sie ja auch die herrschenden
Normen und deren
Exekutivinstitutionen produziert und innehat (Schulen, Gerichte,
Medien,
kulturelle Publikationen usw.)
Diese Ergebnisse lassen sich
zurückführen auf die für die Über-
und Unterschicht jeweils verschiedenen
Produktionsbedingungen und die Art der hiervon herleitbaren
Streßbedingungen.
Das Ansteigen von Psychiatriefällen in wirtschaftlichen
Krisenzeiten (Gleiss,
Seidel, Abholz, Soziale Psychiatrie aaO 53) ist auf die psychische
Belastung
durch drohende Arbeitslosigkeit und damit verbundenes materielles Elend
zurückzuführen. Wenn schon das Bevorstehen von
Arbeitslosigkeit psychisch
drückt, wieviel mehr ihr Eintritt. Neurosen und Psychosen sind
unbewältigte und
übermächtig gewordene Angstzustände, wie
oben eingehend erläutert. Bei Arbeitslosigkeit
hat die Angst ihre ökonomische und überaus reale
Grundlange. Sie ist die
unmittelbare Sorge um die Erhaltung der nackten Existenz. Diese Angst
um
Arbeitsplatz und Verdienst gehört im Kapitalismus zur
Grundbefindlichkeit dazu,
von Heidegger verontologisiert. Diese Angst verhindert heute jede
solidarische
Befreiung der Arbeiter von ihrer Fremdbestimmtheit im
Produktionsprozeß. Denn
sie isoliert den Einzelnen und lenkt sein Interesse borniert nur noch
auf die
eigene ökonomische Sicherheit, jedes Schaf sucht seinen Weg
und irrt (Jes
53,6). Die Verweigerung des Arbeitsplatzes und damit der Entzug von den
materiellen Lebensbedingungen wird als Mittel politischer
Disziplinierung auch
außerhalb jeder Wirtschaftskrise angewand. Beispiele finden
sich massenhaft in
den Zwangsent- lassungen streikender Arbeiter (zB Mannesmann Oktober
1973) und
den Berufsverboten für sog. „Radikale“ im
öffentlichen Dienst
(Ministerpräsidentenerlaß. Jan. 1972; Pfarrergesetz
der VELKD vom Nov. 1972)
und anderen Institutionen. Diese Angst teilen alle emanzipativen
Menschen. Sie
ist die Angst vieler Pfarrer und Christen. Wenn auch die meisten sich
als
Christen bezeichnenden Menschen sie nicht teilen. Denn die Christliche
Union
ist auffallend identisch mit den Eigentümern von
Produktionsmitteln und anderen
materiell gut gestellten, die so leicht nichts an Arbeitslosigkeit und
Elend zu
befürchten haben; man kann sagen, daß die meisten
„Christen“ in der BRD keine
ökonomisch bedingten Existenzängste kennen.
Eine weitere
Streßbedingung in Unterschichtsberufen
ist die Monotonie und Langweile bei gleichzeitiger
Überbeanspruchung von
visueller Konzentration und akustischer Überbelastung.
Monotonie macht müde,
während von der Konzentrationsfähigkeit bei
Fließbandarbeit im Umgang mit
gefährlichen Maschinen das Erhalten der Validität
abhängt. Jeder
Fließbandarbeiter darf denn auch statistisch alle
fünf Jahre auf seinen Unfall
hoffen, denn dann kann er krank feiern, wenn er nicht stirbt. Man
bezeichnet
das Verhältnis des Arbeiters zu dieser Art von Arbeit
gewöhnlich als
Unzufriedenheit.
Arthur Kornhauser hat das
Verhältnis von
Unzufriedenheit mit der Arbeit und geringer Seelengesundheit durch
Interviews
mit Ford-Arbeitern in Detroit differenziert untersucht. „Wenn
die untersuchten
Arbeiter nach Sachkenntnissen der Verschiedenheit der
Arbeitsgänge, der
Verantwortung und Bezahlung klassifiziert werden, so zeigt die Skala
psychischer Gesundheit eine durchgehende und signifikante Korrelation
zu der
Höhe des Beschäftigungsniveaus» Je
höher die Beschäftigung, desto höher der
Grad psychischer Gesundheit im allgemeinen.“(Kornhauser,
Mental health of the
industrial worker, A Detroit study, New York/Oxford (Wiley) 1965, 56)
Die
Industriearbeit muß, da der Achtstundentag nicht
überschritten werden darf, in
der Intensität zunehmen, bei gleicher Zeit mehr Produktion.
Durch Verfahrung
wie das MTM (Methods Time Measurement) wird eine Normzeit für
jede Bewegung des
Arbeiters ermittelt, die er nicht überziehen darf, um den
Akkord mitzuhalten,
was besonders bei Gruppenakkord am Band schon durch den sozialen Druck
der
Gruppe erzwungen wird. Neben den Berufskrankheiten produziert die
Industrie am
Arbeiter körperlichen Verschleiß und ein
großes Rentnerheer, nervliche
Überlastung und die Verkümmerung intellektueller
Potenzen. Einer unter vier
Arbeitern hat psychische Probleme, die sich in Alkoholismus, Krankheit,
Fehlen
bei der Arbeit usw. zeigen.(vgl. Ralph T.
Collins, in: Albert Q. Maisel (ed.), The
health of people who work, New York (The National Health Council) 1960)
Die Fremdbestimmtheit der Arbeit
durch standardisierte Vorschriften und oft direkte Überwachung
durch
Vorgesetzte ist ein weiteres Konfliktfeld. Hier wird wiederum die Angst
vor
Repressionen bis hin zur Entlassung recht ausgeprägt. Die
Hierarchisierung der
Produktionsverhältnisse in mehrere Stufen ist
überdies dazu geeignet, direkte
Konflikte zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer zu verbergen, da in den
Augen
des einfachen Arbeiters zunächst nur der Vorarbeiter oder
Meister als Vertreter
der Repression dasteht und der Konflikthauptteil sich in Aggressionen
in diesem
Feld kompensieren kann. Der Meister wiederum empfängt
Repressionen vom
nächsthöheren Vorgesetzten und fühlt sich
berechtigt, die hier angestauten
Aggressionen durch eigene Repressionen der untergebenen Arbeiter
abzureagieren.
So bietet sich gleichzeitig mit dem Bild der hierarchischen Pyramide in
der
Fabrikarbeit die Vorstellung einer Repressionsverteilungspyramide von
einem
recht geringen Ausgangspotential als Aggression im Cheftrakt der Fabrik
zu
einer sich von Person zu Person potenzierenden Abstiegsleiter bis ans
Band.
Dort kommt eine gut genährte Repressionspotenz zu jedem
Arbeiter. Sie wird
umgewandelt in Apgressionsäußerungen gegen
Gleichgestellte, besonders
Schwarzschafe am Band, weit weniger gegen die Vorgesetzten. Die Angst
vor der
Repression von oben bildet einen Hemmmechanismus gegen die
Aggressionsabfuhr
nach oben, gegen Vorgesetzte. Gleichzeitig aber potenziert diese Angst
und der
Ärger über die eigene Machtlosigkeit die
Aggressionsmenge. „Den Schwächeren
gegenüber wird jene Aggression ausgedrückt, die man
dem Stärkeren gegenüber
nicht zu zeigen wagt. Die Kinder werden angebrüllt, weil der
Chef einen
angebrüllt hat und weil man sich nicht getraut hat,
zurückzubrüllen. Die
aufgespeicherte, verdrängte Aggression wird oft lange
aufbewahrt und summiert
sich, bis sie auf erlaubte Feindgruppen entladen werden
kann.“(Friedrich
Haaker, Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt, Reinbek2
(Rowohlt)
1973, 155)
Nur zu einem geringen Teil kann
diese an den Maschinen und Gegenständen des
Produktionsprozesses ausgelebt
werden. Der weitaus größte Teil staut sich auf und
bildet psychische
Deformationen. Teile dieser unbewältigten Aggression werden
frei bei Forderungen
der Todesstrafe, brutalen Filmen, Fußballspielen,
Boxkämpfen und in
Einzelfällen bei sog. kriminellen Delikten.
Kindesmißhandlung gehört dazu. Aber
Kindesmißhandlungen sind nur die Spitzen des Eisbergs rigider
Erziehungsmethoden. Das aggressive Potential der Unterschicht
läßt sich relativ
gut im Faschismus einsetzen. Macht man eine Schichtanalyse der
SS-Rekrution, so
wird die frappierende Überrepräsentation von
Unterschichtlern ersichtlich (vgl.
Kogon aaO).
Oft eignet der Bandsituation die
double-bind-Struktur. Der Arbeiter soll schnell machen. Er soll aber
auch
sauber arbeiten und das überfordert oft seine
Fähigkeiten und Kräfte und steht
im Widerspruch, zur geforderten Eile. (Was lange währt, wird
endlich gut.)
Diesen Widerspruch kann er aber nicht erkennen, weil einige Arbeiter am
Band
aufgrund ihrer noch vitalen Fähigkeiten die geforderte
Leistung erreichen. Die
Schuld liegt also scheinbar in der Faulheit des Arbeiters, so meint
jedenfalls
der Meister. Diese Situation ist für den Arbeiter unhaltbar,
u.U. zieht er den
Zorn aller Kollegen auf sich, wenn er im Gruppenakkord steht und nicht
mithalten kann, den des Meisters sowieso. Er hat nur noch die Wahl,
seine
Kräfte überzustrapazieren und sich physisch zugrunde
zu arbeiten, wobei dieses
ihm eine erneute Schwierigkeit einträgt: zeigt er sich nach
der Schicht als
erschöpft, wird er von den Kollegen als Schlappschwanz
bezeichnet und
diskriminiert, was ihn vielleicht zu anderen, sogar kriminellen
Aktionen zum
Beweis seiner Kraft anstachelt. Das aber macht ihn entweder
lächerlich, noch
brutaler oder zum Strafgefangenen. Weitere Folge seiner physischen
Erschöpfung
sind dann abends bei der Intimität mit seiner Frau abzusehen,
die allseits
frustrieren wird. (Während meiner Zeit auf Montage von
Fabrikhallen erzählte
uns ein Arbeiter, daß trotz aller Mühen –
bis hin zum Bau einer Liebesschaukel
- seine Frau niemals feucht werde.)
Der Schwache im Kapitalismus ist
unhaltbar verloren, seine Lage ist aussichtslos. Und er durchschaut sie
nicht.
Denn ihre Erklärung setzt die Fähigkeit zur
Abstraktion voraus, also die
Beherrschung eines elaborierten Codes, während er nur eine
restringierten hat
(B. Bernstein 1959).
Der Widerspruch der obigen
Doppelbindung ist der von Leistungsfähigkeit und
Leistungsanforderung. Luther
verherrlicht ihn als usus divinis legis: je schärfer das
Gesetz, desto größer
die Sünde, desto größer die
göttliche Gnade des Evangeliums. (vgl. Rm 5,20ff)
Die Anforderungen an den Arbeiter sind höher als seine
Fähigkeiten hergeben
können ohne Deformation. Warum müssen die
Leistungsanforderungen so hoch sein?
Weil dadurch in gleicher Zeit mehr Produkte auf den Markt kommen. Also
mehr
verkauft werden kann. Also mehr verdient werden kann. Vorausgesetzt, es
ist
genug Nachfrage durch eine sozial gutgestellte und dadurch
kaufkräftige
Abnehmergruppe da. Mehr Verdienst, mehr Profit. Davon geht ein
relativer
Großteil in die immensen Lebenshaltungskosten von Familie
Flick, Bohlen-Halbach
usw., der Rest liegt bereit für neue Investitionen, neue
Projekte, größere
Fließbänder, mehr Automation, die immer mehr
Arbeitskräfte einsparen, sodaß man
immer mehr Profit macht und noch mehr spart und nochmehr Profit macht.
Problematisch wird dann allerdings die Nachfrage. Man darf nicht zuviel
Leute
entlassen und in genaustens geplanten Wirtschaftskrisen (so nennt man
die
Zeiten, in denen am unmerklichsten Profite gemacht werden) arbeitslos
machen.
Denn damit schwindet die Kaufkraft der Massen. Und dann kann man keine
Profite
mehr machen.
Im Grunde ist also die
Doppelbindung
am Band nichts anderes als eine der Gestalten des Grundwiderspruchs von
Lohnarbeit und Kapital im Kapitalismus. Dabei haben die Machthaber des
Kapitals
aus der Geschichte gelernt, daß sie den Bogen der Ausbeutung
nicht zu sehr
überspannen dürfen, damit er nicht durch
Wirtschaftskrisen,
Massenarbeitslosigkeit und Verelendung und schließlich eine
Revolution der
verzweifelten Massen zerberstet. Die Ausbeutung am Band muß
also dosiert
werden, bei zu hoher Beanspruchung wird eher der Akkord gesenkt als
daß man es
auf eine Armee Frührentner hinauslaufen
läßt, die keine Kaufkraft mehr haben
und Krankenkassenbeiträge aufzehren. Gegen Streiks allerdings
werden heute
Entlassungen verordnet. Und die Aggressionen sollen teilweise mit
Überhäufung
durch Konsumgüter erstickt werden, zu deren Konsum mittels
Reklame erst das
falsche Bedürfnis geweckt werden muß. Auch der
Kulturapparat sorgt für weitere
Mechanismen und Ventile des Aggressionsabflusses.(Marcuse, Der
eindimensionale
Mensch)
Aber immer noch bleibt die
Unzufriedenheit,
der Alkoholismus und die steigende Invalidenziffer in den
Hospitälern für Irre.
Die Psychiatrie selbst ist denn
auch ein Produkt des Kapitalismus. Zwar gab es schon im Feudalismus
vereinzelt
die Aufbewahrung von Irren und Behandlungsversuche. Die merkantile
Produktion
konnte jedoch genau wie die bäuerliche die
mäßig gestörten Irren ohne
Schwierigkeiten in leichte Arbeiten integrieren. Mit der
frühen
Industrialisierung kamen vom Land die Massen in die Stadt und
verelendeten dort
vollends, nachdem durch die Maschinen ihnen wesentlich ihre
handwerklichen
Möglichkeiten durch die Konkurrenz in Geschwindigkeit,
Qualität und
Produktionskosten vernichtet wurden. „Infolgedessen wurde
eine große Zahl von
Menschen - 10 bis 30 Prozent der Bevölkerung - je nach Lage
des Arbeitsmarktes
in großen Internierungshäusern zwangsweise
aufbewahrt. In dieser Masse von
Internierten waren die Irren, sofern sie nicht aus den herrschenden
Klassen,
dem alten Adel und Großgrundbesitz oder dem neuen
Bürgertum stammten, zunächst
unterschiedslos eingeschlossen. Die kapitalistische Produktionsweise
erforderte
dann, daß auch die Internierten als potentielle
Arbeitskräfte auf dem
Arbeitsmarkt schnell und disponibel verfügbar sein
mußten. Dazu mußten auch sie
frei ihre Arbeitskraft verkaufen können. Die
Zuführung all der Arbeitslosen und
Asozialen zum Produktionsprozeß, verbunden mit der Aufhebung
der
Zwangsinternierung, erforderte - wie von Dörner gezeigt wird,
eine
wissenschaftliche und soziale Differenzierung dieser Menschenmassen:
die
Arbeitsfähigen mußten heraussortiert werden, und
auch die übrigen Personen
waren noch zu unterscheiden, so daß etwa die Verbrecher in
Zuchthäuser und die
Irren in Irrenanstalten gebracht werden konnten. Diese Differenzierung
setzte
sich während und nach der bürgerlichen Revolution
durch. Mit der
Ausdifferenzierung der Irren wurde aber auch die Psychiatrie als
Wissenschaft
erst möglich und sinnvoll.“(Gleiss, Seidel, Abholz,
Soziale Psychiatrie aaO 76)
Die Psychiatrie hat hieraus historische zwei Aufgaben: die Versorgung
der Invaliden
- ähnlich wie Siechenheime - und dann die Wiederherstellung
derArbeitsfähigkeit
des Kranken. Damit ist die industrielle Rentablität der
Psychiatrie
hergestellt. Doch funktioniert das nicht gut. Der heutige
psychiatrische Apparat
ist unfähig, die psychische Misere der kapitalistischen
Produktion aufzufangen.
Wenn er eines Tages so erweitert ist, daß er den ganzen
seelischen Müll, den
das Band produziert, schlucken kann, dann ist die Revolution in der
Psychiatrie
geglückt: die psychische Integration des Individuums, das
keines ist, ist total
gelungen. Damit sind die letzten Leidensspuren einer verknechteten
Menschenmasse beseitigt, deren seelische Ketten in ihren Herzen und
Leibern den
Schmerz wachgehalten hätten, der die Kehrseite
eschatologischer Hoffnung auf
Gottes Frieden ist.
Der aggressive Arbeiter kommt von
der Schicht. Wo geht er hin? Nach Hause oder zum Schrebergarten. Wer
ist da?
Seine Familie. Sie besteht aus einer Frau und/oder Kindern. Man kann in
einem
hochgradig komplexen Nexus wie der Familie keine Beziehung von der
anderen
isoliert betrachten, doch nötigt das methodische Provisorium
zunächst dazu. Mit
seiner Frau ist der Arbeiter recht wenig allein zusammen,
sodaß zwischen ihnen
auch wenig Konflikte Zeit zur Klärung finden. Durch die
erschöpfende Arbeit und
tägliche Sorgen und Ärgereien mit den Kindern, die
durch ihre Vitalität einer
zusätzliche Belastung großen Ausmaßes
darstellen, auch durch die häufigen
Repressionsakte während der Arbeit, ist der Mann
ermüdet und kann nicht mehr
offen genug für seine Frau sein. Falls diese nicht selbst zu
den 19 %
weiblichen Erwerbstätigen in der BRD oder gar noch zu den 70 %
aller
Arbeiterfrauen gehört, die am Fließband in
„Leichtlohngruppen“ die stupidesten
aller Handgriffe machen müssen, hat sie zumindest mit der ihr
überlassenen
Erziehungsrolle und der Haushaltsführung genug eigene Sorgen.
Unter solchen
seelischen Voraussetzungen beginnt für beide die Nacht. Die
Arbeit an der
Maschine prägt unweigerlich auch die Sensibilität; es
ist daher kein Wunder,
daß in einer solchen Nacht keine Zärtlichkeit in der
sexuellen Begegnung
möglich ist. Da zur Mannrolle zudem sogar
Aggressivität als Konstituens zählt,
findet der Unterschicht-eheliche Liebesakt tatsächlich
normalerweise in Form
einer Vergewaltigung statt, bei der die Frau nur besonders wenig
Widerstand
leistet. Selbstverständlich befriedigt sie das nicht, wenn
auch statistisch in
Unterschichtsbetten viel mehr getobt wird als in Mittelschichtbetten.
Kein Mann
aber wiederum ist so recht sexuell befriedigt, wenn er merkt,
daß er seine Frau
nicht befriedigen kann. Also frustriert ihn letztlich seine eigene
Bumsart.
Seine Frau wird langsam „frigide“, er vielleicht
bei genügend Feingefühl
impotent. Das alles ist kein Wunder bei der Strapaze seiner Arbeit.
Seine Frau
mag ihn brutal finden. Er seine Frau vielleicht als taube
Nuß, wie es so gemein
heißt. Diese gegenseitigen Interpretationen als Folge des
mißglückten Glücks zu
zweit können sich nun noch in den wechselseitigen Spiralen der
Metaidentitäten
steigern und plötzlich ist die Ehekrise da. Sie wird zum
Mittelpunkt des
Konflikts, der von der Fließbandaggression ausgelöst
wird. Da wiederum ein
elaborierter Code zur Erkenntnis der Strukturen dieses Konflikts als
Folge der
beruflichen Situation nur unzulänglich ausgebildet ist, wenn
er überhaupt
besteht, ist eine Lösung der sexuellen Frustrationen nicht
möglich und
psychisch wird das Ehebett schier zum Prokustesbett. Aus dem Bett aber
flieht
jeder Partner in seinen Freundeskreis - eine in Unterschichten sehr
stark
ausgebildete Erscheinung - und spült alles mit Alkohol
herunter. Bisweilen
sucht er Druckausgleich im Bordell oder bei grünen Witwen.
Sollte die werte
Gattin letzteres spitzkriegen, so ist entweder der Briefträger
oder Milchmann
seiner Unschuld nicht mehr sicher oder es kommt zum Schlag mit der
Bratpfanne
oder der Scheidung. Jedenfalls steigert sich der Konflikt und bildet
unermeßliche seelische Belastungen und viele, viele neue
Möglichkeiten für
Doppelbindungen. Es liegt auf der Hand, daß psychischen
Deformationen hier der
saftigste Urgrund gelegt ist. Für mich ist verwunderlich
nicht, daß so viele
Arbeiter psychisch kaputt sind, sondern so wenig.
Die Geschlechtsrollentrennung ist
in der Unterschicht viel rigider als in der Ober- und Mittelschicht.
