Dr. Dr. Michael Lütge

Gestalttherapeut & Pfarrer (20.August 2025)

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Hirnstrukturen von Gottes Geist in uns

Unter Aufnahme der Autoritarismus-Studien Adornos[1] und der Studien von Michel Foucault, Maurice Merleau-Ponty, Frantz Fanon, Hannah Arendt, Sally Haslanger und Victoria McGeer über die Verinnerlichung von Ideologien und angesichts der Verwunderung, daß britische Frauen sich dem IS angeschlossen haben, daß Trump gewählt wurde, daß der inzwischen erwiesenermaßen für England schädliche Brexit eine Mehrheit bekommen konnte, hat Leor Zmigrod von der Universität Cambridge neurobiologische Versuchsreihen unternommen, die zeigen, daß bestimmte Menschen durch neurophysiologische Konstitutionen eine signifikant rigidere Auffassungsgabe haben als flexibler strukturierte Gehirne.[2] Daß diese Personen ihre rigideren Hirnstrukturen apriori und genetisch bedingt haben, ist nicht der Fall. Sie wurden durch ihre Erziehung und soziale Situation so konditioniert, daß sich ihre Hirnfunktionen daran assimiliert haben. Es gibt bidirektionale Verbindungen zwischen dem Gehirn und der Ideologie, in die es eingetaucht ist.[3] Kognitiv rigiden Personen fehlt die Fähigkeit, sich anzupassen und zwischen verschiedenen Denkweisen zu wechseln. Sie verharren in starren Denkmustern.[4] „Individuals who are more ideologically extreme, dogmatic, or prone to violent solutions tend to exhibit cognitive rigidity on neutral neuropsychological tests.“[5] Dogmatisch, extrem und gewaltbereit sind Terroristen aller Richtungen.

In einem psychologischen Test bat die Hirnforscherin mehrere 1000 Probanden, kleine Karten zu sortieren nach einer bestimmten Regel, die sie durch Trial and Error schnell herausfinden – denn sie erhalten eine Belohnung bei der richtigen Anwendung. Also zum Beispiel, daß auf ein bestimmtes Symbol ein anderes Symbol folgt. Irgendwann im Spiel ändert sich die Regel, ohne daß die Teilnehmer davon wissen. Dies ist der spannende Moment. Einige sind kognitiv flexibler und ändern ihr Verhalten schnell, andere wenden immer wieder die alte Regel an, obwohl die anfänglichen Belohnungen für korrektes Sortieren ausbleiben und sie kapieren könnten, daß dies der falsche Weg ist.

Das Bedürfnis des Gehirns ist Klarheit und Zugehörigkeit, sonst gerät es in Stress. Die einfachste Erklärung ist das, wonach das Hirn am ersten greift. Erst mit etwas Sicherheit kann es komplexere Zusammenhänge erfassen. Was Adorno und Frenkel-Brunswik in ihrem Befragungsteam als F-Skala in tausenden Interviews ermittelt hatten, kann heute via MRT als Aktivität bestimmter Hirnströme gemessen werden. Rigides Bewußtsein ist neurophysiologisch gemessen anders als Hirnströme flexiblen Bewußtseins. Das Ticket-Denken wurde von Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung bereits detailliert beschrieben als Element des Antisemitismus. Es ist tatsächlich meßbar. Es gibt biologische und psychologische Marker, die Menschen für Ideologien prädisponieren. Doch sind diese selbst schon Produkt vorgängiger Erziehung. „doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen – im Sinn der Ausfallserscheinung, der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. Und nicht bloß die verbotene Frage, auch die verpönte Nachahmung, das verbotene Weinen, das verbotene waghalsige Spiel, können zu solchen Narben führen.“[6] Das Produkt solcher Schwarzen Pädagogik sind deformierte Menschen. Ihre Dummheit und das rigide Bewußtsein ist Reaktion auf erlittene Gewalt. Der Nachhall dieser im Faschismus propagierten Erziehungsformen hält als cultural lag bis heute an. Auch in der muslimischen Community sind diese Tendenzen unübersehbar.

Zmigrod korreliert die Differenz zwischen Rigidität und Flexibilität mit politischen Einstellungen und findet heraus, daß Brexit-Befürworter signifikant häufig in der Gruppe der rigiden Denker zu finden sind. Niklas Luhmann faßte Religion als Reduktion von Weltkomplexität auf, und genau dieses Phänomen sieht Zmigrod bei den rigiden Hirnen am Werk. Sie teilen die Welt in Gut und Böse, „Wir“ und „die Anderen“. Das ist der Kernrezept des Populismus: Die Welt so vereinfacht darzustellen, daß es die einfachen Gemüter verstehen können. Damit fängt man Stimmen und Zustimmung. Und tatsächlich zielt die Propaganda jeder politischen Coleur auf Tickets, einfache Denkmodelle, die ostinat wiederholt und immerzu als Wahrheit eingebläut werden. Kants „Formen der Anschauung“ werden gesellschaftlich vermittelt und programmiert. Die Hirnstrukturen sind Ergebnis sozialer Beeinflussung. Die Gruppe trimmt die Hirne ihrer Mitglieder. „Es gibt tiefgreifende und komplexe Veränderungen, die im Gehirn und Körper ideologischer Gläubiger stattfinden.“[7]

Eine Studie, in der man die neuronalen Muster von Dschihadisten untersucht hat, hat sich mit „heiligen Werten“ befaßt, also Überzeugungen, für die Menschen bereit sind zu sterben. „Man kann tatsächlich sehen, wie bestimmte Netzwerke im Gehirn aktiviert werden, wenn militante Menschen mit einer fundamentalistischen Ideologie über diese heiligen Werte nachdenken. In einem Experiment haben die Forscher*innen herausgefunden, dass diese Menschen noch mehr zu absoluten heiligen Werten neigten, wenn sie sich sozial ausgegrenzt fühlten.“[8] Besonders gut meßbar sind Dopaminkonzentrationen im Gehirn oder die Aktivität der Amygdala. Sie triggern negative Emotionen wie Angst, Ärger, Ekel und Gefahrenreaktionen. „Ideologien verdrängen alte Denkweisen und ersetzen sie durch neue. Sie verändern unsere Kognition, unsere Reflexe, unsere biologische Natur.“[9]

Man hat Terroristen aller Art nach ihrer Internierung untersucht und gefunden, daß fast alle im Jahr vor ihrem Attentat einen psychischen Zusammenbruch durch Ereignisse ihres sozialen Umfelds hatten. Sie selbst sind traumatisiert und traumatisieren dann Andere. Wenn politische Führer Ängste schüren, Gefahrenlagen suggerieren, springen solche destabilisierten Menschen auf diesen Zug der Ressentiments auf und machen sich zu Helden der heiligen Kriege, zu Supermännern der Gefahrenabwehr. Prinzipiell tut der Soldat an der Front nichts anderes, wenn er mit seinem Scharfschützengewehr täglich  60 Feinde erlegt im nationalen Auftrag. Ebenso der Drohnenlenker, der als Gamer von früher Kindheit an diesen Job erlernt hat und das einstige Spiel nun als reales Spiel des Tötens fortsetzt.

Verschwörungstheorien und der autoritäre Charakter sind durch besonders rigide Ansichten gekennzeichnet. Eine andere Meinung wird nicht akzeptiert. Es herrscht ein harter Dogmatismus, den zu befolgen und zu glauben die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe sichert. Es geht um Sicherheit angesichts der immer weiter wachsenden Diversität der Welt.

Daß solche Menschen mit ihren skurrilen Ansichten von den meisten anderen Menschen gemieden werden, macht sie einsam und das treibt sie in Gruppen, die ihre seltsamen Ansichten teilen. Sie geraten immer mehr in eine soziale Blase extremer Personen, was oft über Social Media befeuert wird.