Das stärkt
einen jeden Ehekonflikt. Einen gewissen Teil Aggression tragen im Mann
die von
ihm als feminin verdrängten Strebungen, die das
Unterdrücken durch Gegendruck
rächen, bei, in der Frau umgekehrt die unterdrückten
männlichen Strebungen. Im
Gegensatz zur Mittelschicht, wo auf Entfaltung aller individuellen
Fähigkeiten
und Begabungen Wert gelegt wird, wird in der Arbeiterklasse ein Mensch
nicht
als Individuum, sondern als Gruppenmitglied in Familie und
Freundeskreis gesehen
und beansprucht. „Die Identität des Individuums wird
durch seine
Gruppenzugehörigkeit und durch seine Konformität mit
den Normen der Gruppe
bestimmt.“(Gottschalch u.a., Sozialisationsforschung, Fischer
Tb, Frankfurt am
Main 1975, 85)
Durch unzureichenden Gebrauch von
Verhütungsmitteln werden trotz der schlechten materiellen
Situation in
Arbeiterfamilien recht viele Kinder geboren. Ist die staatliche
Beibehaltung
eines nur leicht geänderten § 218 motiviert von Angst
vor Geburtenrückgang und
dem damit befürchtbaren Kaufkraftschwund,
Arbeitskräftemangel und Profitverlust
der herrschenden Klasse? Steht hinter dem pathetischen
Plädoyer für ungeborenes
Leben angesichts der täglichen Duldung von Massenmorden in
Kriegen und
millionenfachem Hungertod geborener Kindern der Südwelt
vielleicht auch Angst
um die Verringerung des Proletariats, das dann weniger Mehrwert liefert
und das
Überangebot an Arbeitskraft in ein Überangebot an
Arbeitsplätzen wandelt und
damit in flehendes Bitten des Unternehmers, doch die Firma nicht im
Stick zu
lassen? Wie auch immer. Die Kinder der Arbeiter werden jedenfalls nicht
in
eitel Sonnschein ausgetragen und in Sorge, materielles Elend oder
zumindest
Einschränkungen hineingekreißt. „Die
häusliche Umgebung läßt sich
überspitzt
charakterisieren durch überfüllte und hygienisch oft
unzureichende Wohnungen;
das Fehlen einer abgeschlossenen Privatsphäre für
jedes Individuum, besonders
aber auch das Fehlen räumlicher Trennung von Erwachsenen und
Kindern;
mangelhafte Ausstattung der Wohnung mit 'stimulierenden'
Gegenständen: monotone
Wohnungseinrichtung; wenig adäquates Spielzeug;
beschränkte Möglichkeit, schon
im früher Alter zu lernen, mit später wichtigem
'Kulturwerkzeug' wie
Bleistiften, Büchern, Zeichenpapier etc.
umzugehen.“(Sozialisation und
kompensatorische Erziehung, Berlin 1969, 103)
Die Eltern müssen in den
Kindern
zwangsläufig den Grund für materielle
Einschränkung und andere Frustrationen
sehen, die mit der Versorgung verbunden sind. Daher ist ihr
Verhältnis mindestens
unterschwellig aggressiv geladen gegen die Kinder als
„unnütze Fresser“. Die
Erziehungspraktiken sind durchaus rigide; mit physischer Gewalt wird
der
elterliche Wille durchgesetzt. Dabei herrscht keine Korrelation
zwischen der
Straftat des Kindes und dem Strafmaß. In mittelschichtigen
Prügeln hingegen
wird das Maß der Schläge, sofern überhaupt
solche und nicht Liebesentzug, der
vermuteten Intention des Kindes angemessen und so ein für das
Kind
verständliches Sanktionssystem hergestellt, über das
im Kind ein kleines
Überich erbaut werden kann. Endergebnis ist
schließlich ein vollständiger
Normen- und Wertehimmel wie der des schlagenden Vaters. Die
Strafhärte in der
Unterschicht entspricht einzig der Wut des Züchtigenden. Das
Kind kann also
keinen Zusammenhang zwischen seiner Tat und den Folterungen (bei
Kindern ist
die Schmerzschwelle wesentlich höher) erkennen. Es
erfährt sie als
unberechenbare Ausbrüche seiner Eltern, oft der Mutter, die in
der Unterschicht
aufgrund ihrer hauptamtlichen Zuständigkeit für die
Erziehung die eigentliche
Machtstellung in der Familie einnimmt, und kann diese Aggression nicht
assoziieren mit einem Normenhorizont. Nicht nur hierdurch wird die
Bildung
eines Überich erschwert, wenn nicht verunmöglicht,
auch die häufigen Streitereien,
gar Schlägereien zwischen den Eltern, die sich sexuell nicht
vertragen,
verhindern jede Identifikation mit ihnen im Ansatz. Der Vater ist
sowieso meist
bei Freunden oder zur Arbeit, aber auch die Mutter spielt nicht wie
Mittelschichtmütter mit den Kindern, was ja zum Aufbau und
Erlernen
menschlicher Beziehungen nottut. Denn sie hat genug mit Versorgung und
oft noch
der eigenen Berufsarbeit zu tun. Die Kinder sind im Lernen von Rollen
und
Kommunikation daher auf ihre Kindergruppen auf der Straße
angewiesen. Diese
ersetzen ein Stückweit die Identifikation mit den Eltern durch
den
faschistoiden kollektiven Narzißmus, der hier gelernt wird
und die Ichschwäche
nicht verringert; nur in Gruppen fühlen sie sich stark.
Bisweilen spielen diese
Gruppen, werden sie älter, Automatenplündern,
Autoknacken und Ladendiebstähle.
Sie wissen nicht, daß sie etwas anderes brauchen, als sie
sich holen. Liebe.
Strukturell kann man drei
Erziehungsweisen unterscheiden.
1.
Die machtorientierte Methode wendet
physische
Gewalt, Schimpfen, Spotten und Entzug von Privilegien an. Sie ist in
der
Unterschicht dominant, wird aber auch in höheren Schichten
appliziert. Sie
verhindert weitgehend die Verinnerlichung elterlicher Normen
(Über-Ich) und
läßt nur defensive Identifikation mit den Eltern zu.
Dadurch werden die
Konflikte nach außen gelenkt, die in der Erziehung auftreten.
Das Kind
empfindet - übrigens realitätsnaher als bei
Innenleitung der Konflikte - den
Konflikt als Widerspruch des Selbst mit den Eltern als Vertretern der
Umwelt.
Zur Lösung solcher Konflikte wird es versuchen, den Kontakt
zum Gegenpol des
Widerspruchs zu verringern oder abzubrechen, mit Freuds Modell gesagt:
Das Ich
macht sich zum Anwalt des Es gegen das nicht akzeptierte
Überich und die
Realität. Genau dies aber ist die Grundstruktur der Psychose,
die als
Abwehrreaktion gegen äußere Realitäten
wirkt. Motto: Prügel vergeht, Arsch
besteht.
2.
Die induktive Erziehungsmethode ist
zwar auch auf
physischer Gewaltanwendung und ähnlichen Strategien aufgebaut,
sie
unterscheidet sich jedoch grundlegend in der Applikation dieser Mittel
von der
machtorientierten. Während die machtorientierte das
Strafmaß nach der Aggression
des Strafenden orientiert, welche bis zu einem gewissen Grade wiederum
von den
Folgen der kindlichen Straftat bestimmt wird im Ausmaß, ist
in der induktiven
Methode das Strafmaß durch die Intention bestimmt, die beim
Kind vermutet wird
hinter der Tat. Dadurch assoziiert das Kind einen
Absicht-Folge-Zusammenhang.
Somit ist eine direkte Kontrolle der Absichten des Kindes
möglich; wobei immer
ein großer Unsicherheitsfaktor bei der Erkenntnis der Absicht
bleibt, der dazu
führen kann, daß das gestrafte Kind erst
nachträglich die ihm unterstellten
Absichten zu haben lernt und diese sogar noch mit der Aggression
vertritt, die
es durch die ungerechte Strafe verspürt. Diese Methode wird
gewöhnlich in
Mittelschichten eingewendet. Mit ihr geht dadurch einher, daß
die strafenden
Eltern zugleich diejenigen sind, mit denen das Kind sich identifiziert;
aufgrund der relativ gleichbleibenden Liebeszuwendungen, dh deren
Normen es zum
Überich verinnerlicht. Die Strafe ist darum intellegibel und
wirkt als eine
äußere Maßnahme zur weitergehenden
Internalisierung der Überichnormen, die in
Verbindung mit der elterlichen Liebeszuwendung eine
größere Verbindung von Ich
und Überich zufolge hat als die von Ich und Es. Dadurch
gelingt der induktiven
Methode eine weitgehende Verdrängung der Es-Strebungen. Wie
wir früher sahen,
spaltet sich in dem Individuum mittels des Überich das Ich
gegen das Es als
Subjekt-Objekt-Verdrängungmacht, während umgekehrt
das Es gegen das Ich
arbeitet und sich das Ich zum Objekt macht und zu Sprach- und
Interaktionsnstörungen gegen den Willen des Individuums
führt. Diese psychische
Disposition wird als neurotisch bezeichnet. Die Neurose als Ergebnis
mittelständischer Sozialisationsbemühungen leitet im
Gegensatz zur Psychose die
Konflikte nach innen in die Ebene zwischen Es und Ich und
führt hier zur
Störung. Weil der Neurotiker den primär
äußerlichen Gegenpol des
Erziehungskonflikts, nämlich die Eltern, internalisiert hat,
kann er sich dem
Konflikt nicht wie der Psychotiker durch Realitätsflucht
entziehen. Er ist
selbst zum Konflikt geworden, während der Psychotiker erst in
Konflikt kommt,
wenn die Realität ihn attakiert. Neurose war Freuds
Grundmodell von psychischer
Invalidität. Es wird verständlich, wenn man beachtet,
an welchen Personen Freud
seine theoretischen Erkenntnisse gewonnen hat: 7 % Wohlhabende, 23 %
Mittelstand und 3 % Arme (Gleiss/Seidel/Abholz, Soziale Psychiatrie aaO
8). Die
gesamte Psychotherapie ist denn auch auf den Mittelstand hin
konzipiert,
abgesehen davon, daß sie durch das Bürgertum wurde.
Deshalb mußte die
Gesprächstherapie auch scheitern am restringierten Code, was
dann schnell als
Rechtfertigung des pharmakologischen Unrechts benutzt wurde, das
Psychotikern
in Klapsmühlen angetan wird, weil sie angeblich austherapiert
sind. Die
induktive Erziehungsmethode wendet zumindest nicht weniger
Schläge an als die
machtorientierte, sie sind lediglich gezielter. Dies entspricht dem
für
Mittelschichten charakteristischen langfristigen Planungsverhalten. Die
Geschlechtsrollentrennung ist bei Eltern und Kindern viel geringer als
in der
Unterschicht. Die Persönlichkeit des Kindes wird
gefördert, die Eltern gewähren
sehr viel Autonomie und Freiheit, durch den elaborierten Code besteht
die
Möglichkeit zur Entfaltung höherer kognitiver
Fähigkeiten und Aufbau
differenzierter Beziehungen zu anderen. Die weiträumigeren
Wohnverhältnisse
begünstigen Autonomie-entfaltung, Kognition und
Lernfähigkeit und vermeiden
auch viele Konflikte, die durch gegenseitige Störungen
entstehen. Durch einen
geringeren Aggressionsstoff werden
verhältnismäßig mehr
Zärtlichkeiten und
Liebeszuwendungen möglich, die ein Gefühl von
Akzeptiertsein vermitteln. Damit
kann Ichstärke herangezogen werden.
3.
Die dritte Methode der
Erziehungstechnik ist die
liebes-orientierte. Sie hat mit Liebe übrigens nichts zu tun.
„Typisch für die
liebesorientierten Erziehungsmethoden ist, daß die
elterlichen Affektionen
primär als Kontrollmittel eingesetzt werden. Das Geben und
Nehmen der positiven
Zuwendungen wird als Belohnung bzw. als Bestrafung der kindlichen
Absichten
eingesetzt. Das Kind entspricht primär aus Angst vor
Liebesverlust den Erwartungen
der Eltern. Diese Technik wird vor allem von Müttern
angewandt, seltener von
den am Erziehungsprozeß weniger engagierten Vätern.
Sie impliziert ein
erhebliches Ausmaß an psychischem
Zwang.“(Gottschalch u.a.
Sozialisationsforschung aaO 101) Hauptsächliche Anwendung
findet diese Methode
bei Mädchen. Die strategisch vorgespielte soziale Anerkennung,
die hier als
Sanktion Verwendung findet, arbeitet viel stärker mit der
Metaidentitat. Das
gekoste Mädchen erfährt, daß ihre Mutter
ein gutes Bild von ihr hat. Sie wird
geliebt, weil sie gut ist, etwas gutes getan hat usw. Erhält
sie aber keine
Liebeszuwendung, so muß sie assoziieren, daß sie
schlecht sei. Ein so erzogenes
Mädchen braucht immer einen Menschen, der sie liebt, um sich
selbst akzeptieren
zu können. Sie ist damit faktisch völlig
abhängig von ihrer sozialen Identität
als Geliebter. Ihre Angstbereitschaft im Falle einer Verstimmung des
Liebesverhältnisses ist so groß, daß sie
alles tun wird, um die Zufuhr an
Zuwendung wiederherzustellen. Damit ist sie perfekt abgerichtet
für ihre Rolle
als Sklavin des künftigen Gatten. Die liebesorientierte
Sozialisation ist die
Säule jeder vernünftigen Unterdrückung der
Frau. Wie man sieht, wird Liebe hier
zur Erpressung genutzt. Es ist natürlich keine Liebe. Die
Leistungsfähigkeit
der Mädchen ist direkt abhängig von ihrer sozialen
Anerkennung. Nur der Wunsch
nach ihr stellt überhaupt die Leistungsbereitschaft und
-fähigkeit her. Da von
Frauen gesellschaftlich keine intellektuellen Fähigkeiten
sondern
Einfühlvermögen usw. verlangt werden, sind
liebesorientiert erzogene Mädchen
nachgerade unfähig, diese Fähigkeiten auszuleben,
weil sie keine soziale
Anerkennung finden, eher sogar Ablehnung. Mit liebesorientierter
Technik
erreicht man beim Zögling totale Anpassung und der Verzicht
auf jede Autonomie
ist garantiert. Das Aggressionspotential bei dieser Erziehung ist
relativ
gering bei gleichem oder noch besserem Erfolge gegenüber der
machtorientierte
Methode und der gleichfalls autoritären induktiven Me-thode.
Die autoritär geprügelten
Knaben können wenigsten noch minimal eine
Selbstidentität errichten, die von
den anderen unabhängig ist und den Grund der Strafe auf die
scheißverdammte
Borniertheit des Prügelmeisters
zurückführen. Die Mädchen aber sind dem
Schmollen der Mutter hilflos ausgeliefert und später der durch
die
Arbeitsmüdigkeit bedingten Schlaffheit ihres Mannes.
Vielleicht werden sie den
Grund für das mißglückte Glück
sogar noch in sich selbst suchen. Denn der Grund
für mangelnde Anerkennung kann ja nur in ihnen selbst liegen.
Glauben sie.
Wir sind wieder am Ausgangspunkt:
der Doppelbindung. Die liebesorientierte Methode arbeitet mit
Doppelbindungen.
A)
Die
Mutter liebt ihre Tochter, wenn sie etwas gutes tut.
B)
Es ist
aber keine Liebe, weil sie Bedingungen stellt.
C)
Würde die
Tochter das aur Sprache bringen, so würde ihr die Liebe
entzogen werden, weil
die Mutter selbst das nicht wahrhaben will.
Andere Möglichkeit:
A.)
Wenn die
Tochter sich entfalten will, wird sie zB intellektuelle
Fähigkeiten“
entwickeln. Ihre Mutter will immer nur das beste für ihre
Tochter, weil sie sie
angeblich liebt.
B.)
Die
Mutter fühlt sich von der Intellektualität der
Tochter verunsichert, bekommt
Angst vor ihr und zieht sich zurück. Sie reduziert auch die
Zuwendung. Die
Tochter bekommt nun Angst, weil die Mutter sie nicht mehr liebt. Sie
erkennt,
daß der Grund ihr Intellekt ist. Um die Liebe der Mutter
zurückzugewinnen, muß
sie also auf ihren Intellekt verzichten. Aber wenn einmal errungener
Intellekt
nicht mehr weggeht, so sitzt sie in der Zwickmühle. Wenn es
ihr nicht gelingt,
auf die Liebe der Mutter zu verzichten, und das ist wiederum
anzunehmen, dann
bleibt ihr nur noch die Introjektion des Intellekts. Sie wird sich nach
außen
zu ihrer Mutter dumm stellen, zu dumm sogar, und nach innen mit aller
Kraft
ihres Intellekts leben - aber unter der Bedingung, nie etwas von dieser
inneren
Welt nach außen dringen zu lassen. Sie wird schizophren.
C.)
Jede
Metakommunikation über dieses Problem mit ihrer Mutter
wäre unmöglich, da die
Mutter dies wiederum nur als Versuch sehen würde, sie mit
ihren intellektuellen
Kräften zu besiegen.
D.)
Diese
Situation hat Ähnlichkeiten zu meinem Verhältnis zu
meiner Mutter.
Ähnlichkeiten.
Der gesellschaftlich gesetzte
Hauptwiderspruch in
der Beziehung der Unterschichteltern zu ihren Kindern, der je seine
spezifische
Variation erfährt, ist der, daß die Kinder eine
Existenzbedrohung sind, daß sie
aber Liebe verlangen. Die Unerwünschten brauchen das
Gewünschtwerden. Kein
Mensch kann dieser Forderung der brüllenden Babys im Slum
gerecht werden. Außer
er spielt. Er kann spielen, sie zu lieben, in Wirklichkeit aber sind
sie ihm
lästig. Die Unterschichteltern können ihre Kinder oft
eben nicht lieben. Sie
werden aber zumindest versuchen, da sie wissen, daß Kinder
Liebe brauchen,
diesen Liebe vorzutäuschen. Sie haben also zwei
Verhältnisse gleichzeitig zum
Kind. Die Kinder merken das irgendwie, können aber nicht
erkennen, was da los
ist. Sie sind nur völlig ontologisch unsicher und wissen
schließlich nicht
mehr, ob eine Mitteilung wörtlich zu nehmen ist oder das
Gegenteil gemeint ist.
Da von Mitteilungen die Existenz abhängt, gibt es nur noch
drei Möglichkeiten
des Verhaltens:
1.
Man
vermutet immer das Gegenteil von dem Wörtlichen, wittert
verborgene
Bedeutungen. Man wird paranoid.
2.
Man nimmt
alles wörtlichst, ohne Kontext und ignoriert alle
mitschwebenden Bedeutungen
und Stimmungen. Das ist Hebephrenie.
3.
Oder man
ignoriert überhaupt jede Mitteilung. Man wird kataton.
Das Problem ist, daß
einer Liebe
braucht, der andere sie aber nicht hat und nur spielt. Wenn einer viel
Liebe
braucht, kann er leicht schizophren werden, denn wir können
alle zuwenig
lieben, weil wir alle zuwenig geliebt werden. Das Problem ist eine der
Ausführungen des kapitalistischen Grundwiderspruchs, bei dem
es um Eskalation
von Gewalt, Repression, Trostlosigkeit, Krankheit und
Hoffnungslosigkeit geht.
Wir brauchen Eskalationen der Liebe.
Der Weg dahin führt
über den Tod.
Über den Tod eben dieser expropriatorischen
ökonomischen Verhältnisse, weil sie
Liebe faktisch verwehren. Das Leiden der Schizophrenen, Kriminellen
usw. ist
eine Übertreibung von Verhältnislosigkeit. Es ist
eine Übertreibung
verhältnisloser Verhältnisse. Es ist eine Karrikatur
des Todes, der unser Leben
ausmacht und den wir schon gestorben sind. „Je weniger die
Subjekte mehr leben,
desto jäher, schreckhafter der Tod. Daran, daß er
sie buchstäblich in Dinge
verwandelt, werden sie ihres permanenten Todes, der Verdinglichung
inne, der
von ihnen mitverschuldeten Form Ihrer Beziehungen.“(Th.W.
Adorno, Negative
Dialektik, aaO 361)
Ursprünglich wollte ich
untersuchen, ob das
Christentum in seiner heutigen volkskirchlichen Ausprägung in
der BRD eine
Entwicklung von Geisteskrankheiten begünstigt. Zu diesem
Zusammenhang sind
bisher keine empirischen Untersuchungen veröffentlicht und es
scheint, daß in
der sozialpsychologischen Forschung dieser Zusammenhang nicht
interessiert. Es
mag damit zusammenhängen, daß für die
meisten der Forscher das Christentum kein
reales Problem bildet. Zur Zeit wird in Zürich eine
Dissertation über diesen
Zusammenhang geschrieben. Darin werden wohl erstmals auch empirische
Erhebungen
zu dieser Frage vorgelegt. Ich kann hier nur spekulativ argumentieren,
weil mir
solche Daten fehlen.
Die Frage ist, ob Spekulation in
jedem Fall schon
irrelevant ist. Die Verwerfung von Spekulation und Reflexion (wobei der
Reflexion meist der Vorwurf gemacht wird, sie sei Spekulation und daher
unwahr), kommt aus dem Lager des Positivismus. Zum einen ist jede
Forschung auf
Arbeitshypothesen angewiesen, die spekulativ sind von Natur aus; die
gewaltigsten empirischen Fortschritte kamen durch die kühnsten
Hypothesen
zustande. Zum anderen bewegt sich jede historische Wissenschaft auf dem
Gebiet
der Wahrscheinlichkeit und Spekulation, da über vergangene
Ereignisse und
historische Zusammenhänge nie exakte Aussagen gemacht werden
können; die
Nachprüfbarkeit ist an Überlieferungen gebunden,
deren Exaktheit immer je nur
hochgradig wahrscheinlich ist, wenn überhaupt.
Ich nehme an, daß
mögliche Leser
dieser Arbeit das Christentum lieben. Sie werden sich angegriffen
fühlen in
ihrer wichtigsten Identität. Das jedenfalls zeigen die
Reaktionen der Leute,
die ich bisher versuchte, mit meinen Gedanken vertraut zu machen. Es
ist sehr
schwer, Reflexionen, von denen man annimmt, sie richten sich gegen die
eigene
Existenz, noch mit der normalen Offenheit aufzunehmen. Die
Ängste, die meine
These bei Christen (was immer Christen sind) auslöst, machen
eine sachliche
Auseinandersetzung über die Frage, ob Christentum
Geisteskrankheit sei, fast
unmöglich. Denn Christentum ist bei Christen ein unendlich
positiver Wert,
Geisteskrankheit ein negativer.(Adorno, Bemerkungen über
Politik und Neurose,
in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/Main
(Suhrkamp) 1971,
87-92) Es geht mir nicht um die Destruktion des Christentums, sondern
um die
Reflexion und Korrektur derjenigen Aussagen innerhalb des christlichen
Glaubens, die empfängliche und sensible Menschen seelisch
zerstören können,
insbesondere die christliche von Platon aufgegriffene Leibfeindschaft
und
Weltflucht. Es geht auch um das Unrecht, welches vielen
Insassen von
Irrenhäuser über Jahrhunderte zugefügt
wurde, indem sie wie Tiere eines Zoos
behandelt wurden, während zeitgleich Mitglieder der
Kirchengemeinde, die in
ihrem Auftreten nach außen hin recht ähnlich wirken,
in oft erheblichem Umfang
geachtet werden. „Sondern was töricht ist vor der
Welt, das hat Gott erwählt,
damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt,
das hat
Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark
ist.“(1 Kor 1,27) Darin
liegt genau der Widerstand der Paranoiker gegen die
„Vernunft“ der Wärter des
Irrenhauses. Darin liegt eine Sprengkraft. Das erinnert an den
streitbaren
Jesus in den Debatten übers Ährenraufen und die Tora.
Die Pfingstkirche wurde
als „voll des süßen Weins“
verlacht. Die Urkirche war noch das Irrenhaus, in
dem es drunter und drüber ging wie in einer baptistischen
Gemeinde. Der
lutherische Gottesdienst ist zu einer Zwangshandlung geworden, in der
einstige
psychotische Erlebensformen in vorwiegend neurotische Rituale umgelenkt
sind,
die aber für empfindsame Seelchen schizophrenogene
double-bind-Strukturen
offerieren.
Methodisch gibt es ein
Bündel von
Schwierigkeiten: Zum einen ist Schizophrenie klassisch in drei Formen
eingeteilt, Hebephrenie, Katatonie und Paranoia. Entsprechend
vielfältig ist
das, was an Formen des Christentums darunter diagnostizierbar
wäre. Am ehesten fällt
Kraepelins „Negativismus“ heraus, also alle Formen
individuellen Protestes,
während das wörtliche Ernstnehmen biblischer
Sätze oft hebephrene Formen
annimmt, wie etwa der Nahrungsverweigerer, der sein Fleisch kreuzigen
will.
Zum anderen
müßte man systematisch
das Christentum in folgenden Ebenen untersuchen:
1.
Neues Testament: Paulusbriefe und
johannäischer
Kreis mit gnostischem Dualismus
2.
Dichotome Dogmatik:
Sündenlehre, Ekklesiologie,
Ethik, bes. 2-Reiche-Lehre
3.
Theoretische Vermittlung als
Katechismus, Konfirmandenkurse,
Bibelstunden
4.
Praktische Vermittlung als
Gottesdienst mit
Liturgie, Liedern, Sakramenten und Predigt
5.
Kommunikation innerhalb der
Gemeinde in
Gruppenarbeit, Festen, Kirchentagen usw.
Diese umfassende Forschungsarbeit
sprengt den Rahmen einer Seminararbeit. Hier geht es zunächst
nur um besonders
ins Auge stechende Konvergenzen und keine flächendeckende
Frömmigkeits-Analyse.
Man wird erkennen, daß viele Syndrome und Symptome von
Schizophrenie im opus
paulinum et iohanneum, der protestantischen Exegese, Dogmatik, Ethik
und
Gemeindearbeit diagnostizierbar sind. Katholizismus und Freikirchen
bleiben
unbeachtet, obwohl man dort noch wesentlich fündiger werden
könnte. Ein
Härtefall sind Zeugen Jehovas und ähnliche
Freikirchen mit kleiner, fester und
überschaubarer Sozialstruktur.
Wenn ich hier von Christentum
spreche, so meine ich vor allem das deutsche lutherische
Kerngemeinde-Denken,
wie es in Luthers Kleinem Katechismus während des
Konfirmandenunterrichts
auswendig gelernt wird und deshalb in weiten Kreisen der Volkskirche
bekannt
und in Bibelkreisen, der SMD und evangelikalen Gruppen
handlungsleitende communis
opinio ist.
Der Glaube als dogmatisches
System in Bibel, Lehre, Predigt und Ritualen kann schizoid sein,
während
schizophren jeweils nur das konkrete gläubige Individuum ist.
So kann man
flächendeckend vorsichtiger nur von einer schizoiden
Glaubensstruktur sprechen,
während die schizophrene Stufe des Realitätsverlustes
nur einzelne, besonders
fromme Individuen erreichen.
Laing unterscheidet schizophren
von schizoid. Er sagt, eine schizoide Struktur der Erfahrung (also zB
von
Innenwelt und Außenwelt) sei noch nicht schizophren.
Sicherlich ist es etwas
anderes, ob jemand unter Streßüberforderung oder in
der experimentellen
Psychose mit LSD eine Bewußtseinsspaltung, ein
Loslösen von der Realität nur
kurzzeitig erlebt und hinterher wieder fähig ist,
Realität in der
vorgeschriebenen Form wahrzunehmen. Oder ob man für immer die
Fähigkeit
verloren hat, verschiedene Erfahrungen zu einem ein(z)igen Sein
zusammenzufügen. Der Unterschied ist der, daß der
Schizoide fähig ist, an
„unserer“ Realität teilzunehmen. Es ist
also lediglich die Frage, welche
Normgebilde und welche Erfahrungsmodi als
„Realität“ vereinbart werden. Nach
Laing kennzeichnet den Schizophrenen im Gegensatz zum Schizoiden,
daß er nicht
an unserer Realität teilnimmt. Unter dieser
Maßgabe kann man nicht
sagen, das Christentum sei schizophren. Es gelingt den volkskirchlichen
Christen doch immerhin, im Zusammenleben mit anderen zurechtzukommen
und sich
in die „Realität“, ins satangesteuerte
„Reich der Welt“ zu integrieren. Aber
diese Realität ist ja immerhin über 2000 Jahre lang
durch die Einwirkungen des
Christentums geprägt. Darum ist die Differenz zwischen dem
Christentum und dem,
was heute unter allgemeinem Konsensus für real gehalten wird,
nicht völlig
dissonant. Diese Differenz wird größer in der
Konfrontation des Christentums
mit anderen Kulturen. In der Sowjetunion war die Akzeptanz christlichen
Verhaltens geringer. Darum konnten dort viele Christen des inneren
Gemeindezirkels zwangsinterniert werden, sobald sie mit
öffentlichen Auftritten
gegen das Regime zu querulieren begannen. Ob Christentum schizophren
ist, wird
davon abhängen, was wir mit dem Ettikett
„Realität“ versehen. Ich meine mit
Realität den jeweils fortgeschrittensten Stand von
Wissenschaften, Humanität
und Kultur. In einer liberalen Gesellschaft mit ausgeprägter
Religionsfreiheit
wird man jedem Tierchen sein Plaisierchen lassen und einer Dame, die
mit einem
Plakat „Jesus lebt“ die
Fußgängerzone unsicher macht, ihre Freude lassen.
Man
wird die Sonderlinge nicht mehr gleich einsperren.
Der iranische Dualismus von gutem
Licht und schlechter Finsternis, himmlischer Offenbarung und
verblendeter Welt
durchzieht flächendeckend das Schrifttum von Paulus und
Johannes. Diese
Struktur ist schizoid und teilt den gesamten Kosmos in einen
versündigten
unreinen Bereich und einen heiligen reinen Bereich. Die Furcht vor dem
Sündenbereich und die Flucht aus dieser Sphäre
führt zwangsläufig zu einer paranoischen
Wahrnehmung der Welt. Hinter allem könnte insgeheim der Teufel
stecken. Die
schizoide Dogmatik, wird sie wörtlich hebephren
rezipiert, führt also
zur Paranoia auf der Ebene gelebter Frömmigkeit. Die Katatonie
besteht
oft darin, eine bestimmte Geste oder Szene zwanghaft zu wiederholen.
Die kann
man - in etwas weniger lebensgefährlicher Form als beim Stupor
- den
gottesdienstlichen Ritualen zuerkennen. Die Liturgie und das Sakrament
wollen
durch ihre stete Wiederholung das gleiche erreichen wie der Katatone:
Sie
vergegenwärtigen eine zurückliegende Erfahrung,
halten sich an ihr fest, wie
krampfhaft auch immer.
Es dürfte treffend sein,
von einer schizoiden
Struktur des christlichen Glaubens zu sprechen, der sich sowohl im
Reich Gottes
als auch im Reich dieser Welt zurechtfindet.
Der erste Baustein der
religiösen double bind ist:
Gott sieht und hört alles. „HERR, du erforschest
mich und kennest mich. Ich
sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine
Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.
Denn siehe,
es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon
wüßtest. Von allen
Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über
mir. Diese Erkenntnis ist mir
zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich
gehen
vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
Führe ich
gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so
bist du
auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und
bliebe am äußersten Meer, so würde
auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Spräche ich:
Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein
-, so wäre auch
Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag.
Finsternis ist wie das Licht. 23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein
Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf
bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege.“(Ps 139)
Der zweite Baustein ist die Lehre,
der Mensch sei
allzumal Sünder. Er kann nicht anders als sündigen
und hat immer etwas
ausgefressen, was Gottes geschätzter Aufpasser-Aufmerksamkeit
nicht entgeht.
Selbst die kleinste aggressive Regung, Verärgerung,
Kränkung ist schon Sünde.
Alle fundamentalen Instinkte zur Selbsterhaltung sind Sünde.
„Denn ich weiß,
daß in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts
Gutes wohnt. Wollen habe ich
wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“(Rm 7,18) Der
Mensch ist von
Grund auf schlecht. Er ist todeswürdig.
Der dritte Baustein, das Verbot,
den Widerspruch
zwischen Mensch als Bild Gottes (Gen 1,27) und
verdammungswürdigem Sünder zu
benennen und zu kommunizieren, besteht darin, solche Fragen und Zweifel
als
Anfechtung dem Teufel zuzuschreiben, der einen befällt mit der
Hure Vernunft
und vom Glauben abzubringen sucht. Dann muß für den
Angefochteten gebetet
werden und er selbst muß ebenfalls beten, daß diese
bösen Gedanken, deutliches
Zeichen seiner Sündhaftigkeit und Bestätigung von
Baustein 2, aus seinem Gehirn
weichen. Viele Psalmen erbitten so auch den Schutz Gottes gegen die
Zweifler
und Spötter, die sich über den Gläubigen
lustig machen, wenn sein Gott ihm
Krankheit oder Konkurs beschert hat, Züchtigung aus Liebe eben.
Es besteht innerhalb des
theologischen Diskurses
keine Möglichkeit, aus dieser Falle herauszutreten und zu
sagen: hier stimmt
etwas ganz und gar nicht. Ich bin kein Sünder, wenn ich
wütend über einen Gott
bin, der angeblich allmächtig ist und die Menschen,
für die er seinen Jesus
gemordet hat, dann letztlich auch in die Gaskammern schickt, ohne ihnen
zu
helfen. Ist das denn noch im Rahmen des „Wen Gott liebt, den
züchtigt er“ zu
verantworten? Entweder ist Gott allmächtig, dann ist er aber
auch ein arger
Mordbube, oder er kann da nichts gegen tun, dann ist er in den
Schwachen
mächtig, also ohnmächtig gegen die Herren der Welt.
Dann sieht er mir aber auch
nicht kontrollierend ins Herz. Dann muß ich auch nicht
beichten und immerfort
mich schuldig fühlen. Wer solche Fragen stellt,
lästert Gott. Der kann nicht
Pastor werden. Der gehört exkommuniziert, damit die Wehrkraft
nicht zersetzt
wird beim Kampf des Glaubens gegen die von Satan durchwaltete
feindliche Welt.
Dabei finden sich unter den
Mitgliedern der
Kerngemeinde fast durchgängig depressive Charaktere wie
Luther, in se curvatus,
die zugleich einen übergroßen Narzißmus im
Wissen, daß gerade sie von Gott
erwählt sind, hervorbringen. Psychiatrisch gesehen bildet
diese Depression
durch Selbstentwertung eine Vorstufe zur habitualisierten
Schizophrenie. Die
Einübungsformel in diese induzierte Depression ist die Beichte
vor dem
lutherischen Abendmahl, die nach dem Kleinen Katechismus jeder
Konfirmand
meiner Zeit auswendig gelernt hat: „Allmächtiger
Gott, barmherziger Vater, ich
armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine
Sünde und Missetat,
womit ich dich jemals erzürnt und deine Strafe zeitlich und
ewig wohl verdient
habe. Sie sind mir aber alle herzlich leid und reuen mich sehr, und ich
bitte
dich durch deine grundlose Barmherzigkeit und durch das unschuldige,
bittere
Leiden und Sterben deines lieben Sohnes Jesus Christus, du wollest mir
armen
sündhaften Menschen gnädig und barmherzig sein, mir
alle meine Sünde vergeben
und mir zu meiner Besserung deines Heiligen Geistes Kraft verleihen.
Amen.“ Was
macht das mit einem 13jährigen pubertierenden Jugendlichen,
der bis auf einige
Streiche nichts verbrochen hat, anders als sein Vater, der
Massenhinrichtungen
beiwohnen durfte? So wird denn auch im katholischen Beichtstuhl
vorzugsweise
über Sex als einzige Sünde geredet, derer man sich
bewußt ist. Die wunderbaren
Onanieerlebnisse oder Pettingaktionen werden zu Quellen des
Schuldgefühles,
welches ansonsten nur noch ein einsames Widerwort gegen den Vater
vorzuweisen
hat. Der erstarkende Sexualtrieb des Jugendlichen
läßt keine Besserung dieser
Sünden zu und erzürnt Gott zeitlich und ewig und
schrecklicherweise ist auch
noch Jesus für dieses ewige Wiedererstarken der Wolllust
gestorben. So wird der
überstarke Sexualtrieb in der Jugend zur willkommenen Quelle
eines überstarken
Sündergefühles – in Ermangelung wirklicher
und ernsthafter Sünden. Man lästert
Gott nicht, geht sonntags in die Kirche, um seinen Stempel ins
Konfirmandenheft
zu bekommen, ehrt gehorsam die Eltern, die ansonsten recht ruppig
würden, tötet
nichts bis auf einmal versehentlich eine Schnecke, bricht keine Ehe,
stiehlt
nur mal ein Sahnebonbon aus dem Küchenschrank, lügt,
weil man später sagt, man
war es nicht, begehrt auch nicht die Frau des Nachbarn oder deren
Fahrrad oder
deren Katze oder deren Haus. Man findet praktisch nichts an
Sünde beim
Abklopfen der Zehn Gebote. Wenigstens hat man den Sex noch, der immer
verboten
ist und die einzige greifbare Sünde, die einem
einfällt. So ist man froh,
endlich eine passende Sünde für die Beichte gefunden
zu haben und hat etwas,
wofür man sich schämen kann. Dann endlich klappt es
mit der Beichte und mit dem
erforderlichen Sich-schlecht-fühlen, mit der Scham,
Peinlichkeit, mit dem
Leiden unter dem geilen Fleisch, welches den inneren Menschen (Rm 7,22)
beständigt in dessen Andacht behindert. Dies ist eine
idealtypische
religionspädagogische Hinführung auf die zerknirschte
Bereitschaft zum Empfang
der göttlichen vergebenden Gnade. Rüpel oder
Schlampen, die schlimmere Vergehen
sich haben zu schulden kommen lassen, pflegen in kirchlichen Gruppen
nur kurz
zu weilen und lassen auf der Suche nach größeren
Abenteuern die zopfigen
Kirchengruppen schnell hinter sich. Sie haben die Chance, ein gesundes
Ich zu
entwickeln. Die anderen lernen in Beichte und Kyrie jeden Sonntag, sich
als
arme elende Sünder zu definieren und fühlen. Das ist
eine wichtige Vorstufe auf
dem Weg, den Körper mit seiner stetig neu keimenden Lust als
etwas fremdes,
tierisches, abartiges auszugrenzen und ihn wahrhaft als Es zu erleben,
dem das
Ich feindlich gegenübersteht, verzweifelt, ausgeliefert,
voller Scham, nicht
stärker widerstehen zu können und immer wieder zu
sexuellen Handlungen
gezwungen zu werden. Das Ich will nicht, aber die Hand rubbelt. Wie
peinlich,
erniedrigend, die Scham, nach dem Orgasmus wieder aus der Ohnmacht zu
erwachen
und zu begreifen, was geschehen ist. Man hat es wieder nicht geschafft,
zu
widerstehen. Das ist der tertius usus legis in Aktion: das Verbot
schafft die
Sündenerkenntnis als Reue, die das Evangelium von der Gnade
aufgrund des
Kreuzestodes Christi dankbar annehmen kann. „Dir sind deine
Sünden vergeben,
aber sündige hinfort nie wieder!“ Drei Tage
später ist es dann wieder so weit,
der nächste Sündenfall. Der heranwachsende
Jung-Christ findet sich immer mehr
widerlich, peinlich, ekelhaft.
Die Autoren der Bibel bedienen
sich mythischer Weltdeutung. Diese widerspricht der heutigen
Wissenschaftserkenntnis, ist darum als eine historisch bedingte
Erkenntnisstufe
zu verstehen, aber nicht mehr akzeptabel für die
Interpretation unserer
Welterfahrung. Bultmann wollte darum die Texte entmythologisieren. Er
hat das
getan, indem er sie durch die Mythik Martin Heideggers ersetzt hat
unter
angeblicher Beibehaltung der inhaltlichen Aussagen. Wir werden
versuchen, sie
in unsere Mythen zu übersetzen. Jede Theologie ist ein solcher
Übersetzungsversuch in die modernen Mythen. Unsere
Realität besteht wesentlich
aus den gerade modernen Mythen, mit denen jeder im Sozialverband
gezwungen
wird, seine „Wirklichkeitserfahrungen“ zu machen.
Von der Verschiedenheit der
Mythen hängt ab, ob etwas geisteskrank ist. Zumeist wird das
als geisteskrank bezeichnet,
was weniger mächtige Vertreter findet. Der Mythos der
schwächeren Gruppe gilt
als der kranke. Wird Krankheit von mir durch Leiden definiert, so kommt
dies -
auf jeden Fall im psychischen Empfindungsfeld, das sicher nicht
lösbar ist vom
somatischen Erleben - nicht etwa von innen, sondern entspringt
allererst der
sozialen Diskriminierung und Unterdrückung, die alle
schwächer vertretenen
Mythen und Erfahrungswelten trifft. Zum Leiden hatte das Christentum
deshalb in
den Zeiten wenig Grund, in denen es im Konkubinat mit der
Staatsführung lag:
als Staatsreligion und Staatskirche. In dieser
„Blütezeit“ litten eher die
angeblichen Heiden und Hexen. Das Christentum als Mythos der
herrschenden
Klasse stand darum bislang den Geisteskrankheiten immer dominant
gegenüber wie
es allen anderen Kulturen dominant gegenüberstand. Man
erinnere sich nur der
Ausrottung der Inkas, Azteken und Mayakulturen durch Christen wie
Cortez. Oder
Inquisitionen im Mittelalter, deren billige Nachäffung heute
in dem Kampf gegen
die „Politgangster“(Dregger) der
Baader-Meinhoff-Gruppe geübt wird. Ich
behaupte, daß diese Macht des Christentums heute vorbei ist.
Die Pfarrerschaft
im mittleren Mittelstand ist nicht mehr der mittelalterliche Klerus,
der gleich
nach dem Adel kam. Eine Volkskirche ist heute der verzweifelte Versuch,
den
Verfall der Kirche und ihrer sog. „Kerngemeinden“
zu verdrängen. Es ist m.E.
keine Gesundschrumpfung. Ich glaube, die Kirche hat langsam ihre
leitbildgebende Rolle in der Gesellschaft verspielt.
1.
Ängste
vor Realitätsimplosion, Verschlungenwerden, Depersonalisation,
wirklicher
Autonomie. Sexualität und Aufbegehren
gegen die Eltern, Lehrer,
Pastoren werden als Teufelsmächte ausgegrenzt und Lust und Wut
als feindliche
Regungen gefürchtet.
2.
Das
Selbst ist dissoziiert vom Körper und/oder anderen als
„falsch“ empfundenen
Verhaltenssystemen. Lust und Wut sind Fleisch,
welches zu überwinden ist. Das Ich will diese Regungen nicht
haben, sie sind
der Satan, der in mich gefahren ist. Ich bin das nicht.
3.
Der
isolierende Rückzug vom Gefürchteten (Welt und andere
Menschen) verarmt die
Identität und führt zu Sehnsucht, Neid und
Haß auf die Außenwelt. Ich
kämpfe hier mit aller Kraft gegen meine Lust und Wut an,
während die anderen
hemmungslos herummachen und sich auch noch brüsten mit ihren
sexuellen
Erlebnissen.
4.
Schuld
wird paradox erfahren. Einerseits schäme ich
mich,
andererseits könnte ich ihn umbringen vor Wut.
5.
Es kann
zu Identitätsdiffusionen mit Musik, dem All und Gott (was
immer „er“ sei)
kommen (Laing, Das geteilte Selbst aaO 112). Wenn wir
zusammen singen im Gottesdienst, verschmelzen wir mit den Engeln im
Himmel und
es ist eine wundervolle Gemeinschaft entstanden.
6.
Das
Selbst sucht Sicherheit in kontrollierender Reflexion. Warum
kann ich nicht die Finger von meiner Möse/meinem Schwanz
lassen? Ich habe nur
drei Tage ohne ausgehalten. Was denkt Gott jetzt über mich?
Morgen versuche ich
den ganzen Tag nicht dran zu denken.
7.
Die ganze
Welt ist ein Gefängnis und verfolgt das Selbst (Laing aaO 98). Die
anderen lachen mich aus, wenn ich erzähle, wie toll es in der
Kirche wieder
gewesen ist. Sie halten mich für hinterwäldlerisch
und wollen mit mir immer
weniger zu tun haben. Sie laden mich nicht mehr ein und tuscheln
miteinander
über mich. Natürlich tuscheln sie über mich,
über wen denn sonst! Es ist ihnen
peinlich, mit mir zusammen gesehen zu werden. Sie hassen mich, weil ich
Christ
geworden bin. Sie brechen den Kontakt zu mir ab, weil ich Christ bin.
Das ist
eben so, als Christ wollen die weltlichen Menschen nichts mehr von
einem
wissen. Sie verachten und verspotten mich, aber ich bin nicht allein,
Jesus ist
es genauso gegangen und er ist bei mir und hilft mir gegen die andern.
Je mehr
die mich blöd finden, desto klarer habe ich meinen
Missionsauftrag erfüllt.
8.
Aktionen
können über das Selbst nichts aussagen. Gott
sieht mir ins Herz und weiß, wie es um mich steht. Er
weiß, daß ich zu schwach
bin gegen dieses widerliche Wix-Tier in diesem widerlichen
Körper. Und er
vergibt es mir jedes Mal aufs neue, wenn ich nur wahre Reue zeige.
Herr, du
weißt, wie hilflos ich bin, wie sehr ich dir dienen
möchte mit Enthaltsamkeit
und wie wenig ich es schaffe, bitte steht mir bei gegen dieses
abscheuliche
Tier mit seiner Geilheit und Wut.
Der Katatone nimmt keine
Außenwelt
wahr, der Hebephrene selektiert nur direkte Kommunikation, der
Paranoide nimmt
verborgene Bedeutungen hinter allem an. Das Selbst ist schwach.
In den alttestamentlichen
Geschichtsberichten und den Schöpfungserzählungen
wurde Gott als Lenker und
Beweger der Welt erfahren. Natur und Geschichte waren direkte Zeugen
für Gottes
Sein. Ihr Sein war untrennbar mit Gottes Sein zusammengedacht und
erfahren.
Gotteserfahrung war zugleich kosmische. Gott und Welt waren kein
Gegensatz.
Doch schon in einigen Psalmen klagen die Sänger gegen die
Gottlosen und Sünder.
Durch die Thora ist eine Unterscheidung von Gerechten und
Sündern möglich
gemacht. Die Thora wird als Gottes eindeutigste Mitteilung an sein Volk
gesehen.
An ihr wird eine Scheidung der Menschen durchgeführt. Die
primäre Abgrenzung
ist also in menschlichen Beziehungen erfolgt. Die Frommen schieden sich
von
denen, die nicht rigide an der Moral der Thora partizipierten. Die
Gottlosen
waren der erste feindliche Bereich der Welterfahrung der Frommen.
Allerdings
gab es viele davon. Was eine Sintflut nötig machte. Die
Naturkatastrophen
wurden aber als gottgegebene hingenommen; gerade der Protest gegen die
Naturkatastrophen galt als gottlos und mußte weitere Strafen
provozieren,
Exodus 16f. Gott kam in Feuersäulen,
Dornbuschbränden, teilte das Meer,
donnerte aus den Wolken, war ein sanftes Säuseln. Er
kämpfte in den Kriegen
mit, schickte Nebel und Dürren. Später richteten sich
die Aggressionen Gottes
auch gegen sein eigenes Volk. Darum mußte es wohl etwas gegen
Gott gemacht
haben, so meinten die Propheten. Sie riefen zur Umkehr auf. Kurz: bis
auf die
Gottlosen wurde die Welt als Medium Gottes gedeutet. Da Gott geachtet
und
geliebt wurde vom Frommen, wurde auch die Welt geliebt und geachtet.
Sie war
selbst göttlich.
Ganz anders dagegen das
neutestamentliche Kosmosgefühl. Bei fast allen Schreibern,
besonders Johannes,
wird die Welt als feindliche Macht gesehen, in die Gott hineinkommt als
Jesus.
Sein Reich ist nicht von dieser Welt ( 18,35), Gott liebt die Welt aber
(3,16)
und richtet sie im Kreuz (9,39). Die Jüngerschaft war eine
kleine Gruppe,
anders also als Israel. Sie hatten die ganze Welt, selbst die Juden
gegen sich.
Daher war diese scharfe Abgrenzung gegen die Welt notwendig. Sie
mußte die
Schwäche dieser kleinen Gruppe kompensieren. So waren die
Jünger das Licht der
Welt (Mt 5,14), so wie Jesus auch (Joh 8,12). Die Jünger
bekamen
Missionsaufträge für die Welt (Mt 28). Gott wird
gegen die Welt gestellt (Rm
3,19). Seine Weisheit ist für die Welt Torheit (1 Kor 1,20)
oder umgekehrt. Die
Christen fühlen sich in der Welt nicht mehr heimisch (4,11).
Von der Gnosis und
der Apokalyptik beeinflußt kommt es zur Vorstellung von zwei
Welten. Diese Welt
und Jene Welt sind nun Gegensätze (Mt 12,32). Diese Welt ist
vorläufig,
vergänglich, böse und
erlösungsbedürftig durch Christus. Die Urgemeinden
sollen
sich ihr nicht gleichstellen (Rm 12,2). Man kann von einer
Weltfeindlichkeit
der Christen sprechen. Die Welt erhält alle
Prädikationen des Bösen, Falschen
und Gefährlichen. Zur Welt wurden auch die Nicht-Christen
gezählt, sodaß eine
Gegenüberstellung von
(Welt, Heiden, Teufel, Sünde) und (Gott,
Christen, Versöhnung im Kreuz für die Glaubenden)
entstand. Das
Verhältnis zur Welt ist - psychiatrisch geurteilt - paranoid.
In der Welt haben
die Christen Angst (Joh 16,33), es ist das Grundgefühl,
verschlungen werden zu
können, der Teufel sucht, wen er verschlingen kann (1 Pt 5,8).
Die Angst vor
dem Eindringen der Realität ist hier ebenbürtig im
Weltverhältnis der ersten
Christen angesiedelt. Die Angst vor Depersonalisation ist
spärlicher zu finden
im NT. Das Gefühl, ein Objekt zu sein, drückt sich
aber beispielsweise in der
Aussage Luthers aus, der Mensch werde entweder vom Teufel oder von
Christus
geritten. Der Mensch ist fremden Mächten unterworfen (Rm
8,35-38). Aber Gott
ist ein persönlicher Gott und zeichnet sich gerade aus durch
Überwindung dieser
Mächte. Die Sünde wird als solche Macht betrachtet,
die das Ich in die
Verhältnislosigkeit treibt.
Sünde als Drang in die
Verhältnislosigkeit (Jüngel,
Tod 99) zu Gott ist im AT immer personal vermittelt. Sünde ist
meine oder deine
Sünde. Ich bin das Subjekt meiner Sünde, ich bin der
Sünder, der von Gott
weggeht. Das tue ich, indem ich mich dem Gesetz Gottes verweigere,
gegen die
Thora agiere. Deshalb kann im AT von Sünden (pl.) geredet
werden; damit sind
die einzelnen Überschreitungen der Thora gemeint. Die
Sünden sind Transzendenz
zum Gesetz. Jesus überschritt die Thora natürlich
auch. Die
Bergpredigt-Antithesen radikalisieren die Thora und fordern eine
Internalisierung
dieser Normen. Für den Juden konnte nämlich die Thora
durchaus etwas ichfremdes
sein; dagegen polemisiert Jesus und will, daß die
Verhaltensweisen in den
menschlichen Verhältnissen, begriffen als Gestaltungen des
Verhältnisses zu
Gott, vom Ich ausgehen und nicht von einer ichfremden Moral. Mir ist
nur nicht
klar, ob dies erreicht wird durch Anpassung des Ich an Thora und
Propheten, dh
Internalisation eines primär ichfremden und u.U.
ichfeindlichen Überich, das zu
Verdrängung von Es-Strebungen führt (Mt 5,29). Oder
ob die Antithesen sagen
sollen, es ist sinnlos, äußere Normen zu befolgen,
wenn sie dem Ich und seinen
Intentionen widersprechen. (Mt 5,21-26. 28. 37).
Jesu radikalste Aufhebung (im
Hegelschen Sinn) von
Thora und Propheten, also der ganzen Tradition, liegt in dem
Doppelgebot (Mt
22,34-40). Das Gebot der Gottesliebe von ganzem Herzen, ganzer Seele
und ganzem
Gemüte gibt der Vermutung recht, Jesus verlange nicht eine
totale Verinnerlichung
thoratischer Normation, sondern benutzt scheinbar radikal gesetzliche
Bilder
nur zur Gleichnisbildung für ein Gottesverhältnis,
das aus dem Kern des Ich
kommt. Auch die Nächstenliebe wie die Selbstliebe, dh die
Rückbindung sozialer
Liebe an das Ich, scheint mir darauf hinzuweisen, daß Jesus
das Ich eines jeden
Menschen in den Vordergrund der Verhältnisse zu Gott und
anderen Menschen
rücken will. Metaidentitäten (wie ich vor anderen
wirke, wie ich vor mir selbst
wirke und wie vor Gott) will Jesus nicht (Mt 6,1ff, 5. 7. 16ff).
Schlatters
Deutung dieser Stellen als „Selbstlosigkeit“ ist
mißverständlich. Getroffen hat
es Bonhoeffer in der „Nachfolge“ mit dem Begriff
der
„Selbstvergessenheit“.(Dietrich Bonhoeffer,
Nachfolge, München10 (Kaiser) 1971,
136) Jesus fordert auf, die Metaidentität zu vergessen und -
das geht sogar
noch über Laing hinaus - die Selbst-Identität.
Bonhoeffer ahnte schon, daß es
ein Gottesverhältnis gibt, in dem die Identitätsfrage
zur Nebensache wird
angesichts der allumfassenden Liebe Gottes. Unter der Voraussetzung des
Doppelgebots von Gottesliebe als Menschenliebe Mk 12,33 parr.,
daß es das
Selbst ist, was im Verhältnis zu Menschen und Gott steht. Das
sog. Doppelgebot
ist gar keins in doppelter Hinsicht. Erstens sagt gerade die Verbindung
von
Gottesliebe und Menschenliebe, daß diese Liebe nicht
zweierlei ist. Dann aber
kann Gott und Menschen auch nicht zweierlei sein. Bestes Beispiel
dafür ist der
zweinaturige Gottmensch Jesus Christus selbst und seine Inkarnation in
allen
seinen geringsten Brüdern (Mt 25). Zweitens wird das
griechische a)gaph=seij immer mit 'du sollst lieben!'
übersetzt. Es kann grammatisch auch ohne Bedenken ein Futur
sein, also als eine
Verheißung aufgefaßt werden oder der theologisch
beliebte „Zuspruch“: du wirst
lieben. Damit würde auch das repressive
Übersetzungssystem der alten Kirche
entlarvt, die Liebe befehlen will. ‘Lieben sollen’
ist eine Doppelbindung. Man
soll etwas, was seinem Wesen nach nur ohne Zwang entstehen kann. Eine
Doppelbindung gehört nicht auch noch in das
‚Doppelgebot’ eingeschleppt. Denn
das Doppelgebot versteht sich gerade als die Aufhebung jeder
Gesetzlichkeit.
Die Pharisäer fragen Jesus nach einem Gesetz. Er benutzt ihre
Frage als
Aufhänger und bringt ein Paradox: das Oberste Gebot ist, etwas
zu tun, was alle
Gebote aufhebt. Jesus transzendiert jede Gesetzlichkeit. Denn die
Gesetze sind
Mittler des Gotteswillens. Ein Mittel verwehrt aber Unmittelbarkeit.
Jesu Revolution des
Verhältnisses von Menschen zu
Gott und anderen Menschen ist die Einführung der
Unmittelbarkeit. In eine Welt
voller Vermittlungen geht - er und redet unmittelbar zu allen, zu
Pharisäern
redet er ohne große Diplomatie und Taktik, mit den
Sündern, also denen die nach
jüdischer Anschauung kein Verhältnis zu Gott und dem
Volksgansen Israels haben,
hat Jesus direktesten Kontakt. Ob Jesus mit Frauen oder
Männern geschmust hat,
ist uns bis auf Lk 7,36ff, 8,1-3, Joh 8,3-11, das geheime
Markusevangelium,
Thomasevangelium 114 und Philippusevangelium 32 (Magdalena Jesu
„Gefährtin“ teFkoinwnos) nicht überliefert.
Vielleicht
hat es die Urgemeinden nicht interessiert. Vielleicht war es zu
selbstverständlich,
um erwähnt zu werden. (Shalom Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der
Narazener aus
jüdischer Sicht, München (List) 1972, 127ff geht
davon aus, daß jeder Rabbi
verheiratet war, so auch Jesus.)
Wie Jesus die Sünde
bekämpft: Er richtet
Verhältnisse auf zu den Ausgegrenzten. In den Augen der
Gesetzestreuen mußte er
als Sünder erscheinen und wurde als Gotteslästerer
hingerichtet. Sein Tod ist
die Folge eines unbeirrbaren Dranges in Verhältnisse. So
überwand Jesus Sünde.
So trug er als das Gotteslamm der Welt Sünde (Joh 1,29). Ein
besonders
eindrückliches Bild davon die Auferweckung von Toten. Tod als
Folge des
sündlichen Dranges in die Verhältnislosigkeit (Rm
6,23) ist das äußerste an
Verhältnislosigkeit; ihn überwindet Jesus und schafft
neue Verhältnisse zwischen
dem Jüngling zu Nain und seiner Mutter oder bei Lazarus.
Diese personenfixierte
Vorstellung von Sünde nimmt aber in den Briefen zunehmend ab.
Nur selten noch
kommen Ausdrücke vor wie 'unsere Sünde'; der Singular
'meine Sünde' ist
überhaupt nicht mehr im aktiven Sprachschatz. Die Vorstellung
von Sünde wird
depersonalisiert. Sünde ist nun eine ichfremde Macht, die das
Ich überwältigt
und in ihre Gewalt und unter ihr Gesetz bringt. Es gibt ein
„Gesetz der
Sünde“(Rm 8,2), also eine unabänderliche
Kausalität im Verfall von
Verhältnissen. Ihr ist das Ich passiv unterworfen. Es hat nur
die Rettung, sich
unter eine andere Kausalität zu stellen. Das „Gesetz
des Geistes“(Rm 8,2) oder
der Glaube ist diese rettende Macht. Die Erfahrung von Sünde
und Glaube als
„Gesetzen“ zeugt von Rückkopplungszirkeln,
die wie eine Kausalität empfunden
werden. Man kann sie auch als hermeneutische Zirkel erklären,
als circuli
vitiosi. Genau das aber entspricht in der Psychiatrie dem
Prozeß des
Sich-hineinsteigerns in die Psychose (Laing, Das geteilte Selbst, aaO
101). Für
den Psychotiker sind alle Erfahrungen nur Bestätigungen seiner
vorgefaßten
Meinung und Erfahrung, zB daß alle Blicke tödliche
Strahlen sind und alle
Menschen ihn quälen wollen. Je mehr er sich aber
ängstigt und isoliert, desto
stärker wird er sich als machtlos gegenüber anderen
Menschen und Mächten
erfahren, er steigert sich in die Isolation und/oder seine
Phantasiesysteme und
wird durch die Realität nur noch bestätigt, - wenn er
sie nicht ignoriert. Es
gibt eine identische Struktur von Sünde als Drang in die
Verhältnislosigkeit
und der paranoiden Isolationsbemühung. Darum hat es
zunächst den Anschein, als
sei die Überwindung der Sünde im Glauben ein Akt der
Genesung von dieser
paranoiden Tendenz.
Glaube kann alles durchwirken,
sich vergrößern wie Senfkörner zum
Senfbaum. Er ist ein Schild und rettet, auch
von Krankheiten. 'Dein Glaube hat dir geholfen' sagt Jesus (Mt 9,22)
zur
Bluterin. Wer glaubt, wird gesund. Krankheit galt immer als Strafe
für Sünden.
Da Kranke gemieden wurden - von Ausnahmen abgesehen -, war Krankheit
selbst ein
Zustand der Sünde: der Kranke war nahezu
verhältnislos. Das gilt nicht für alle
Krankheiten, aber für ansteckende wie Lepra. Mit der Heilung
der Krankheit war
die Verhältnislosigkeit aufgehoben. Glaube konnte also
Verhältnisse schaffen.
Glaube an Jesus heißt für Jesus: das unmittelbarste
Verhältnis zu ihm haben.
Glauben und Vertrauen sind griechisch eins (pi/stij).
In Dyaden sahen wir, daß
es bei
einem grundlegenden paranoiden Mißtrauen zu reziproken
Mißtrauensspiralen
kommen kann (zB ich liebe dich; ich fürchte, du liebst mich
nicht; du zeigst
mir aber durch dein Verhalten, daß du mich liebst, vermutlich
spielst du mir
das vor, um mich nicht traurig oder wütend zu machen, du
willst nicht, daß ich
es merke, also mißtraust du mir; ich weiß, du
denkst jetzt, ich sei paranoid,
aber das tust du nur, um nicht offenbaren zu müssen,
daß du mich nicht liebst,
du willst das Problem auf mich lenken, gerade das aber
bestätigt meinen
Verdacht, du hast nur Angst, mir zu sagen, daß du mir
mißtraust und mich nicht
liebst, usw.)
Wenn Jesus sagt, daß man
gerettet
wird, wenn man ihm vertraut, dann bedeutet Vertrauen als Abwesenheit
von
Mißtrauen, daß alle Gedanken, die ein Mensch
über einen anderen sich macht,
Gedanken, die darum zwischen den beiden stehen und Unmittelbarkeit
verhindern,
zur Ruhe kommen und der mißtrauisch-ängstliche
Zweifler ein unmittelbares
Verhältnis zu Jesus gewinnt. Glaube ist ein unmittelbares
Verhältnis. Glauben
hat als Subjekt den Glaubenden. Und doch gibt es auch eine gewisse
Weise des
Überfallenwerdens von positiven Gefühlen, von Freude,
Zärtlichkeit, Wärme,
Bewunderung, Sympathie, die die Anmut des Anderen in mir evoziert. Mein
Glaube
entzündet sich an deiner Vertrauenswürdigkeit. Weil
ich sehe, wie du anderen
geholfen hast, kann ich mir vorstellen, daß du auch mir
hilfst. Das macht mich
offen für die innerlichen Veränderungen, die
notwendig sind, um wieder gesund
zu werden. So wird mir mein Glaube an dich helfen gesund zu werden. Ich
glaube.
Jesus redet von meinem und deinem Glauben.
Jesus starb, er wurde zu Tode
gefoltert.
Die Verhältnisse der Liebe waren zerbrochen. Nicht nur das
Verhältnis zu Jesus
war durch dessen Tod gebrochen; Jesu Verhältnis zu Gott war
abgebrochen, wenn
Jesus auch von seiner Seite her das Verhältnis nicht brechen
will und aus der
unendlichen Einsamkeit eines Erstickenden seine Verzweiflung gegen Gott
schreit: „Warum hast du mich verlassen?“ In diesem
Protest gegen Gott steckt
Vertrauen, sehr viel mehr Vertrauen als es die pietistische Ergebung
ins
Gottgewollte später war. Heute sagt man, er habe nur
frommerweise Ps 22
rezitiert, nicht gemeckert.
Selbst Hiobs Flüche gegen
Gott offenbaren mehr
Beziehungsaktivität und Vertrauen als der Unglaube, den man
Gehorsam nennt. Man
wird drauf pochen, daß Jesus aus Gehorsam ans Kreuz ging. So
stellten es die
Evangelien dar. Es wird inzwischen genug Leute geben, die bewiesen
haben, daß
Jesus nicht vorsätzlich starb, nicht einmal, um das
Gottesreich zu zünden (wie
Albert Schweitzer meinte, cf Reich Gottes und Christentum [I] (1967),
Gesammelte Werke IV, 511-731, Berlin 1971). Jesu Tod als Gehorsamsakt
darzustellen ist historisch unhaltbar. Es ist vermutlich
Gemeindebildung. Jesu
Schreien am Kreuz drückt die Verzweiflung über sein
Scheitern aus. Als seine
letzte Verkündigung ruft es aus der Einsamkeit der
Gottverlassenheit.
Nach
Jesu Tod brachen als drittes die Verhältnisse der
Jünger
zueinander. Sie zerstreuten sich aus Angst, auch noch verfolgt zu
werden. Sie
reagierten so realitätsgerecht paranoid. Durch Jesu Tod
brachen drei
Verhältnisebenen. Der Glaube an ihn als Messias war widerlegt.
Er war es nicht.
Trauer ist die intensivste
Beschäftigung mit dem verlorenen Geliebten. Trauer scheitert
an der Realität.
Der Trauernde muß den Geliebten hergeben. Aber so schnell
geht das nicht. Es
ist ein Prozeß. Oft erscheint der verstorbene Geliebte dem
Trauernden als
Vision. Darin zeigt sich, wie intensiv das Verhältnis zum
Geliebten war. Freud unterscheidet
nun zwei Arten der Bewältigung von Verlusten Geliebter: Trauer
und Melancholie
('Trauer und Melancholie', WW X,428ff). Trauerarbeit ist die
libidinöse
Umbesetzung von Objekten. Die Libido, die vormals auf das verlorene
Objekt
gerichtet war, wird langsam auf ein anderes Objekt übertragen,
damit vom
verlorenen Objekt abgelöst und so der Verlust durch einen
Gewinn bewältigt.
Voraussetzung dafür sind aber geeignete Liebesobjekte, daran
hat Freud
scheinbar nicht gedacht. Melancholie dagegen verinnerlicht das
verlorene
Objekt, um es immer bei sich haben zu können. Einige von
Laings Patienten
verinnerlichten nach dem Tod eines Elternteils dieses. Die Mutter,
ihrer
Verhaltensweisen, ihre Sprache, ihr Atmen, ihre Schminke und Kleidung,
alles
wird dann perfekt nachgeahmt und der Schizophrene kann
schließlich die Rolle so
perfekt, daß er sie ist. Die Mutter ist dann zu einem, vom
wahren Ich des
Schizophrenen getrenntem Selbstsystem im Körper des
Schizophrenen geworden,
aber einem falschen Selbstsystem. Es kann sein, daß der
Schizophrene, wenn er
keine Abneigungen gegen die Mutter hatte, sein altes Selbst
völlig zugunsten
der Mutterinkarnation aufgibt. Empfinden wird er die eingenistete
Mutter nur
dann als falsches Selbst, wenn er sie gehaßt hat. Dann wird
er sich von dem
gehaßten Wesen in ihm abgrenzen und ihm immer mehr Platz
freimachen durch immer
weitere Rückzüge des wahren Selbst ins Vakuum. Beim
Einnisten einer geliebten
Person hingegen kann die Identität beider ineinander
übergehen. Diesen Akt
nennt Freud Melancholie. Er bezeichnet ihn als nicht
realitätsgerechtes
Verhalten.
Jesus wurde – nach dem
frühesten
Bekenntnis 1 Kor 15,3ff - gesehen, erst von Kephas, dann den
Zwölfen und schließlich
von mehr als 500 Brüdern auf einmal. Die Lehrmeiuungen
über die Interpretation
dieses w)=fqh sind
sehr zerstritten. Ich halte es für eine melancholische
Verinnerlichung Jesu,
die im Rahmen der Trauer und der Aufgabe, mit dem Verlust Jesu fertig
zu
werden, zu zunächst einer Visien eines einzelnen
geführt hat.( Yorick Spiegel,
Der Prozeß des Trauerns. Analyse und Beratung,
München (Kaiser) 1973
differenziert Schock, Kontrolle, Regression und Adaption als die 4
Phasen der
Trauer und berichtet 171ff über Trauervisionen in der 3.
Phase, der
Regression.) Kephas wird dieses Erlebnis sicherlich anderen mitgeteilt
haben
und auf diese Weise bei den gleich stark vom Tod Jesu betroffenen
Jüngern eine
erste Kollektivvision evoziert haben, die schließlich in
einer Art
Massenhysterie zu Massenvisionen geführt hat. Visionen werden
als echt
empfunden. Das zeigen die Halluzinationserscheinungen in den
experimentellen
Psychosen mit LSD. Es gibt auch kollektive Visionen, etwa bei
Indianderstämmen
wie den Yaqui im Norden Mexikos und der Native American Church mit
ihren
Peyote-Meskalin-Trips zum Osterfest. Insofern ist es historisch
wahrscheinlich,
daß der Rede von der Auferstehung Jesu kollektive
Ostervisionen zugrunde lagen.
(Ernst Benz, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart
(Klett)
1969; Manfred Josuttis/ Hanscarl Leuner, Religion und die Droge. Ein
Symposion
über religiöse Erfahrungen unter Einfluß
von Halluzinogenen, Stuttgart
(Kohlhammer) 1972, darin: Wilhelm Keilbach, Techniken
religiöser Ekstasen,
9-22)
Jesu Auferstehung als
„objektive Heilstat“ und
empirisch mit unseren Kategorien von realer Existenz verifizierbare
Tatsache
hinzustellen und nachweisen zu wollen, ist nicht nur ein Dokument des
Verfalls
der Theologie an den Positivismus. Es ist auch ein Zeichen für
die Unfähigkeit,
zu glauben. Denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen (2. Kor 5,7).
Es ist
eine glatte Lüge, im Zusammenhang mit biblischen
Überlieferungen solche Worte
zu gebrauchen wie „objektive Tatsache“.
Als Illustration des Entstehens
einer Massenhysterie
mag die Geschichte vom Mothman (Mottenmann) aus Point Pleasant in West
Virginia
dienen. Er wird als 1,90 m großes, dunkles
geflügeltes Wesen, Flügelspannweite
3m, mit leuchtenden 5cm großen roten Augen beschrieben, ein
schwarzer Engel. Er
wurde am 14. 11. 1966 um 23.30 Uhr auf der Kohlenhalde eines
stillgelegten
Kraftwerks nahe des „TNT-area“ von zwei Ehepaaren
gesehen. Er stieg
flügelschlagend aus einer Staubwolke empor, überflog
das Auto der Scarberry´s
und Mallette´s mehrmals und verschwand. Am Folgetag titelte
das örtlichen
Käseblatt Point Pleasant Register: „Couples See
Man-Sized Bird ... Creature ...
Something”. Dies löste eine Serie weiterer
Sichtungen in der Nähe aus. Linda
Scarberry sah ihn in den Folgetagen mehrfach, einmal sogar auf dem Dach
ihres
Hauses sitzend. Andere sahen seine scharfen Krallen, weitere
schätzten ihn auf
4m Größe. Genau 13 Monate später
stürzte dort eine Brücke ein. Eine alte
Irokesensage prophezeite, wenn solch ein Wesen erscheine, passiere ein
Unglück.
Es lag nahe, den wohl tatsächlich dort vorkommenden
großen Virginia-Uhu mit dem
Einsturz der Silver Bridge zu kombinieren. Es meldeten sich danach
viele Leser,
die den Mottenmann ebenfalls schon in der Vergangenheit gesehen hatten
und
stets auch Unglücke in der Folge erlebten. Es gab sogar
UFO-Sichtungen in
seiner Nähe, was wahrscheinlich machte, daß er ein
Außerirdischer sei. Man
machte Jagd auf diesen Vorboten des Unheils und einer erlegte dann auch
einen
Virginia-Uhu. Erste Zweifel kamen auf. Als die Reporterin Mary Hyre,
die sich
der Sensation des Mottenmannes engagiert angenommen hatte, starb,
ebbten auch
die Sichtungen ab. – Hier läßt sich eine
frappante Analogie zu den
Ostervisionen der Jünger erkennen: Erst die Mitteilung einer
Erstvision löst
die Serie aus: „und daß er gesehen worden ist von
Kephas, danach von den
Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als
fünfhundert Brüdern auf
einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind
entschlafen.
Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln.
Zuletzt
von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen
worden.“ (1. Kor 15,5-8
cf Lk 24,34.50; Joh 20,19; 20,26)
Paulus selbst hatte vor den Toren
von Damaskus auch
eine Vision (Acta 9,3ff) mit nachträglichen 3tägigem
katatonen Stupor: Nichts
sehen, Nahrungsverweigerung. Seine von Begleitern nicht geteilte
individuelle
Vision Christi war anders als die Jüngervisionen keine
Gestaltvision, sondern
eine Lichtvision, eine passagere psychotische Dekompensationsepisode
mit
Spontaner Remission. Sie hatte die gleiche Struktur wie die
Stephanus-Steinigung (Acta 7,54-60) oder auch Jesu Taufe: Himmel auf
und Stimme
von oben. Kraepelin betrachtet solcherlei als „Akute
Verwirrtheit“. „In
einzelnen Fällen überwiegen Grössenideen:
Viele Kranken sind hohe Personen,
sind im Himmel gewesen, haben den Heiland gesehen, reisen nach
Amerika.“(Kraepelin aaO 39) Paulus hatte sich als frommer
Pharisäer die
Bekämpfung der neuen Sekte der Christen vorgenommen. Er
muß sich
außerordentlich intensiv mit diesem Phänomen
auseinandergesetzt haben, denn er
haßte die Christen und widmete seine volle Zeit dem Kampf
gegen sie und freute
sich über die Stephanussteinigung (Acta 8,1). Wenn Jesus im
Damaskuserlebnis
Saulus fragt, warum er ihn so hasse, hat sich das Schuldgefühl
gegenüber dem 5.
Gebot hier zur Himmelsstimme manifestiert. Die GESTAPO-Arbeit (Acta
8,3) und
der Spaß an Hinrichtungen waren nicht mehr innerlich
vereinbar mit dem
Tötungsverbot. Der Folterer wird seelisch affiziert vom Opfer.
Laing berichtet von mehreren
Patienten, die von
gehaßten Personen vereinnahmt werden, dh die
gehaßte Person in ihr Selbst
aufnehmen. Bei den meisten blieb jedoch eine innere Spaltung zum wahren
Selbst
bestehen. Hitchcocks „Psycho“ seziert dieses
Wiederaufstehen der ermordeten
Mutter in ihrem mörderlischen Sohn, der sich werwolfartig bis
hinein in die
Kleidung in seine tote Mutter verwandelt und dann tötet, was
der Sohn liebt.
Es ist möglich,
daß Paulus sein altes Selbst bei
dieser Bekehrung teilweise verloren hat. Er hat dann ein ganz neues
Identitätssystem aufgebaut, nur an einigen Stellen treten noch
Fragmente des
alten brutalen Selbst zutage (zB 2 Kor 11,22; Phil 3,4ff). Die
äußerst blasse
Vision des Paulus entspricht der Tatsache, daß er Jesus nie
selbst erlebt
hatte, sondern nur Sekundärinformationen hatte. Aus der
Internalisierung der
aus Verhören von Opfern bezogenen Erfahrungen von Jesus, aus
der allerersten
Mundtradition als Vorstufe der Evangelien, speisen sich seine
dürftigen
Kenntnisse über den historischen Jesus. Daher ist anstelle
einer Gestaltvision
auch lediglich eine Lichtvision erfolgt. Gleichwohl reiht er sich damit
in die
Reihe der echten Jesusvisionäre ein, die Jesus als Mensch im
Dialog gesehen
haben, wie Lk 24. Damit reklamiert er für sich die
Autorität der Apostel und
wird mit ihnen konkurrieren.
Die Argumentation von Paulus
gegen die Leugnung der Auferstehung hat drei Schritte: 1. Gibt es keine
Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. 2. Ist
aber
Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, 3. so
ist auch
euer Glaube vergeblich.(1 Kor 15, 13f) Paulus setzt also das
Phänomen
Auferstehung voraus, bevor er Christus als Auferstandenen gelten
läßt. Wenn es
richtig ist, daß es bei der Auferstehung um Visionen der
Hinterbliebenen geht,
so läßt diese Logik von Paulus vermuten,
daß solche Auferstehungsvisionen gar
keine so große Seltenheit waren. Christus wird nicht als der
einzige
Auferstandene gepredigt. Immer wieder wird von Elia als kommendem
Messias
gesprochen, sogar Jesus wird für den auferstandenen Elia
gehalten.(Mt 16,14)
Paulus gibt zu, daß die Visionen Jesus in einem anderen
Medium als Fleisch und
Blut präsentieren, nämlich in einem geistlichen Leib
(1 Kor 15, 2ff). Er sah ja
nur Licht, keinen Mann. Geistlich ist eine Wahrnehmung unter der
Einwirkung von
Geist. Die Voraussetzung dieser Visionen war für Paulus das pneu=ma, eine Kraft, die die Urgemeinde
den heiligen, göttlichen Geist nannte. Nur unter dem
Einfluß dieser Kraft
konnten Ostervisionen erlebt werden, meint er. Die anfänglich
zerstreuten
Jünger hatten sich wieder zusammengefunden und erlebten 40
Tage Jesusvisionen
(Acta 1,3). Die 40 steht wie bei Jesu Versuchung für eine
religiöse
Inkubationszeit vor dem Ausbruch des religiösen Vulkans der
Gottesoffenbarung.
Sie lebten zusammen. Pfingsten kam ihnen abermals eine Kollektivvision
von
gewaltiger Intensität. Von Außenstehenden wurden sie
für besoffen gehalten
(Acta 2,13). Selbst in damaliger Zeit standen viele den Visionen
skeptisch gegenüber.
Man kann wohl sagen, daß die furchtbaren Erfahrungen des
Todes Jesu in den
Jüngern nach der Schockphase überwältigende
melancholische Potenzen und
massenpsychotische Fluchtversuche aus der Realität,
daß Jesus tot war, in
Bewegung setzten. Wahrscheinlich waren die Jünger zu schwach,
den Tod als
Faktum durch Trauerarbeit zu bewältigen, indem sie ihre
libidinöse Besetzung
Jesu - an der kein Zweifel ist - auf einen anderen Menschen umleiteten.
Für die
Jünger war Jesus zu Lebzeiten die entscheidende
Beziehungsperson gewesen und
hatte ihre Metaidentität bestimmt, die Jünger waren
unfähig, eine eigene
Autonomie zu entfalten und hatten sich ihre Identität von
ihrem Verhältnis zu
Jesus bestimmen lassen. Mit dem Tod Jesu war darum ihre
Selbstidentität
zerstört. Es gab keinen Jesus ähnlichen Mann, auf den
sie die libidinösen
Besetzungen Jesu hätten überleiten können,
damit entfiel die Grundbedingung
einer nicht-melancholischen Trauerarbeit. Freuds Begriff von
Trauerarbeit ist
aber darin auch unmenschlich, daß er für gesund
hält, einen durch den nächsten
zu ersetzen. Zur Menschlichkeit gehört Unersetzlichkeit und
Menschen sind keine
Objekte zur libidinösen Besetzung. Sie sind keine Toiletten,
auf die die
Kategorie des Besetztseins zutrifft. Sie sind auch keine
psychohydraulischen
Dampfmaschinen.
Jesus war für die
Jünger zugleich
lebensnotwendiger Vermittler ihrer eigenen Identität und
unersetzlich geliebter
Herr. Darum konnten sie objektiv keine Trauerarbeit leisten, sondern
mußten in
Melancholie verfallen, um zu überleben. Sie haben es
geschafft, aber unter der
Bedingung, melancholisch zu werden. Oder mit der Doppelbindungstheorie
ausgedrückt: Jesus war die komplementäre
Identität der Jünger und somit Garant
der eigenen Identität der Jünger. Außerdem
mochten sie ihn. Sein Tod raubte
ihnen ihre Identität und einen geliebten Menschen.
Außerdem zerbrachen alle
Hoffnungen auf das verheißene Gottesreich, das schon in den
Erlebnissen mit
Jesus anbrach. Die Jünger waren also in einer unhaltbaren
Position; mit Jesu
Tod war ihr sozialer Tod besiegelt, ihre Wanderradikalenbewegung
zerschlagen.
Die einzige Möglichkeit, nicht aufzugeben, war für
sie die Flucht in die Welt
der Phantasien und Visionen, die damals eine viel positivere Bewertung
erfuhren
als heute, nämlich als Zeichen göttlichen Geistes,
als göttliche Offenbarungen.
Damit war ihre Jüngeridentität, ihr sozialer
Zusammenhalt und ihr Sinnerleben
der Welt mit allen seinen Hoffnungsgehalten wiederhergestellt. Dadurch,
daß
Petrus der Erstvisionär war, hatte er automatisch die Rolle
des religiösen
Offenbarers und damit Nachfolgers Jesu in der Bewegung
übernehmen können. Es
war wie eine prophetische Berufungsvision die Legitimation seiner
Führungsrolle. Die zerbrochenen Hoffnungen wurden nunmehr
eschatologisiert, dh
in die Zukunft gerichtet, Jesus lebte in seinem neuen geistlichen Leib
mit
ihnen zusammen und ersparte ihnen libidinöse Umbesetzungen.
Ich würde erstmals
hier den Sprachgebrauch der Massenschizophrenie anwenden. Im Gebet
hatten sie
die Person Jesus halluziniert und seine Heilkräfte drangen in
ihre Körper über,
sodaß auch sie Heilungswunder vollbringen konnten. Der
Tröster war der
Ersatzjesus, der Geistbesitz in seinen multiplen Formen von Glossolalie
bis
Wunderheilungen zeigte, die Person Jesu wirkte direkt in und durch die
Jünger/Apostel.
Die Berufungsvisionen
ermächtigen
den Visionär, unmittelbar im Namen Gottes zu sprechen. Das
hatte in der
Spätantike eine hohe Glaubwürdigkeit. Heute aber wird
jemand, der ähnlich von
einem göttlichen Auftrag erfüllt auftritt, leicht
Insasse einer
Nervenheilanstalt. „In der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle gesellen sich zu
den Beeinträchtigungsideen mehr oder weniger
ausgeprägte Grössenideen. Der
Kranke hat „bewunderungswürdig gelitten“,
wird noch Grosses vollbringen, ist zu
Höherem berufen, hat ein zukünftiges besseres Los zu
erwarten. Manchmal sind es
lebhafte Träume, die ihn erheben und für alles
Ungemach entschädigen. In diesen
„nächtlichen geistigen Verschleuderungen“
führt ihn die Gewalt Gottes in fremde
Länder, bringt ihn in Verkehr, auch geschlechtlichen, mit
hohen Personen und
gibt ihm durch mannigfache Darstellungen aussichtsreiche Verheissungen
für die
Zukunft. Häufiger noch kommt es zu einzelnen, mit klarem
Bewusstsein
aufgefassten visionären Erlebnissen. Der Kranke erwacht in der
Nacht mit
unbeschreiblichen Wonnegefühlen, fühlt sich
durchströmt und durchleuchtet vom
heiligen Geiste. Seine Augen werden von dem Lichte geblendet, welches
sein
Schlafzimmer erfüllt; ein wunderbarer Duft strömt
herein. Er sieht Gott in
Gestalt eines Sterns, eine bedeutungsvolle Figur aus Lichtpunkten, eine
herrliche Gestalt in köstlichem Gewände, die Mutter
Gottes, Engel mit goldenen
Flügeln, welche eine Königskrone tragen, das
Christkind, welches ihn an der Hand
führt, ihm die Weltkugel überreicht, den Kaiser mit
einer strahlenden Sonne.
Dabei hört er eine Stimme, die in mehr oder weniger klaren
Ausdrücken ihm seine
hohe Sendung verkündet: „Das ist mein lieber Sohn,
an dem ich Wohlgefallen
habe“, „Dir sind Deine Sünden
vergeben“ und dergl. Bisweilen wiederholen sich
solche Erlebnisse mehrmals in längeren
Zwischenräumen. Auch die
Sinnestäuschungen gewinnen vielfach einen angenehmen Inhalt.
Gott selbst
spricht zum Kranken, ernennt ihn zum Kaiser Rothbart, schenkt ihm
riesige
Summen, verheirathet ihn mit einer Prinzessin.“(Kraepelin aaO
Bd.II, 194f) Die
Überzeugung, vom göttlichen Geist in
wundertätiger Weise erfüllt zu sein,
entwickelt sich oft erst allmählich, auch ohne Damaskusvision
oder
hardcore-Bekehrungserlebnis des evangelikalen Sünders.
„Wenn er betet, so
strömt fruchtbarer Regen herab, oder der umwölkte
Himmel klärt sich plötzlich
auf, sobald er auf die Strasse tritt. Erinnerungsfälschungen
erwecken in dem
Kranken die Vorstellung, dass ihm von Gott alles im voraus
verkündet werde, was
sich ereignet. Während der Entwicklung dieser Wahnbildungen,
die sich in
einigen Monaten oder Jahren zu vollziehen pflegt, bleiben die Kranken
besonnen,
orientirt und im ganzen geordnet. Sie sind, namentlich im Anfange,
recht wol im
Stande, ihre Ideen zusammenhängend darzulegen, zu
begründen, Einwände zu bekämpfen;
es ist „Methode“ im Wahnsinn.“(Kraepelin
aaO Bd.II, 195)
Die Grandiosität des
Erwählten
wird für den einfachen User von Gottesdiensten in
Gesangbuchliedern besungen: EKG
28,2: „Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren.
Und hast mich dir
zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand
gemacht, da
hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.“
EKG 441,2:
„Friedefürst, ich ward erkoren am ersten Tag, als
ich geboren, zu deinem selgen
Gnadenkind; du gabst mir des Himmels Gaben, weil wir nichts Gutes eigen
haben
und ohne dich verloren sind. O Jesu, meine Ruh, ich greife freudig zu
nach den
Gaben, die du mir heut zur Seligkeit durch dein Erbarmen hast
erneut.“ Das EKG
ist durchzogen von diesem Erwählungsgedanken: Gerade ich bin
auserwählt, Gottes
Lieblingskind.
Das Lied „El Condor
pasa“ singt
von einem Häuptling der Tupac Amaru, der im Inkareich 1780
eine Aufstand gegen
die Spanier versuchte, dabei aber gefangengenommen und umgebracht
wurde. In den
Indianerlegenden hat er sich der Gefangennahme entzogen, indem er als
Kondor
wegflog. Hier ist eine ähnliche Verhaltensweise
gewählt worden, um die
politische Resignation zu verwinden. Der Held ist nicht gestorben,
sondern lebt
noch. Und er lebt in jeder Stimme, die das Lied singt. Er lebt weiter
als
Urbild der Befreiung. Erst wenn die Befreiung erreicht ist, darf dieses
Lied
vergessen werden und die Großmütter singen es ihren
Enkeln nur noch als
Jugenderinnerung vor. Leider sind Inkas ausgerottet. Das Lied war zu
schwach
gegen die Spanier. Und Jesus war zu schwach in den Visionen seiner
Nachfolger,
als daß er die Spanier hätte abhalten
können vom bestialischen
Endlösungsprogramm. Darin setzt sich Jesu Scheitern fort.
Je ferner die Eindrücke
von Jesus
liegen, desto abstrakter wird das, was sich die Apostel und die
Urgemeinden von
Jesus vorstellen. Paulus kann deshalb nicht mehr vom Jesus aus Nazareth
reden,
sondern nur noch von seinen geistlichen – sprich:
schizophren-psychotischen -
Erfahrungen Christi. Christus ist in ihm: Ich lebe; doch nicht nun ich,
sondern
Christus lebt in mir.(Gal 2,20) Christus hat also
jetzt bei Paulus die
Stelle des vormaligen Selbstes Sauli angenommen. In Paulus lebt ein
anderer
Mensch, den er nicht einmal je leiblich gesehen hat. Allerdings
vermag
Paulus noch zu realisieren, daß er Paulus, der Apostel ist.
Klar geht aus
seinen Äußerungen jedoch nicht das intrapsychische
Verhältnis des
Christus-Seins und Paulus-Seins zugleich hervor. Er kann umgekehrt auch
sagen,
er sei in Christus, wie er sagt, er sei im Glauben. Für Paulus
scheint gar kein
so großer Unterschied darin zu bestehen, wer in wem inneist.
Schizophrene
verlieren oft die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen
außen und innen; daher
mag auch bei Paulus diese Vertauschung bedingt sein.
Die Bewohnung des eigenen
Körpers
durch verschiedene, auch mehrere Personen ist durchaus nicht
ungewöhnlich.
"Eine ganz eigenartige Ausbildung gewinnt der physikalische
Verfolgungswahn in jenem sittengeschichtlich bedeutsamen
Krankheitsbilde,
welches man als „Besessenheitswahn'' bezeichnet. Hier werden
die Feinde, welche
den Kranken quälen, geradezu in den eigenen Körper
hineinverlegt. Der oder die
Verfolger sitzen nun in den Ohren und betäuben den Kranken
durch ihr gräuliches
Schreien und Fluchen, häufiger aber im Unterleib, steigen bis
in den Kopf
hinauf, schnüren dem Kranken die Kehle zu, verdicken ihm sein
Blut, klappen ihm
seinen Schädel auf, zwingen ihn zu den sonderbarsten
Handlungen und reden ihm
aus dem Bauche herauf gotteslästerliche Dinge vor. Hier kann
es vorkommen, dass
sich dem Feinde im eigenen Leibe eine andere, freundlich gesinnte Macht
hinzugesellt, welche jenen in eine Körperhälfte
hineindrängt und lange,
erbitterte Kämpfe und Zwiegespräche mit ihm
führt. Während die Verfolger bei
den früher geschilderten Formen zumeist als eine
geheimnissvolle Rotte von Nihilisten,
Freimaurern, Socialdemokraten gedacht wurden, so pflegen in diesen
letzteren
Fällen mehr religiöse Vorstellungen zur
Erklärung herbeigezogen zu werden. Es
ist eine abgeschiedene Seele, der Teufel, ein böser Geist, der
von dem Leibe
des Kranken Besitz genommen hat, und dem unter Umständen der
liebe Gott oder
einer der Erzengel siegreich entgegentritt. Diese
eigenthümliche Verdoppelung
der Persönlichkeit erinnert uns an jene Träume, in
denen wir ausgedehnte
Unterhaltungen führen und oft über die schlagenden
Beweisgründe unseres Gegners
im höchsten Grade überrascht sind."(Kraepelin aaO
Bd.II, 193f)
Ich versuchte, den Glauben an
Jesus vor dessen Ermordung als den Drang in
Verhältnishaftigkeit zu charakterisieren
und habe die psychische Gesundheit dieses Verhältnisses nicht
bezweifelt.
Anders verhält es sich dagegen nach Jesu Tod mit dem Glauben.
Der
Sprachgebrauch von Glaube verändert sich zum unpersonalen
Seinsstand, der kein
direktes Verhältnis mehr zu Jesus aufzuweisen vermag,
ausgenommen das der
psychotischen Erfahrung. Die Glossolalie galt als prophetisches
Charisma. Wie
Delphis Pythia vor ihrer Trance-Dämpfe-Spalte wirres Zeug
plappert, was ihre
Priester zu Sinn verdampfen, so spielten auch kleinasiatische und
griechische
Gemeinden Orakelstunde im Gottesdienst. Paulus setzt alles daran, die
Gemeinden
zu befähigen, an dieser partialpsychotischen Dekompensation
teilzubekommen.
Aber bei vielen klappt es nicht.(2 Th 3,2) Offenbar konnten schon
damals nicht
alle psychotische Erfahrungen durcherleben. Der Geist weht, wo er will.
Jetzt tritt das Problem der
Verkündigung auf. Die pschotischen Erfahrungen der
Ostervisionen sind in einer
unhaltbaren Situation nach Jesu Tod erworben worden. Diese unhaltbare
Situation
ist aber nur wenigen erfahrbar gewesen. Die neuen Addressaten des
Evangeliums
können sie nicht nachvollziehen. Es ist auch nicht von
vornherein anzunehmen,
daß sie schizophren sind. Die Predigt des Evangeliums
muß daher Elemente
enthalten, die den Addressaten in eine unhaltbare Situation bringen, zu
deren
Ausflucht dann der Glaube sich dem Schachmattgesetzten anbietet. So
lautet
meine Vermutung.
Hauptelemente paulinischer Predigt
sind die Dualismen von
Gesetz
Evangelium
Adam
Christus
(Rm5,11ff, 1Kor 15)
Sünde
Glauben
Tod
neues
Leben
Werke
Gottes
Gerechtigkeit/Gnade
Zwar heißt zu denken:
unterscheiden, doch handelt es sich bei Paulus um etwas anderes als
bloße
Unterscheidungen zur Denkhilfe. Er teilt das ganze Universum in
affektiv
positiv zu besetzende und negative Gegenpolaritäten ein. Diese
Schwarzweißmalerei der Welt mag sowohl religionsgeschichtlich
bedingt sein (zB
im AT Gottlose-Gerechte, in Persien Licht-Finsternis) als auch von der
Verfolgungssituation der Gemeinde bedingt: Für eine so relativ
kleine Gruppe in
der existentiellen Bedrohung ist es lebenswichtig, die Umwelt in krasse
Pole
einzuteilen. Die Ingroup-Normen, -anschauungen und -verhaltensweisen
müssen
klar von denen der Outsidermehrheit abstechen, das fördert den
sozialen
Zusammenhalt der Gruppe und verwehrt den Mitgliedern, allzuleicht
zurückzukommen in die Außenwelt, weil deren Normen
affektiv negativ besetzt
worden sind. Je kleiner eine Gruppe ist, je bedrohter, desto wichtiger
ist es
für sie, eine Gruppenidentität aufzubauen, die die
Gruppe als [edel, gut,
gerecht] und die Umwelt als [schlecht, böse, ungerecht und
feindlich]
darstellt.(Luise Schottroff, Der Glaubende und die feindliche Welt.
Beobachtungen zum gnostischen Dualismus und seiner Bedeutung
für Paulus und das
Johannesevangelium, WMANT 37, Neukirchen-Vluyn (Neukirchener) 1970) Es
ist
allerdings möglich, daß diese paranoide
Identität der Gruppe realer das
menschliche Sein trifft als die Normen ihrer Umwelt.
Die double bind besteht aus zwei
gegensätzlichen Anweisungen plus dritter Anweisung, die
verwehrt, das Feld zu
räumen, aus der unhaltbaren Position herauszutreten. Diese
dritte Anweisung
finden wir flächendeckend in der Attributierung der Welt
außerhalb der
Christengemeinde als schlecht. Die Zwei-Reiche-Lehre erfüllt
genau diese
Funktion, Christen innerhalb des Reiches Christi bei der Stange zu
halten. Die
unhaltbare Situation an sich wird durch einen unmittelbareren
Widerspruch
geschaffen, etwa die Sünde im eigenen Körper/Fleisch
zu erleben und trotzdem
innerlich Gott zu lieben, Rm 7. Die eigene Person ist gespalten in
Fleisch und
Geist und das ist ein unerträgliches Leiden an sich selbst.
Ich bin in bösem
starken Fleisch, ich bin guter schwacher Geist. Was ich
möchte, schaffe ich
nicht. Musterbeispiel eines Hebephrenen aus Kraepelins Heidelberger
Klapsmühle:
„Auch Wahnvorstellungen tauchen auf, die zuweilen sogar sehr
in den Vordergrund
des Krankheitsbildes treten. Zunächst pflegen dieselben mehr
traurigen Inhalts
zu sein. Der Kranke ist an allem Schuld, ein grosser Sünder,
Mörder und
Vaterlandsverräther, hat vor Gericht falsch ausgesagt,
Selbstbefleckung
getrieben, kommt nicht in den Himmel; er ist verloren, verdammt, dem
Bösen
verfallen, wird gerichtet für Zeit und Ewigkeit, verdient den
Feuertod; ihm
ist, „als ob der Teufel nach ihm langen wollte“. Er
wird fixiert, beobachtet,
verschwätzt, verhext, soll umgebracht, zum Spion
erklärt, erschossen,
„englisiert“ werden. Man giebt ihm Gift ins Essen,
Moschuswasser,
„Schuhnägelsaft und Pottasche“, nimmt ihm
sein Blut, bringt ihm Dreck unter die
Haare, verschändet sein Gesicht, macht ihm seine Gedanken,
beeinflusst
künstlich seine Handlungen, giebt ihm die Worte ein. Der Samen
wird ihm
abgetrieben, die Natur ins Gesicht geworfen. Frauen sehen sich von
Herren
verfolgt, werden in der Nacht chloroformiert und entehrt,
„naturlos gemacht“.
Der Leib zerschmilzt; die Gelenke krachen; die Füsse
zerbrechen; das Blut
circuliert nicht; inwendig ist alles verbrannt und verfault; alles
trocknet
ein.“(Kraepelin aaO Bd.II, 150)
Paulus profitiert praktisch von
der Sünde. Er geht davon aus, daß alle Menschen das
Gesetz haben. Wir bemerken
auch hier wieder den völlig undifferenzierten abstrakten
Gebrauch der
Begrifflichkeit des Paulus. Entpersonalisierte, kollektivierte und
generalisierte Denkmuster bilden das theologische Gerippe. Es wird mit
geringer
Variationsbreite durch alle Texte hindurch wiederholt. Nicht nur den
Juden ist
das Gesetz durch die Thora gegeben, auch die Heiden haben es in ihren
Herzen
(Rm 2,14f). Paulus hat damit recht: in jedem Sozialgebilde
prägen sich
Verhaltens- und Sprechredundanzen zu Normen aus, zu einer Moral, einem
stabilisierenden Gesetz. „Eine gemeinsame Moral schafft damit
die
Voraussetzungen des Zusammenlebens schlechthin, erweist sich aber
zugleich als
eines der wichtigsten Instrumente der Durchsetzung und Stabilisierung
von Macht
und Herrschaft. (...) 'Gewissen' - in der Sprache der Psychoanalyse
'Über-Ich'
genannt - ist vielmehr als jene psychische Instanz zu begreifen, die
das
Individuum befähigt und es zwingt, mit dem Kollektiv und
dessen
Verhaltenserwartungen in Übereinstimmung zu leben. (...) Ein
'schlechtes Gewissen'
ist zunächst nichts anderes als das Gefühl, mit der
sozialen Umwelt und ihres
Erwartungen im Widerstreit zu liegen. So erklärt sich auch die
Tatsache, daß
Menschen, die ein von der sozialen Norm abweichendes Verhalten zeigen,
die
Tendenz haben, sich in eine Gruppe einzubetten, die auf gleiche Weise
von der
Norm abweichende Gruppenmitglieder befähigt, ihren
Außenseiterstatus zu
ertragen. Denn das in der Gesellschaft allgemein Abweichende ist in der
Gruppe
die Norm. Die Gruppe 'versöhnt' die Gewissen.“
(Gunther Soukup, in: W.
Gottschalch ua., Sozialisationsforschung, Frankfurt am Main8 1973,
S.154-157)
Ob Turnverein, Fixer, Rocker, Luden oder esoterische Jugendsekten, jede
Subkultur generiert spezifische Normen, die nach innen verbinden, nach
außen
abspalten. Sie bilden eine innere Welt in der Gruppe, die dort
funktionale
Kommunikation fördert, aber nach außen kaum noch
vermittelbar ist und teils zur
gesamtgesellschaftlichen Norm (BGB, StGB) in erheblichem Widerspruch
steht.
Die Verhaltensnormen
früherer
Gesellschaften waren zumeist äußerst rigide; die
Thora kann praktisch nur
eingehalten werden unter äußersten Anstrengungen und
Einschränkungen des
Individuums. Es war daher dem Einzelnen kaum vollständig
möglich, den rigiden
Gesetzesvorschriften zu genügen. Zudem war die Thora repressiv
gegenüber den
Individualintentionen, was wiederum ein hohes Aggressionspotential
zufolge hat.
Vermutlich werden die Aggressionen sich nicht durch eine bessere
Befolgung der
Gebote geäußert haben, sondern durch Vermehrung der
Abweichungen gegen die
Thora. Dadurch konnte das Individuum den Eindruck von sich bekommen, es
sei
böswillig gegen das Gesetz, wenn es überhaupt erst
einmal zu einer
Internalisation gekommen war. Die Abweichung vom Gesetz als
göttlicher Regelung
menschlicher Verhältnisse war Sünde - Drang in die
Verhältnislosigkeit zu Gott
und dem Volksganzen. Sünde ist immer etwas negativ
affektiertes, hervorgerufen
durch die rigiden Sanktionen, die das Volk dem Abweichler angedeihen
ließ, zB
Jesus von Nazareth. Die nahezu unvermeidliche Abweichung vom Gesetz
mußte also
im Individuum Strafangst hervorrufen. Es befindet sich im Zwiespalt:
folgt es
seinen eigenen Intentionen, gegen die Thora u.a., so setzt es sich den
Sanktionen des Volks aus und sogar den angeeigneten
Mißbilligungen seines
Überichs. Es gerät somit in Selbstwiderspruch. Folgt
es aber dem Gesetz, so
wird es frustriert, entwickelt Aggressionen, bis es nicht mehr
fähig ist, sich
zu kontrollieren und die Aggressionen unbeherrscht ausbrechen in
gesetzwidriges
Verhalten. Sünde ist also eine Zwickmühle, die durch
inadäquate Moralcodices
produziert wird. Gesetze, die einmal als Förderung erlassen
waren, können unter
anderen Umständen zur Bremse und Hemmung des liebenden
Miteinander werden, wie
Jesus immer wieder zeigt, ob Ährenraufen oder Nothilfe am
Sabbat, ob
Reinheitsgebote, die der Seuchenvermeidung dienten und aktuell
unterlassene
Hilfeleistung verlangen. So entstanden unentwegt aporetische,
unhaltbare
Situationen: Wer das eine von 618 Geboten einhielt, verstieß
gegen das andere.
Man konnte nicht nicht sündigen. Die Lebensweise eines
völlig Thoratreuen nahm
Züge des Skurrilen, ja Unmenschlichen an.
Paulus war Pharisäer,
kannte die
Doppelbindung der Thora sehr genau. „Das Gesetz aber ist
nebeneingekommen, auf
daß die Sünde mächtiger würde. Wo
aber die Sünde mächtiger geworden ist, da ist
die Gnade viel mächtiger geworden..“(Rm 5,20) Gesetz
und Sünde befinden sich in
einem circulus vitiosus. Um die Sündenzwickmühle
anzukurbeln, braucht man also
das Gesetz. Es soll nach Paulus zur Erkenntnis der Sünde
dienen (Rm 3,20),
wobei Paulus wohlweise verschweigt, daß die Sünde
erst Produkt des Gesetzes
ist. Er nennt das Gesetz die Kraft der Sünde, damit ist wohl
etwas ähnliches
gesagt (1 Kor 15,56). Der Gerechte war der, der die
Gesetzesvorschriften
einhielt. Gerechtigkeit lag im Gesetz begründet und der
Gesetzestreue hatte
somit Anteil an der Gerechtigkeit. Gerechtigkeitsanteil haben war
nichts
anderes als soziale Bestätigung innerhalb der Dorfgemeinschaft
oder Synagoge.
Paulus baut auf dem Gefühl
des
Versagens in der Sünden-Doppelbindung auf. Die einzige
Ausflucht oder
Überwindung dieser Zwickmühle lag in einer Reduktion
der göttlichen Realität
vom Gesetz zum Glauben an die Erlösung durch Jesu Tod. Die
Bestätigung sozialer
Integrität wurde ersetzt durch Gottes Gerechtigkeit, die nun
aus dem Glauben
kommt. Nicht mehr Gesetzesbefolgung erreicht die Anerkennung des Selbst
bei
Gott und anderen, sondern allein Glaube macht gerecht (Rm 4,5). Der
Glaube nach
Jesu Tod an Jesus als den Herrn und Retter basiert auf der
melancholischen
Verinnerlichung des verlorenen realen Herrn. In genau derselben
Struktur
psychotischen Internalisierens spielt sich nun auch Gottesgerechtigkeit
ab. Was
vorher durch sozialen Verkehr und Verhalten darin zum Ausdruck kam -
die
Identität des Individuums als Sünder oder Gerechter
-, wird nun von sozialer
Kontrolle scheinbar enthoben hinein in das psychotische
Verhältnis zu Christus.
Dabei bildet Paulus eine erneute Doppelbindung, die zur
Bestätigung des
Psychosezustands Glauben beiträgt. Gott habe seinen Sohn Jesus
als
Stellvertreter für uns Sünder gehenkt und darum seien
wegen Jesu Tod unsere
Sünden vergeben, argumentiert Paulus. Sünde ist schon
völlig abstrakt gedacht.
Das Waagengerechtigkeitsprizip wird Gott dabei unterstellt, wenn man
meint,
Gott habe ein für alle Male durch Jesu Tod unsere
Sünden vergeben. Jesus war
nur ein allen unseren Sünden entsprechend bestialisches Opfer
Gottes an sich
selbst. Ein liebender Gott müßte ja wahnsinnig sein,
einen derart juristischen
formalen Masochismus zu betreiben: Gott als sein eigener Henker, seine
eigene
Bestie. Wer sowas von Gott denkt, ist vermutlich in seiner
ödipalen Phase
gestört gewesen. Der Sohn wird vom Vater ermordet. Dieses
Motiv von Molochopfer
in Gen 22 ist eine Phantasie starker Ausprägung über
die Kastrationsangst.
Dabei wurde Jesus symbolisch und stellvertretend für uns
kastriert oder seiner
Potenz beraubt und mußte nach ergiebiger Folter am Kreuz
ersticken.
Sündersein ist eine
Metaidentität, Sünder wird man
durch sein unkonformes Verhalten. Paulus treibt es auf die Spitze:
jeder Mensch
sei Sünder. Er akzeptiert nicht mehr die jüdische
Geisterscheidung der
Gerechten und Sünder durchs Gesetz, weil sie eine Finte der
Frommen war, und
keiner je völlig vollkommen nach dem Gesetz leben konnte. Er
hatte dies in
seiner Jugend als untadeliger Pharisäer offenbar versucht.
(Phil 3,3-9) Mehr
noch, man konnte sogar mit dem Gesetz sündigen, dh das Gesetz
und seine
minimale wörtliche Befolgung als Präsentation
benutzen, um vor der
Öffentlichkeit als Gerechter zu gelten. Die Oberschicht der
Sadduzäer schien
das hybride Selbstbewußtsein vieler Reichen zu haben,
daß sie Gesetzestreue als
Kulturgut zur Steigerung ihres Ansehens betrieben. Darum sagt Paulus,
es sei
hier kein Unterschied: „sie sind allzumal Sünder und
mangeln des Ruhmes, den
sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus
seiner Gnade
durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen
ist.“(Rm 3,23f) Er
kratzt an der Fassade der Sadduzäer, aber ebenso an der der
Pharisäer und sagt,
die Einhaltung des Gesetzes ist noch lange nicht die Erfüllung
seiner Intention.
Damit liegt er nahe bei Jesu Doppelgebot von Gottesliebe als
Nächstenliebe. Es
ist zugleich eine Kritik der Thora: Sie hat Israel nicht ins Reich
Gottes
geleitet, in der weder Sklave noch Freier mehr ist, sondern alle
Klassenunterschiede pfingstlich aufgehoben. Da Paulus aber den
jüdischen
Feudalismus nicht aufbrechen kann, versucht er die Idee einer freien
brüderlichen Gesellung Gleicher wenigstens vor Gott zu
instaurieren. Vor Gott
sind alle gleich, und zwar gleich schlecht. Diese Demontage der
Oberschichtsarroganzen,
die prägend für die Jesusbewegung war,
erfährt im Laufe der Kirchengeschichte
allerdings eine Wandlung zu einer Publikumsbeschimpfung des
Kirchenvolks im
allgemeinen. Produkt dieser Vermittlung eines bundesdeutschen
Sündenbewußtseins
von der Kanzel sind die Melancholiker in Kraepelins Psychiatrie:
„Häufig
spielen die Selbstanklagen in das religiöse Gebiet
hinüber. Der Kranke kann
nicht mehr so beten wie früher, hat den Glauben, den Segen
Gottes, die ewige
Seligkeit verloren, die Sünde wider den Heiligen Geist
begangen, die Kirche
nicht fleissig besucht, das Göttliche verkauft, nicht genug
Lichter geopfert,
ist vom Herrgott abgefallen, vom Teufel besessen; der Geist Gottes hat
ihn
verlassen; der böse Feind hat ihn holen wollen. Ihm ist, als
dürfe er nicht in
die Kirche hinein; er muss mit der Sündenschuld in die
Ewigkeit gehen, arme
Seelen erlösen.“(Kraepelin aaO Bd.II, 319)
"Für den gemeinsamen Ursprung
der Versündigungsideen und der Verstimmung aus einer
krankhaften Veränderung
des Gesammtzustandes spricht ferner auch die häufige
Beobachtung, dass die
Selbstanklagen sich fortlaufend an alle Handlungen und Erlebnisse des
Kranken
anknüpfen. Er merkt, dass er immer neue Fehler begeht, so dumm
daherredet, Alle
beleidigt."(Kraepelin aaO Bd.II, 320) Das kirchlich geschulte Ermitteln
eigener Sünden kann so zunehmen, daß ein Mensch
völlig handlungsunfähig wird
und den Schutzraum der Klinik aufsucht.
Der Ruhm (kau/xhsij), dh eine „haltbare
soziale
Position“(Bateson), fehlt allen vor Gott. Sünder
sind vor Gott in einer
unhaltbaren Position, analog zu ihrer unhaltbaren Position vor
Menschen. Paulus
schreibt also allen Leuten eine Metaidentität zu, die ihnen
verunmöglicht,
autonom in Würde vor anderen und Gott zu stehen. So
präpariert nun spricht er
den in die Enge Gedrängten die Erlösung zu. Er meint
wer an Jesus glaubt, wird
gerecht. Jesus hat objektiv die Identität aller Menschen vor
Gott in ein
anderes Licht gebracht, sie versöhnt, zu Kindern statt
Knechten gemacht. Damit
ist jede Aktion, die der Entwicklung eigener Identität
gewidmet ist, nicht nur
überflüssig geworden, sondern sogar eine
Undankbarkeit gegen Jesus.
Jesus hat für eine
haltbare
Position aller vor Gott gesorgt. Jeder, der selbst seine
Identität definieren
will, fällt wieder zurück in die Kategorie der
Metaidentität Sünder. Diese neue
Identität ist also von keiner Seite her zu beeinflussen,
perfekt abgesichert
gegen jeden Zugriff von außen (andere Leute) und Innen (Ich)
und Gott (den Jesu
Heilstat 'verpflichtet' zur Liebe). Sie überschreitet jede
Erfahrung, ist also
transzendental. Das Selbst kann nicht verhindern, von einem Gott
geliebt zu
werden, der seine Sonne aufgehen läßt über
Guten und Bösen. Die Gesetzestreue
als Werkzeug religiöser Selbstdarstellung ist damit restlos
ausgehebelt.
Werke machen nicht
gerecht/gottwohlgefällig. Die Zwickmühle: Ich bin
gerechtfertigt durch das
Kreuz, ob ich will oder nicht. Nichts anderes rechtfertigt. Die zweite
Bedingung der Rechtfertigung ist mein Glaube: Nur wenn ich glaube,
daß ich nur
durchs Kreuz gerechtfertigt bin, bin ich gerechtfertigt. Diesen
Widerspruch zu
durchschauen ist, genau wie der Glaube, nicht jedermanns Ding. Der
Glaubende
muß zu Gott passiv sein, die Rechtfertigungsaktion
über sich freudig ergehen
lassen, erst dann ist er Gott recht. Damit entzieht Paulus den
Hörern seiner
Predigt die Verfügungsgewalt über ihre eigene
Identität. Nur wer sich unter
Gottes Zwangsbeglückung protestlos ergibt, wird zu ihm ein
Verhältnis haben.
Unter der Bedingung des Verzichts auf jede Selbstbestimmung bekommt der
unmündige Christ Teil an der grenzenlosen Vaterliebe. Wer
nicht mitmacht,
bleibt in der von Paulus vorher verteufelten Sünde. Die
Geschichte Lk 18,9-13
vom Pharisäer und Zöllner, im Kindergottesdienst
erzählt, illustriert die
Selbstverurteilung als praeparatio evangelii. Das Werk der
Selbstzerfleischung
ist moralisch höherstehend als der Stolz auf eigene Leistungen
zur Verbesserung
der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die Sündensituation
– einmal
aufgenommen ins Selbst - ist so voll an moralischem Depressivstoff,
daß von
hier aus der Absprung in die psychotische Glaubensexistenz mit dem
Lockmittel
der unangreifbaren Identität als Gotteskind und Partizipant
des Teils dem
zerknirschten Büßer (der wahren Kirche und Gemeinde
der Heiligen) leicht fällt.
Die Identität ist wie bei jeder klassischen Schizophrenie
gegen jeden sozialen
Angriff gesichert. Der Autonomiemangel ist kompensiert in die
transzendentale
Identität, von Gott geliebt zu werden. Die Gemeinde mit ihrer
übergroßen Liebe
gegen alle, die zu ihr gehören im Wissen um die
überschwengliche Gnade Gottes,
wird neue Heimat des zerknirschten Sünders. Die neue Parole
heißt: Wir sind
gut, denn wir wissen, daß wir alle schlecht sind und nur aus
Gottes Gnade leben
dürfen. Die anderen aber, die das nicht wissen oder glauben
wollen, sind noch
viel schlechter. Sie sind so grottenschlecht, daß ihnen die
ewige Verdammnis
blüht.
Die Stoßrichtung Pauli
war ursprünglich
revolutionär gegen die Arroganz der Gesetzestreuen, die
Lepröse und alle
Kranken exkommunizierten und ihnen die Liebe Gottes zugleich mit
sozialer
Integration absprachen. Es war eine Kampfformel gegen
religiöse
Exkommunikation. Sie ist umgeschlagen zu einer
Beschädigungsformel in der
Sozialisation christlicher Kinder. Ihnen wird ihre Freude an den
kleinen
Erfolgen ihrer Persönlichkeitsentwicklung vermasselt. Sie
lernen, sich nicht
mehr an dem zu freuen, was sie selbst hervorbringen. Die Anerkennung
und das
Lob ihrer kleinen Leistungen wird ihnen versagt und damit die
Motivation zu
weiterer Initiative gedrosselt. Statt Lob für ihre kleinen
Fortschritte zu
erfahren, bekommen sie eingetrichtert, daß sie schlechte
Menschen sind und daß
Gott, den sie gar nicht sehen können, für ihre
Bosheit extra seinen Sohn geschlachtet
hat. Mit dieser Botschaft: „Du bist schuld am Tod des Herrn
Jesus!“ wird ein
massives negatives Selbstbild instauriert. Die freie Entwicklung eines
lebensbejahenden und selbstbestimmten Ichs wird im Keim erstickt.
Stattdessen
soll dieses arme Würstchen jetzt unentwegt im Gottesdienst
singen: Herr,
erbarme dich! Und nach einem Wort über die Gnade Gottes dann
diesen lobpreisen.
Diese allsonntägliche Proskynese ist für junge
Menschen Entwicklungsgift. Sie
lernen, daß sie nicht wert sind, unter Gottes Angesicht zu
treten, aber er
spricht nur ein Wort, und schon dürfen sie aufatmen, weil sie
keine Todesstrafe
bekommen, so wie Jesus damals, den sie ständig an dieser
Foltervorrichtung über
dem Altar hängen sehen können. Ich beschreibe diese
Zwickmühle des Glaubens an
die Rechtfertigung durch Jesu Kreuzestod so drastisch, weil ich sie
selbst
genau so durchlebt habe als Pfarrersohn. Flankierende
Maßnahme war dabei die
häufige Prügel auf den nackten Arsch,
ähnlich wie bei Luther. Sie verdeutlich
das Sündersein und die drohende göttliche Gewalt im
Endgericht vorscheinartig.
Solche christliche Sozialisation unter der Rechtfertigungslehre ist
eine
Zwangsjacke, aus der kein Kind entrinnen kann. Es lernt, Gott aus
lauter Furcht
vor noch schrecklicherem Strafgericht zu danken und zu lieben. Es lernt
Gott
nicht kennen als Befreier aus der Not, sondern als strengsten Richter
der Welt,
der für seine außergewöhnliche Milde jetzt
aber auch den vollen Dank verlangt,
die ganze Liebe, von ganzem Herzen und ganzem Gemüte.
Ein wesentlicher Unterschied zum
klinischen Schizophrenen besteht darin, daß die
Isolationszirkel der Christen
nicht in Vakuum enden, sondern in Gott und über Gott dann in
der Gemeinde, die
ein soziales Gefüge bildet. Katatonisch verliefen christliche
Schizophrenien
kaum, von Säulenheiligen und Eremiten abgesehen. Auch
Hebephrenie gab es nicht,
von fundamentalistischen Verbalinspirationslehren abgesehen.
Dafür waren die
paranoiden Züge scharf ausgeprägt. Es bestand starke
Angst vor einem Rückfall
in Sünde. Welt und Tod, Vergänglicher Leib und alles
diesseitige wurden
gemieden. Das bei Schizophrenen hochentwickelte Selbstreflektieren und
Kontrollieren geht aus Paulus´ Texten eindeutig hervor.
Nach Emil Kraepelin zeigt die
Gottesdienstgemeinde allerdings erstaunliche Ähnlichkeiten zu
dessen katatonen
Insassen seiner Heidelberger Irrenanstalt: „Einen
eigenthümlichen Gegensatz zu diesen
Erscheinungen, in denen sich das allgemeine Widerstreben gegen jede
Veränderung
des augenblicklichen Zustandes ausdrückt, bilden die vielfach
hervortretenden
Anzeichen gerade einer erhöhten Beeinflussbarkeit von aussen
her. Dahin gehört
vor allem die ausnahmslos kürzere oder längere Zeiten
hindurch bestehende
Katalepsie, die in solchen Zuständen ihre höchste
Ausbildung zu erreichen
pflegt. Seltener und meist nur vorübergehend begegnet man auch
der Echolalie
oder gar der Echopraxie. Die Kranken wiederholen dann einfach ganz
mechanisch
die an sie gerichteten Reden oder auch irgendwelche zufällig
aufgefasste
Aeusserungen, stimmen in ein Lied ihrer Nachbarn ein und wiederholen
es; sie
ahmen lebhaftere Gebärden nach, die man ihnen in
eindringlicher Weise vormacht
(Hochheben der Arme, Händeklatschen), setzen eine von aussen
angeregte Bewegung
(Taktschlagen, Rollen der Hände umeinander) längere
Zeit hindurch fort.
Bisweilen sieht man sie sogar stundenlang alles mitthun, was irgend
eine
bestimmte Person ihrer Umgebung thut, ihr alles nachsprechen, in
gleichem
Schritt hinter ihr hergehen, sich mit ihr an- und auskleiden und
ähnliches.“
(Kraepelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und
Aerzte, Leipzig
(Barth) 1899, 166f) Die Liturgie habitualisiert die Echolalie und
Echopraxie.
Der einzige Unterschied ist, daß im Gottesdienst die
Gläubigen aufgrund eines
andressierten Kommandos aktiv werden, während die
Schizophrenen in Kraepelins
Irrenhaus von selbst mitmachen.
Der Geistbesitz des
Glossolaliebegabten findet sich ebenfalls im Irrenhaus: „Die
Nahrungsverweigerung wechselt unvermittelt mit Gefrässigkeit;
der vielleicht
wochenlang regungslos stumme Kranke fängt plötzlich
an, überlaut einige ganz
unverständliche Schreie auszustossen, Kikeriki, Hurrah zu
rufen...“ (Kraepelin
aaO 167) Dabei registrieren die Patienten oft minutiös ihre
Umwelt und zeigen,
daß sie keinesfalls verblödet sind. Der
überraschende Wechsel von einem
Ichzustand zum anderen, den Kraepelin so herrlich unverständig
beschrieben hat,
findet auch im Gottesdienst statt: Erst der total zerknirschte
Beichtvogel mit
seinem Kyrie, dann aber der voll herumjubelnde und salutierende
Manische
Hochgestimmte. Ein normaler Mensch dreht nicht innerhalb von 10
Sekunden nach
dem Gnadenspruch von Null auf Hundert. Auf der
phänomenologischen Außenansicht
gleichen sich das Betragen des Irren und das des Christen im
Gottesdienst auf
seltsame Weise. Nur das „Negative“, die totale
Verweigerung gegenüber den
Befehlen des Chefarztes, findet man im Gottesdienst nicht. Das ist auch
der
zentrale Unterschied von Kirche und Irrenhaus: der Christ ist gehorsam,
der
Irre rebellisch. Ein rebellischer Christ allerdings war –
zumindest eine kurze
Zeit lang – Martin Luther. Er wurde dann auch fix gebannt von
Papst Leo.
„Bedrohungen machen auf sie gar keinen Eindruck; sie strecken
unter Umständen
auf Wunsch ruhig die Zunge heraus, wenn man ihnen das Abschneiden
derselben
ankündigt und sich nun mit Messer oder Schere
nähert.“ (Kraepelin aaO 175) Was
müssen diese Insassen alles an Schikane ausgehalten haben?
Daß sie in diesem
Milieu alle möglichen Formen des Protestes mit Kot und Urin
praktiziert haben,
ist nur zu verständlich.
Nach Niklas Luhmann ist Religion
Reduktion von Weltkomplexität. Christliche Selbstreflexion hat
dabei ihren
paranoiden Charakter nicht verloren. Bis hinein etwa in Bonhoeffers
Ethik hat
die Welt den Charakter des Vorletzten Uneigentlichen, Provisorischen.
(Dietrich
Bonhoeffer, Ethik, München 1949, 85) Die eigentliche Heimat
der Christen liegt
- im Pietismus und konservativen Kirchentum - immer noch in der
Transzendenz.
Nach dem Tod soll eine Auferstehung aller Toten stattfinden, man kommt
dann vor
das von der Apokalyptik des AT angedrohte Endgericht (Mt 24), von dort
aus in die
verschiedenen Abteilungen von Himmel und Hölle.
Hölle und Fegefeuer als
Szenarien
paranoischer Vision mag vielleicht früheren
Strafveranstaltungen abgelauscht
sein; in jedem Fall aber waren diese Visionen das ideologische
Grundpotential
für die neuzeitlichen Ausgeburten des paranoischen
Höllenwahns in den
Menschenschlachthäusern wie Auschwitz. Als unbewußt
Ersehntes kam da das in
tiefer Volksseele schlummernde, aber offiziell gefürchtete
Grauen der biblischen
Apokalypsen zur von antisemitischen deutschen Christen erhofften
Erfüllung. Wer
beim verkirchlichten Jesus das Herrsagen geübt hat, kann es um
so leichter und
schneller auch bei irdischer Obrigkeit, die von Gott verordnet ist (Rm
13). Der
Märtyrer liebt jeden Staatsstreich auf seinem Buckel, denn er
sieht darin
Gottes liebende Rute. (Spr 3,12; Hebr 12,6) Gequältwerden ist
unmittelbarer
Erweis der Vaterschaft Gottes (Hebr 12,7-10). Das erlaubt dann auch die
strenge
Kirchenzucht mit Mahnung, Warnung, Exkommunikation und Verbrennung zum
Selbstschutz des Deliquenten und Vorwegnahme des später sonst
unausweichlichen
Fegefeuers. Gerade weil alles hier auf Erden so uneigentlich ist, darf
noch
mehr dreingeschlagen werden, ausgebeutet und gequält. Nur das
Endgericht und
die ihm vorlaufende Strafangst verringern zugleich die Paranoia, die
sie
erzeugen; stoppen das Ausleben all ihrer Visionen in konkreter
politischer
Aktion.
Der mittelalterlichen
Kirchenzucht entkam jemand nur um den Preis seines Lebens. Die
christliche
Gemeinde als Terrorsystem im Namen der Liebe Gottes
verdächtigt jeden, der
nicht korrekt mitmachen will, unverzüglich der teuflischen
Besessenheit, die
exorziert werden muß. „Sie haben nicht den heiligen
Geist, lieber Bruder.“ In
dieser Kirchenzucht schlägt die Welt durch. Das, was man als
feindliche Welt
mit ihren Todsünden verachtet, gemieden und verlassen hatte,
kehrt im Reich
Christi, der Kirche, wieder. Die Gemeinde ist eine totale Institution
wie Knast
und Irrenhaus, jedoch ohne Stacheldraht und Mauern. Die Mauern sind
ideologischer Natur. Wer entfliehen will, bekommt die ganze soziale
Diskriminierung seines vormaligen alleinigen sozialen Netzwerkes zu
spüren. Man
betet für ihn, man attributiert ihn mit verletzenden
Begriffen. Man grüßt ihn
nicht mehr, schneidet ihn, ignoriert ihn. Die ehemalige Heimat wird zum
vernichtenwollenden Feind. Die Kirchenzucht mag sich vielleicht
künftig im
Zeitalter des Pluralismus besänftigen, in Sekten jedoch findet
gerade diese
harte Bandage eine ungebrochene Attraktivität. Wem
Züchtigung vom frommen Vater
vertraut ist, der fühlt sich in der hardcore-Truppe
endzeitbetonter Gemeinden
und Sekten wie zuhause. Wie die Gitterstäbe im Knast
Sicherheit vermitteln und
Geborgenheit schaffen, so die strengen Regeln von Kloster und
evangelikaler
Sekte. Die harte Bandage schmerzt, gibt aber auch ichschwachen Seelen
Halt.
Das Bewußtsein der
Zugehörigkeit
zu einem Kollektiv der Heiligen, einer in besonderer Weise von Gott
erwählten
und vor der ewigen Verdammnis geschützten Heilsarmee,
gratifiziert das einzelne
Mitglieder dieser Elite-Einheit in außergewöhnlicher
Weise. Der Christ ist
heiliger Bote Gottes wie ein Engel, er ist von Gott mehr geliebt als
die da
draußen in der feindlichen Welt, die früher oder
später der Vernichtung
anheimfallen und die man innerlich bereits im Fegefeuer ewiger
Verdammnis
bruzzeln sieht wie in der Lazarusgeschichte Lk 16,23-25. An die Stelle
des Selbstbewußtseins
normaler Menschen hat sich hier die Identifikation mit der
Gemeindesekte
gesetzt. Die Grenze [Welt – Ich] wird progredient ersetzt
durch die Grenze
[Welt - Gemeinde]. Die Teilhabe am Leib Christi wird identifiziert mit
Teilsein
in der Gemeinde. Die Gemeinde nimmt die Funktion der großen
Mutter an, in deren
Kirchenschiff-Schoß die göttliche Geborgenheit
sinnlich spürbar wird durch
Verschmelzungserlebnisse gemeinsamen Singens und Sprechens von
Bekenntnisformeln, Gebeten und Psalmen. Diese Konfluenzen lassen die
Ich-Grenzen verschwimmen und inszenieren die Uterusgeborgenheit immer
wieder
aufs neue. Zugleich praktiziert die Gemeinde nach innen genau die
Solidarität,
die die feindliche Welt mit ihrer Klassenherrschaft und verwalteten
technischen
Kälte vermissen läßt.
Man könnte auch die
Gottesreichhoffnungen Blochs der Paranoia verdächtigen, da
auch sie dualisieren
in die entfremdete Spätkapitalismuswelt und die neue Heimat
auf Erden und im
Himmel zugleich. Doch hebt die Dialektik im Histomat gerade das
primitive
Dualisieren auf in höhere Formen von Komplexität. Das
einstige paranoische
Element scheint mir da zu sein, daß die herrschenden
ökonomischen Verhältnisse
als schlecht und unmenschlich betrachtet werden. Die Reaktion dieser
Einsicht
ist aber nicht der Rekurs des Individuums in sich oder Gott hinein und
in die
totale Unangreifbarkeit eines von der Realität isolierten
Vakuums, sondern die
Extrapolation der Wünsche und Hoffnungen und Intentionen des
Individuums, die
vermittels dadurch entstehender Solidarität Intentionsgleicher
zur Aktion der
Veränderung politischer Verfolgungssituationen führt.
Kritik an der Paranoia
richtet sich nicht auf die Empfindung der Welt als Gefängnis,
sondern auf die
christliche Impotenz als Ausweg.
Die eingespielte
Gewißheit eines
Omnipotenzvaters erspart dessen Söhnen alles wirkliche Tun und
macht sie
impotent, unfähig zur Zeugung gesellschaftlicher
Veränderungen im Sinne
fortschreitender Gerechtigkeit. Die christlich konstitutive
Impotenzerfahrung
wird sogar noch glorifiziert und im paulinischen
Schwachheitsrühmen (2 Kor
11,30) zur eigentlichen Stärke umfunktioniert. Der Christ als
Kastrat Gottes
kann niemals Autonomie lernen. Er nährt und hütet
seine Ich-Schwäche mit aller
Sorgfalt. Selbstlosigkeit als Tugend sagt es ehrlichst: Ein Christ hat
kein
Selbst, wenn er ein Christ ist. Werkzeug Gottes, Instrument, Objekt -
nicht
zuletzt Liebesobjekt des Liebegottes - darin offenbart sich die Leere
der
Höhle, in der bei gesunden Menschen das Selbst ruht. Die Angst
vor wirklicher
Autonomie im Christentum erreicht heute den Stand, daß der,
der Gott als Freund
bezeichnet, nach seiner Legitimation zum Theologiestudium befragt wird.
Der
Beter, dem Gott sein Tun vorschreibt, - oft werden sogar Anweisungen
gegen den
eigenen „Willen“ als Beweis von Echtheit des
offenbarten Gottesworts gewertet
(Überich) -, kann durchaus als zwangsgesteuert bezeichnet
werden. Diesmal ist
der Motor nicht der verdrängte Trieb, sondern das herrische
Überich, dessen
Urbild vom Vater abgeschaut wird. Unter den Hintergrund
mittelalterlicher
Vergewaltigungspraktiken ist es eindeutig, wenn Luther Christus als
Bräutigam
bezeichnet und den Glaubenden als Braut. Ziehen wir die Vermutung
hinzu, daß
auch im Mittelalter Mädchen in der liebesorientierten Technik
erzogen wurden
und damit auf totale soziale Dependenz dressiert, so sagt Luther damit:
der
Christ ist von Gott abhängig. Wenn heute jemand von Alkohol
abhängig ist oder
vom körperfreundlichen Haschisch, kommt er in die
Nervenklinik.
Dort wird er im komischsten Fall
heute von Jesusleuten erwischt und seine Sucht wird auf Jesus
umgeleitet. Die
Jesuspeoplebewegung hilft der Schwachheit einer zu Ichschwäche
erzogenen
Nachkriegsgeneration vollends auf deren Schwächegipfel. Heute
sind sie schon
wieder mitten in der Kerngemeiude integriert, die mit der Jeans aus den
USA
importierten Superfrommen - wie in den USA ja alles super sein
muß. Sie rufen
im Verein mit den alten Christbrüdern den Bekenntnisnotstand
aus und fordern
mit einem der Studentenbewegnng abgeguckten Haß auf allen
weltlichen und
teuflisch-antichristlichen Tand in der Kirche: „Kein anderes
Evangelium!“
In der Kirchenspalterei und
dogmatischen Repressivität der Evangelikalen gipfelt heute die
christliche
Paranoia wieder auf. Die Teufelsmächte seien schlimmer
geworden als je zuvor,
sagen sie. (Kurt Koch, Leben auf Abruf. Skizze der
Endzeit nach Matthäus
24, Berghausen (Evangelisationsverlag) 1969) Der Teufel versuche zu
spalten. Da
fragt man sich: wer ist denn am spalten? Und. wer nennt das Ganze dann
auch
noch Geisterscheidung? Und wer maßt sich das Richteramt von
Mt 7,6 an?
Luther war manisch-depressiv.
Eine äußerst rigide Erziehung und der
bergmännische Aberglaube seiner Eltern,
daß in den Gruben und Plumpsklosetts der Teufel hause,
führten bei ihm zur
Höllenangst vor dem Klosett und zur Obstipation. Zeitlebens
konnte Luther nur
unter Mühe seinen Darm entleeren. Die berühmte
„Offenbarung im Turm“ hat beim
Kotabgeben im vermuteten Angesicht des Teufels stattgefunden. Indem
Luther das
Üble aus sich ausschied und dem Teufel
überließ, kam der Geist der Erleuchtung
über ihn. (Erik Homburger Erikson, Der junge Mann Luther,
Frankfurt/Main (Suhrkamp)
1975,225) Schlaginhaufen notiert 1532 in einer Tischredenmitschrift:
„lustus ex
fide vivit, iustitia Dei revelatur sine lege. Mox cogitabam: Si
vivere debemus ex fide, et si iustitia
Dei debet esse ad salutem omni credenti, mox erigebatur mihi animus:
Ergo
iustitia Dei est, quo nos instificat et salvat. Et facta
sunt mihi haec verba iucundiora: Dise kunst hatt mir der Spiritus
Sanctus auff
dies Cl. eingeben.“(WATR 2,177 Nr. 1681 vgl. WATR 3, Nr.
3232: Rörer gibt die
Äußerung WATR 2, Nr. 1682 wie folgt wieder:
„Diese kunst hat mir der Geist
Gottes auf dieser cloaca in horto eingeben.“) Zu deutsch:
„Der Gerechte lebt
aus Glauben, die Gerechtigkeit Gottes wird ohne das Gesetz offenbart.
Da dachte
ich: Wenn wir aus Glauben leben müssen, und wenn die
Gerechtigkeit Gottes jedem
Gläubigen zum Heil sein muß - da wurde mir die Seele
aufgerichtet: Also ist das
die Gerechtigkeit Gottes, wodurch er uns gerecht macht und
erlöst. Und so sind
mir diese Worte angenehmer geworden. Diese Einsicht hat mir der Heilige
Geist auf
dem Scheißhaus gegeben.“ Das Loslassen des
Defäkats verschränkt sich mit der
Erfahrung der Erlösung. Psychiatrisch könnte man
behaupten, die Offenbarung im
Turm war eine manische Phase. Denn Luther fiel später oft
wieder in
Depressionen und Anfechtungen zurück; die neue
Identität nach seinem Mönchsein
scheint also nicht so stark gewesen zu sein, daß damit sein
Selbst unangreifbar
geworden ist. Wie Paulus sein Leben Phil 3,8 als sku/bala bezeichnet, kann Luther seine
depressive Selbstkritik vor Studenten ausdrücken:
„Ich habe der welt sat, so
hat sie meiner wider sath, das bin ich auch wol zufrieden. Sie meinet,
wenn sie
nur mein los were, so wer es gut; des wirt sie wol innen werden. Es ist
doch
wie ich offt gesagt: Ich bin der reiffe dreck, so ist die welt das
weite
arschloch, drumb sein wir wol zu scheiden.“(WATR 5,222 Nr.
5537 nach
Heydenreich)
In der Mansfelder Lateinschule
notierte der lupus, ein Schülerspitzel, Vergehen wie Fluchen,
Witzereißen, Deutschsprechen
usw. auf seinem „Wolfzettel“. Am Samstag wurde
dieser „ausgewertet“. Pro
Vergehen ein Streich. (Erikson aaO 57;68f;84f) „Die
Lupi-Zeddel, item die
Examina legor, legeis, legere, legitur, cuius partis orationis, das
sind der
Kinder Carnificinae gewesen. Ich bin ein Mal fur Mittage in der Schule
funfzehen Mal nach einander gestrichen worden. Ouodlibet regimen debet
observare discrimen ingeniorum, man muß Kinder
stäupen und strafen, aber
gleichwol soll man sie auch lieb haben“.(WATR 3,417 Nr.
3566B) „Man soll die
kinder nitt zu hart steuppen, den mein vatter steupt mich einmal also
sehr, das
ich im floh und das im bang war, bis er mich wider zu im gewenet. Ich
wolt auch
nitt gern mein Hansen seher schlagen, sunst wurd er blöde und
mir feind“ (WATR 2,134
Nr. 1559) „Mein mutter steupet mich umb einer eingen
nuß willen usque ad
effusionem sanguinis. Et ita stricta disciplina me tandem ad
monasterium
adegerunt, wiewol sie es hertzlich gut gemeinet haben, sed ego
pusillanimus
tantum. Ipsi non potuerunt
discernere
inter ingenia et correctiones, quomodo temperandae essent. Man mus
also straffen, das der apffel bei der ruten sei.“(WATR 3,
415f Nr. 3566A)
„Meine Aeltern haben mich gar hart gehalten, daß
ich auch drüber gar schüchtern
wurde. Die Mutter stäupte mich einmal um einer geringen
Nuß willen, daß das
Blut hernach floß, und ihr Ernst und gestreng Leben, das sie
mit mir führeten,
das verursachte mich, daß ich darnach in ein Kloster lief und
ein Mönch wurde;
aber sie meintens herzlich gut. Sed non poterant
discernere ingenia, secundum quae essent
temperandae correctiones. Quia man muß also
strafen, daß
der Apfel bey der Ruthen sey. Es ist ein böse Ding, wenn um
der harten Strafe
willen Kinder den Aeltern gram werden, oder Schüler ihren
Praeceptoribus feind
sind. Denn viel ungeschickter Schulmeister seine ingenia mit ihrem
Poltern,
Stürmen, Streichen und Schlagen verderben, wenn sie mit
Kindern anders nicht
denn gleich als ein Henker oder Stockmeister mit einem Diebe
umgehen.“(WATR
3,416 Nr. 3566B) „Wo Vater und Mutter nicht mehr
können, da muß Meister Hans,
der Henker, ausrichten und ziehen.“(M. Johann Mathesius,
Leben Luthers 1565,
Predigt Nr. 1 – WATR 1,167 Nr. 387)
Schon vorhandene Neurosen nutzt
der aggressive Pietismus geschickt aus, um zu Gott zu treiben. Exempel
unter
vielen anderen ist Kurt Koch, der sich wie Franz Joseph
Strauß auf das
Schwarzsehen spezialisiert hat und die Verfolgungsängste, die
er schürt, für
den Menschenfang nutzt. In einer seiner ca. 40
veröffentlichten Traktätchen zum
Bangemachen heißt es: „Mir ist die Bedeutung der
Neurose bekannt. Die Seelsorge
zeigt, daß Neurotiker und Depressive oft einen direkteren Weg
zu Gott haben,
als der seelisch gesunde und selbstsichere Mensch. Wir haben sogar
unter den
großen und bekanntesten Männern Gottes solche, die
manchmal von depressiven
Phasen heimgesucht wurden. Neurosen und Depressionen können
für einen Menschen
nicht nur Belastungen bedeuten, sondern ihm Tiefgang des Glaubenslebens
vermitteln. (...) Nur wenige wissen, daß zwischen
spiritistischen Umtrieben und
Neurosen häufig ein Zusammenhang besteht. Etwa die
Hälfte aller Neurotiker, die
ich in die Seelsorge bekam, hatten spiritistische Vorfahren oder eigene
spiritistische Belastungen. (...) Die Zunahme von Gemütsleiden
und
Geisteskrankheiten, das Überhandnehmen von speziellen schweren
Erkrankungen wie
Krebs, die häufige Flucht in den Selbstmord, liegen in der
Linienführung der
endgeschichtlichen Ereignisse.“(Kurt Koch, Leben auf Abruf,
Skizze der Endzeit
nach Mt. 24, Evangelisationsverlag Berghausen, 40-42)
Über die
Verkörperung des Selbst
beim Christen gibt am meisten Aufschluß der paulinische sa/rc-Begriff in seiner
Gegenüberstellung zur du/namij des pneu=ma. Für den Menschen des AT
war
Fleisch Bezeichnung für das Material, aus dem Menschen und
Tiere gemacht sind,
genau wie unser Sprachgebrauch, in späterer Zeit
hieß Fleisch: Mensch, Lebewesen.
Fleisch war ein Synonym für die Identität als Mensch
oder Tier. Bei Jesaja zB
finden wir Sätze wie: „Brich dem Hungrigen dein
Brot, und die im Elend ohne
Obdach sind, führe ins Haus. Wenn du einen nackt siehst, so
kleide ihn, und
entzieh dich nicht Fleisch und Blut!“(Jes. 58,7) Unter
gnostischem Einfluß aber
finden wir das Gegenteil von diesem Ruf in die Verkörperung.
Paulus stöhnt: „In
meinem Fleisch wohnt nichts Gutes“(Rm 7,18). Rm 7 ist eine
klassische
Schizophreniestudie: „Denn solange wir in Fleisch waren, da
waren die
sündlichen Lüste, welche durchs Gesetz sich erregten,
kräftig in unsern
Gliedern (besonders dem einen, M.L.), dem Tode Frucht zu bringen. Nun
aber sind
wir dem abgestorben, das uns gefangen hielt, und vom Gesetz los, so
daß wir
dienen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des
Buchstabens. Was
wollen wir denn nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei
ferne! Aber die Sünde
erkannte ich nicht, außer durchs Gesetz. Denn ich
wußte nichts von der Lust,
hätte das Gesetz nicht gesagt: 'Laß dich nicht
gelüsten!' Es nahm aber die
Sünde Anlaß am Gebot und erregte in mir jegliche
Lust; denn ohne das Gesetz ist
die Sünde tot. Ich aber lebte vormals ohne Gesetz; als aber
das Gebot kam, ward
die Sünde lebendig, ich aber starb; und es fand sich,
daß das Gebot mir zum
Tode gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war. Denn die
Sünde nahm Anlaß
am Gebot und betrog mich und tötete mich durch dasselbe Gebot.
So ist also das
Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, recht und gut. Ist denn, was
doch gut
ist, mir zum Tode geworden? Das sei ferne? sondern die Sünde,
auf daß sie recht
als Sünde erscheine, hat mir durch das Gute den Tod gewirkt,
damit die Sünde
überaus sündig würde durchs Gebot.
Denn wir wissen, daß das
Gesetz
geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde
verkauft. Denn Ich
weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will;
sondern was ich
hasse, das tue ich.“
Dies ist die Zwangssteuerung
durch ein falsches Selbstsystem, die Sünde. Sie tut mit dem
Körper, was sie
will.
„Wenn ich aber das tue,
was ich
nicht will, so gebe ich zu, daß das Gesetz gut sei. So tue
nun nicht ich es,
sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß,
daß in mir, das ist in
meinem Fleische, wohnt nichts gutes. Wollen habe ich schon, aber
vollbringen
des Guten finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich
nicht;
sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich
aber tue, was ich
nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir
wohnt. So finde
ich nun ein Gesetz, daß mir, der an Gottes Gesetz nach dem inwendigen
Menschen (e)/sw
a)/nqrwpoj - das wahre
Selbst des Schizophrenen) ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen
Gliedern,
das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt
mich gefangen (Isolation
des wahren Selbst) in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen
Gliedern. Ich
elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses
Todes? Ich danke
Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! So diene ich nun mit dem
Gemüte dem
Gesetz Gottes, aber mit dem Fleische dem Gesetz der
Sünde.“(Rm7,5-25) Der Geist
ist vom Körper und den Trieben des Paulus völlig
abgespalten. Von diesem
Phänomen der Geistesspaltung her trägt Schizophrenie
ihren Namen. Der Körper
trägt zwei feindliche Selbst-Systeme:
1.
das wahre Ich, den inneren
Menschen, das Gemüt und
2.
die Sünde mit den
Lüsten, die sie erregt. Es ist
anzunehmen, das damit Sexualität und andere Leibesregungen und
-bedürfnisse
gemeint sind, die Paulus haßt.
Das
wahre Selbst des Paulus ist fähig, seinen Körper und
die damit
verbundenen Funktionen zu hassen. Der schon erwähnte
Grundkonflikt zwischen dem
repressiven Gesetz und den von körperlichen Grundfunktionen
und -Intentionen
her bedingten Verhaltensweisen ('was ich tue') wird als Sünde
empfunden und das
wahre Selbst steht dem mit seinem Wollen ohnmächtig
gegenüber. Der Wille des
inneren Menschen hat keinen Einfluß mehr auf das
selbstregulierende Verhalten
des Körpers, so empfindet es Paulus. Das wahre Selbst hat gar
keine Möglichkeit
mehr, sich in Aktion zu äußern, da alles Tun schon
Sünde ist. Die Handlungen
werden von Paulus einer fremden Macht zugeschrieben, ihn beherrschend.
Damit
entzieht er sich - jedenfalls sein innerer Mensch, und seine wahre
Identität -
recht geschickt jeder Verantwortlichkeit für sein Handeln.
Alles hat ja die
Sünde in ihm gemacht.
Der Leib wird gut platonisch als
Kette und Gefängnis erfahren, ihm ist das wahre Ich des Paulus
zwar schon
abgestorben, so meint Paulus. Es ist durch Mitsterben mit Christus und
Wiederauferstehen in geistlicher Gestalt (Rm 6,4-12) aus den
Gesetzmäßigkeiten,
denen jeder Körper unterliegt, zB Sterblichkeit, gleichwie
Jesus nach seinem
Tod, in den neuen Daseinsstand der Geistlichkeit getreten; aber
dummerweise ist
dieses geistliche wahre Ich des Paulus noch immer an seinen
Körper gebunden und
auf ihn als Träger und Medium angewiesen. Darum sehnt sich
Paulus nach dem
letzten Schritt zur totalen Vergeistlichung seines wahren Selbst, der
Erlösung
vom Körper der Vergänglichkeit. Das sich als
unsterblich wähnende wahre Ich von
Paulus will den Ballast der vergänglichen
Körperlichkeit abwerfen, um vollends
frei zu sein. Das das ohne physischen Tod nicht geht (der aber auch das
wahre
Ich jeder sozial erfahrbaren Äußerung berauben
würde, was Paulus wohl weiß!),
muß sich der arme Paulus mit dem Verließ seines
sündlichen Körpers
zufriedengeben und findet als Ausweg die unfriedliche Koexistenz, oder
wie
Luther sagt: totus homo peccator simul iustus. Das wahre Ich des
Christen ist
gerecht, das falsche sündlich. Darum wird auf den Pelz nicht
mehr viel Pflege
und Sorge verwandt. Hatte der kerngesunde Jesus Wohlgefallen an der
Salbung
durch eine Frau (Mk 14,3-9), so ist der Krüppel Paulus voll
von Haß auf seinen
Körper, der ihn quält, und die Welt. Seiner sozialen
Verantwortlichkeit ist er
zumindest damit geschickt ausgewichen. Sein
Kommunikationsbedürfnis freilich
treibt ihn zur Mission; nur wenn er andere Leute mit gleicher
Geistesspaltung
erzeugt oder findet, ist in all seiner Unvermitteltheit zum
Körper und den auf
Körperlichkeit basierenden Kommunikationsformen noch
Kommunikation möglich.
Diese bedarf zwar des körperlichen Mediums, aber der
Körper bleibt nur Medium
zur geistlichen Kommunikation. Die Sprache macht sich als wesentlichste
Kommunikationsform breit, denn nur sie ist wahres Geistliches Medium
und gegen
Sündlichkeit gefeit - meint Paulus. Die aus solcher
Körperfeindlichkeit
resultierende Verkrampftheit hat sich bis in die heutige
bürgerliche Erziehung
und Sexualfeindschaft erhalten.
Das Wort ward Fleisch: Jesus.
Erfolg: das Fleisch will Wort werden: Paulus.
Jesus schrie am Kreuz. Das Sterben
muß ihm weh getan
haben. Viele Märtyrer schrieen nicht auf ihren Scheiterhaufen
und brennenden
Kreuzen. Sie sangen Kirchenlieder. Richard Wurmbrand wird heute
gefeiert, weil
ihm und einigen Gefängnisbrüdern in der
eingekerkerten Untergrundkirche im
Osten bei der Folter nicht übermäßig unwohl
war. Seine physische
Unempfindlichkeit wird als göttliches Wunder gepriesen und
besungen. Es ist
sicheres Anzeichen für Schizophrenie, genauer: katatonen
Stupor als Form der
Loslösung des intelligenten Ichs von sensomotorischen
Körperfunktionen. In Emil
Kraepelins für die Psychiatrie grundlegendem Lehrbuch (er
nannte Schizophrenie
noch „dementia praecox“ mit
Sinnestäuschungen, Aufmerksamkeitsstörungen,
Zerfahrenheit, Wahnbildungen, Gemüthliche Verblödung,
Willensstörungen wie
Negativismus, Stereotypen, Automatie. cf Psychiatrie. Ein Lehrbuch
für
Studierende und Aerzte, Bd. II, Leipzig (Barth) 1899,163f) wird
erwähnt, daß
man Patienten Nadeln in die Stirn stechen kann, ohne daß die
Patienten sie
wieder herausziehen. „Der katatonische Stupor ist
hauptsächlich beherrscht
durch die Erscheinungen des Negativismus und der Befehlsautomatie. Die
Kranken
werden einsilbig, wortkarg, brechen mitten im Wort oder Satz ab,
hören
allmählich vollständig auf, zu sprechen (Mutacismus),
oder haspeln doch nur
hier und da leise einige unverständliche Worte,
führen auch wohl flüsternde
Selbstgespräche, lachen vor sich hin. Manchmal setzen sie zum
Sprechen an,
sobald man Miene macht, sich zu entfernen, verstummen aber sofort, wenn
man
sich wieder zu ihnen wendet. Auch zum Schreiben sind sie meist nicht
mehr zu
bringen, brechen nach einigen Buchstaben ab, fahren spielend
über das Papier
oder bringen nur sinnlose Kritzeleien hervor. Sie blicken nicht mehr
auf, wenn
man mit ihnen spricht, drehen den Kopf nicht her, wenden sich
vielleicht
geradezu ab. In einzelnen Fällen erhält man jedoch
zeitweise noch schriftliche
Antworten, oder die sonst stummen Kranken singen auf Befehl einmal mit
feiner
Stimme ein bekanntes Lied. Im übrigen sind sie
gänzlich unzugänglich gegen jede
äussere Einwirkung, reagieren nicht auf Anreden,
Berührungen und selbst
Nadelstiche; nur selten führt ein sehr lebhafter Reiz
Ausweichbewegungen noch
seltener einmal einen unvermuthet gewandten und kräftigen
Angriff herbei. Auch
ein gelegentliches leises Blinzeln, stärkere Röthung
oder Schwitzen des
Gesichtes, Zucken um die Mundwinkel bei solchen Versuchen, Auflachen
bei
scherzhaften Anlässen deuten darauf hin, dass weniger die
Auffassung der
Eindrücke, als die Auslösung einer Willenshandlung
auf dieselben gestört ist.“
Mit einem Arzt wie Kraepelin, der Patienten nicht mehr als Menschen,
sondern
Studienobjekte sah, haben diese mit ihrem Feingefühl den
Kontakt völlig zu
Recht verweigert. Befehl zum Singen, wie bei Hinrichtungen im KZ.
Physische Unempfindlichkeit haben
sich viele in
Dachau gewünscht. Sie waren aber nicht schizophren. Darum
klappte es nicht und
sie litten weiter. Zur Ausschaltung des Schmerzempfindens muß
der
Fleisch-Körper als Teil der bösen Außenwelt
dissoziiert werden. Dies setzt die
Einübung einer tiefen Persönlichkeitsspaltung schon
lange vor der Folter
voraus.
Luther nimmt Pauli Scheidung von
Leib und Seele in der Freiheitsschrift auf. Die Freiheitsschrift
enthält eben
auch die wesentlichen Merkmale von Schizophrenie. Allein der
dualistische
Aufbau von 'freier Herr' und 'dienstbarer Knecht', der
durchgängig expliziert
wird, ist schon bezeichnend. Im 3. Kapitel heißt es:
„Umgekehrt, was schadet
das der Seele, wenn der Leib gefangen, krank und matt ist, hungert,
dürstet und
leidet, wie er´s nicht gerne wollte? Von diesen Dingen reicht
keines bis an die
Seele, um sie zu befreien oder zu fangen, gerecht oder böse zu
machen.'
(Luther, SA 7, 21) In einer Welt, in der Leiber mißhandelt
werden, empfielt es
sich, auszusteigen. In einer kaputten Weit ist der beste Ausweg
Schizophrenie.
Wer keine Hoffnung drauf setzt, die Welt zur Heimat voll
zärtlicher Erotik und
Leibliebe umzubauen, wird am besten beraten sein, seinem
Körper abzusterben in
die Geistlichkeit. Ich denke aber gar nicht daran.
Die unfriedliche Koexistenz von
Leib und Seele beläßt es nicht nur bei dem
Laufenlassen des Leibes. „Ich
züchtige meinen Leib und treibe ihn zum Gehorsam, damit ich
nicht selbst
verwerflich werde, der ich die anderen lehren soll.“(1 Kor
9,27) „Alle, die
Christus angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt seinen
bösen Lüsten (su\n toi=j
paqh/masin kai\ tai=j e)piqumi/aij.)“(Gal
5,24) Leidenschaft und Begehren sind die ureigensten Strebungen des
Selbst, das
Intimste des Menschen, der Motor menschlichen Handelns und menschlicher
Sozialität. Und dazu Luther: „Aber diese Werke
dürfen nicht in der Absicht
geschehen, daß dadurch der Mensch vor Gott rechtschaffen
werden soll. Diese
falsche Absicht kann nämlich der Glaube nicht dulden, der
allein die
Rechtschaffenheit vor Gott ist und sein muß. Sondern nur das
darf die Absicht
sein, daß der Leib gehorsam und von seinen bösen
Lüsten gereinigt werden solle,
und das Augenmerk soll sich nur auf die bösen Lüste
richten, um sie
auszutreiben.“(WA 7,30f) Was genau diese bösen
Lüste sind, darf man nur
erahnen. Es geht wohl hauptsächlich um Sex, weniger um des
Nachbarn Haus oder
Vieh, weil ja der Leib oder das Fleisch Quelle der Irritationen ist.
Das kann
zu einem regelrechten Hobby werden: Je mehr Sex verboten ist, desto
höher steigt
der Erregungsgrad durch Hormonausschüttungen an. Das Erblicken
junger Mädchen
wird zur Folter. Der Kloster kann Abhilfe schaffen. Die Energien, die
von einer
möglichen Arbeit zur Verbesserung der Welt abgezogen werden
zur Bekämpfung
eigener Geilheit, sind immens. Sublimation des Begehrens nach Sex in
Feldarbeit
oder Freiheitskampf längs der
Frustrations->Aggressions-Hydraulik ist
möglicherweise ein Energie-Abfuhr-Modell.
Triebunterdrückung ist immer
pathogen. Wenn die Leidensgemeinschaft mit dem gekreuzigten Gott Jesus
nur
darin besteht, nicht mehr zu wixen oder ficken, dann ist das mehr als
jämmerlich. Zumal Jesus Frauen geliebt hat.
Eine weitere Doppelbindung
erzielt Luther durch die Zweireichelehre. Sie bildet eine
Brücke zwischen der
Sekte und dem politischen Gemeinwesen und verhindert, daß die
Sekte in Konflikt
gerät mit dem Gemeinwesen. Diese Konflikte könnten
eskalieren und der Sekte
schaden, weil diese keine Machtmittel besitzt wie etwa das Schwert oder
den
Wasserwerfer.
A.
Der
Christenmensch sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn
hat.
B.
Der
einzige Herr des Christen ist Gott.
C.
Gott hat
die Obrigkeit eingesetzt.
Jede kirchliche Praxis wird von
diesem Problem affiziert. Das Staatskirchentum hat es weniger schwer,
da hier
Krone und Papsthut unter einer Decke stecken. Aber gerade Luther
benimmt sich
in dieser Hinsicht eine kleine Zeit lang rebellisch. Wenn er auch
später die
aufmuckenden Bauern verdammt hat, die ihn einmal politisch ernst nehmen
wollten:
Nulla crux, nulla corona. Wo uns heute einsichtig ist, daß
Staaten ihre
Individuen und schwächere Staaten der südlichen
Halbkugel unterdrücken, fällt
es schwer, diese Sache als Rute Gottes (WA 19,629) zu akzeptieren.
Wäre doch
Gottes Rute in Treblinka vornehmlich im Aggregatzustand der
Gasförmigkeit,
gemacht aus deutscher Chemieindustrie, den IG Farben, an den Mann
gekommen,
präzis: in Lungen von Mann, Frau und Kind seines
erwählten Volks. „Ich habe
eine andere Vorstellung von der Liebe, und ich werde mich bis in den
Tod hinein
weigern, eine Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert
werden.“(Dr. Rieux
in Albert Camus, Die Pest, Reinbek, rororo Nr. 15, 129) Einem Gott, der
eine
Obrigkeit eingesetzt hat, die Kinder morden läßt,
gehört notwendig der Kampf
angesagt. Ich verdamme einen solchen Gott. Ich will nicht mehr das Kind
eines
Gottes sein, der für das Unrecht in der Welt verantwortlich
ist. Und das ist
Gott, wenn er der allmächtige Schöpfer der Welt ist.
Wenn er Adam nicht
verziehen hat für den Apfelbiß, und ihn so
eifersüchtig auf das Mitwissen der
Menschen bestraft hat. Ich weigere mich, einen Gott zu lieben, der den
faschistischen Kruppchef Alfried von Bohlen und Halbach und seine 25000
russischen Zwangsarbeiter auf gleiche Weise liebt, sodaß sich
nichts im
Verhältnis von Mächtigen und Schwachen, Reichen und
Armen, Satten und
Hungernden verändert.
Gemeinhin sagt der schlaue
Evangelikale an dieser Stelle: „Lieber Bruder, du
verwechselst da etwas. Gott ist
immer gut und allmächtig. Es ist der Mensch, der sich Gottes
gutem Willen
widersetzt hat, der das Unrecht tut, nicht Gott. Alles Leid auf der
Welt kommt
durch Menschen und ihre Sünde. Die Menschen haben Schuld an
Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus, Gott wollte ja
keine
Zinsen und Ausbeutung. Aber das ist eben die Obrigkeit, die Gott
eingesetzt
hat, uns zu schützen, die braucht eine stabile
Wirtschaftsordnung und das hat
uns soviel Wohlstand beschert, das haben wir Gott zu
verdanken.“ Diese Logik
ist zutiefst unsauber und kann nicht erklären, wie
Naturkatastrophen
unschuldige Menschen ausmerzen, wieso der Kapitalismus uns
nützt und Afrika,
Indien und Lateinamerika ausbluten läßt, hinein in
unsere Börsen. Doch, er
kann: „Das sind Ungläubige, Moslems und Kommunisten,
die will Gott gar nicht so
gut schützen wie uns hier in Deutschland. In seiner
Vorhersehung hat er das
bereits gewußt und zieht nun die Konsequenzen. Sie haben es
irgendwie auch
verdient. Seine Gedanken sind nun einmal unerforschlich, wer will sich
anmaßen,
ihn dafür zu schelten. Meinst du, du bist besser als Gott?
Willst du dich zu
seinem Richter aufwerfen? Dir fehlt Demut und Vertrauen darauf,
daß er es am
Ende alles wohl gerichtet hat.“ Ein kurzer Blick auf die
soziale Situation
derer, die so argumentieren, zeigt, daß sie im
„Ländle“ durchgängig optimal
versorgt sind und ausnahmslos bürgerlichen Kreisen entstammen.
Ihre Mitschuld
am Hunger in der Welt durch ihren Konsum sehen sie nicht ein.
„Es sind die
Dürren im sonnigen Süden, die Hilfspakete aus unserer
Überproduktion kompensieren
können. Gott kann nichts dafür. Wir auch nicht. Aber
wir helfen, dann freut
sich Gott.“ Das Argumente-Netz zur Verteidigung Gottes als
des allmächtigen
Bewahrers des eigenen Wohlstandes ist perfekt geknüpft. Wer
diesen Argumenten
nicht folgt, ist uneinsichtig und für den wird gebetet,
daß er auch noch zur
angemessenen Tiefe der Einsicht in die Geheimnisse Gottes gelangen
möge.
Ich bin bereit mitzuleiden mit
dem Gott, der in tiefster Agonie schrie, als alles verloren war. Ich
habe
Tränen für den Gott, der mit allen Gemarterten dieser
Welt mitleidet, dessen
Existenz wesenhaft geradezu das Leiden ist in einer Welt aus Blut und
Tränen.
Die Zweireichelehre machte die
Christen als Salz der Erde dumm. Womit aber will man sie salzen, wenn
sie dumm
geworden sind? Wenn sie sich aus tradierter Paranoia und Schizophrenie
immer
wieder in die innere Emigration ihrer Geistlichkeit
zurückziehen und in Ihrer
Fleischlichkeit unbedenklich sündigen? Altarbuckelei und
politisches
Duckmäusern sind zwei Seiten einer Sache: daß die
Christenheit krank ist. Es
wäre an der Zeit, die gefrorenen Christen aus ihrem
Winterschlaf der
Geistlichkeit aufzutauen und in eine neue Weltlichkeit zu
resozialisieren.
Christliche Schizophrenie ist
keine Erlösung. Sie ist eine Art des Seufzens in uns selbst,
das alle Christen
mit aller Kreatur eint.(Rm 8) Die Erlösung liegt vor uns, aber
nicht über uns.
Heil werden wir nicht durch Flucht in die Krankheit. Sondern durch den
gemeinsamen Kampf gegen das, was kränkt. Als
Mitkämpfer haben wir Gott dabei.
Er straft nicht uns Sünder, sondern er solidarisiert sich mit
der gequälten
Kreatur. Diesen Wandel im Gottesbild gilt es in Zukunft als Evangelium
zu
künden.
Aber unter richtiger Anleitung ist
Schizophrenie
nicht nur heilbar, sondern sogar die erste und gewaltigste
Möglichkeit, nach
einer tiefenregressiven Reise in den Tod, die Abgründe eigener
Verlassenheit,
leidensmystisch erfahrenes Mitsterben mit Jesus, wiedergeboren zu
werden.
Leidensmystik ist nur dann gefährlich, wenn man aus ihr nicht
mehr herauskommt.
Gottesliebe ist nur dann gefährlich, wenn sie
abhängig macht, devot und
unmündig. Mit Gott als Bruder zurückzukommen als
neuer Mensch in die alte Welt,
könnte die Kirche zur Gemeinschaft der Mühseligen,
Beladenen und Verrückten
werden lassen. Dann aber gilt es, den fleischlichen Körper neu
zu beziehen und
die Seele mit ihm ein Leib werden lassen. Nur wer sich selbst mit
seinem Leib
liebt, kann andere mit ihrem Leibe lieben. Kirche kann als
Wärmezentrum in
therapeutischer, sozialarbeiterischer und politischer Organisation und
Aktion
etwas gegen das Krankmachende in der Gesellschaft tun ohne die Angst,
dabei
sogleich wieder unter die Macht des gesellschaftlichen Todes zu
geraten.
Paradox scheinbar: der Weg zu Gott führt über
Menschen; der Weg zu Menschen
führt über Gott. Doch nur scheinbar paradox; ist doch
Gott in Jesus Mensch.
Inzwischen hat sich in der
Psychiatrie
sehr viel verändert, cf ICD 10. Die harten Entwertungen von
Psychosen sind
verschwunden, das Verständnis für die Patienten
gerade auch durch die
Antipsychiatrie gewachsen. Auch in der Theologie gibt es einen
Bewertungswandel. So hat Psychiatriepastor
Ronald Mundhenk in der Ameosklinik Heiligenhafen mit Schizophrenen 20
Jahre
lang gearbeitet und seine Erfahrungen beschrieben. (Sein wie Gott.
Aspekte des
Religiösen im schizophrenen Erleben und Denken,
Neumünster3 (Paranus)
2007,177-210) Der einzige Unterschied vom religiösen Mystiker
und einem
Normalpsychotiker liegt darin, daß ein Mystiker sich
nachträglich mit seiner
Erfahrung in seiner Glaubenstradition eingebettet weiß,
während ein Psychotiker
mit derselben Erfahrung einsam und unverstanden bleibt, von seiner
Umgebung
stigmatisiert und ausgegrenzt wird und schließlich mangels
eines allgemein
akzeptierten Deutungssystems in weltfremde Idiosynkrasien
flüchtet. Die
christliche Tradition ist somit ein Auffangnetz für
Dekompensierte aller Art.
Sie kann Deutungsmodelle kurioser Erfahrungen anbieten und Menschen
integrieren, und genau dies ist inzwischen auch das Ziel der
Psychiatrie
geworden: Psycho-Edukation in kleinen Selbsthilfegruppen, die sich
gegenseitig
beistehen und unterstützen, genau so, wie es die Wohngruppen
Laings und Coopers
damals als Pionierversuche intendierten.
Der Verfasser hat in seiner
Ausbildung als Gestalttherapeut genügend Kontakte zu
psychotischer
Dekompensation gehabt, um diese als ein Weg der Heilung zu begreifen.
Die
Krankheit kann der Weg werden, heraus aus falschen Zwängen.
Die Kirche kann die
Akzeptanz von Verschrobenen, Depressiven, Abgedrehten als Chance
begreifen und
das Fest der Verlorenen mit den Mühseligen und Beladenen
feiern. Das ist alles
nicht glänzend und vorzeigbar, sondern harte Arbeit im
unscheinbaren Bereich.
Seit 1974 haben sich viele Dinge stark verändert. Die Kirche
kann es sich inzwischen
gar nicht mehr leisten, auf Zwang zu setzen und die jungen Leute auf
Sünde zu
dressieren. Die Formen des Verblendungszusammenhangs über
Wesen und Wirkung
Gottes haben sich gelichtet. Die Sühnopfertheologie wird nicht
mehr zelebriert.
Abendmahl ist Erinnerung der Befreiung und solidarische
Tischgemeinschaft der
Unterdrückten auf dem ganzen Erdkreis geworden. Im
großen und ganzen ist der
schizophrenogene Muff der sündigen double bind aus Predigten
und Liturgie
verschwunden. Die Lieder haben sich gewandelt. Sie entwerten die
Sänger nicht
mehr, sondern geben ihren Sehnsüchten nach einer Welt ohne
Krieg und Hunger
eine Stimme und Melodie.
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