Dabei wird die Rolle von Tagesschau und ähnlichen staatlichen Medien unterschätzt. Sie sind ebenfalls ausgewählte und zurechtgestutzte Informationen und leben von Katastrophenberichten, nicht von Berichten über gelungene gesellschaftliche Erfolge. Zugleich schönen sie im Sinne der „Staatsräson“ den Völkermord in Gaza und büßen damit Glaubwürdigkeit in erheblichem Maße ein. Die Weltgemeinschaft der UNO urteilt sehr anders über diese gnadenlose Ausrottungsmethode. Weltweit sehen Völkerrechtler in Gaza den Tatbestand des Genozids und der ethnischen Säuberung als gegeben an. Gegen Netanjahu liegt ein Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofes von Den Haag vor. Kanzler Merz will ihn trotzdem zum Staatsbesuch einladen. Gemessen an dieser internationalen Einschätzung im Sinne der Menschlichkeit, Verhältnismäßigkeit und Chancenlosigkeit der Palästinenser sind die deutschen wohlwollenden Gaza-Berichte und Waffenlieferungen an den Aggressor Israel skandalös. Wenn etwa der israelische Angriffskrieg gegen den Iran als Verteidigungskrieg gerechtfertigt wird durch einen mit 29 % der Wählerstimmen an die Macht geratenen Bundeskanzler, so ist diese Logik nicht weit entfernt von Putins Spezialoperation gegen den ukrainischen Nationalismus. Seit 30 Jahren propagiert Netanjahu, der Iran sei kurz vor der Fertigstellung der Atombombe, die Israel vernichten soll. Und plötzlich soll es jetzt soweit sein, daß ein Präventivkrieg letzte Rettung ist? Trumps Tarnkappenbomber werden nicht mehr als Kratzer am Atomprogramm erbombt haben. Die politische Terrorkraft der Mullahs ist mehr denn je gewachsen. Die Weltöffentlichkeit hat eine Woche lang die Gräueltaten der israelischen Armee (IDF) in Gaza vergessen dürfen, wo täglich im Schnitt 26 Kinder „Kollateralschaden“ beim Liquidieren der Hamas werden. Für einen erlegten Hamaskrieger sterben etwa 40 Zivilisten und das hält Roderich Kiesewetter (CDU) für unausweichlich und hinnehmbar, weil die Hamas am 7.10.23 den Anfang gemacht hat mit 1200 Ermordeten, wofür jetzt bereits durch Angriffe des israelischen Militärs rund 62.000 Menschen gestorben und rund 157.000 wurden verletzt. Verluste des IDF: 454 Tote und 2.874 Verletzte.[10] Auf einen israelischen gefallenen Soldaten kommen 130 tote Palästinenser. Israels Pläne zur völligen Annektion der Palästinensergebiete ignoriert Kiesewetter und mit ihm die CDU. Stand der Tabelle:  20.8.25

 Gaza-Tote
Das Problem der Informationsblasen terroristischer Gruppen ist gravierend, darf aber nicht verdecken, wie auch die öffentlich-rechtlichen Medien das Gleiche tun und so zur Ausländerfeindlichkeit in einem weit größeren Maße beigetragen haben als die Verschwörungsideologien im Internet. Der Mechanismus ist der gleiche: eine öffentliche Angstmache triggert gerade die Hirnstrukturen, die dogmatisch und rigide an Regeln und Verhaltensreflexen festhalten, die der tatsächlichen Gefahrenlage und den politischen Erfordernissen nicht gerecht werden. Angesichts ökologischer Katastrophen und einem auf den Kipp-Punkt zusteuernden Klima-Erwärmung propagiert diese Regierung einen Kurs gegen das Randproblem von Zuwanderung und für eine massive Kriegstüchtigkeit gegen Rußland, ohne damit sichtbare Erfolge zu erzielen. Es ist wie mit dem Brexit: Eine kurzsichtige Politik verfängt in der Wählerschaft mit einer Propaganda des „America first“, nationalistischer Identitätsbetonung, die sich im Nachherein als desaströs für die nationale Wirtschaft und das Volkswohl erweist.

 

Das Festhalten an alten Mustern bei Krisen ist psychologisch und hirnphysiologisch der regressive Versuch, unbekannte Herausforderungen mit vertrauten Verhaltenstechniken zu bewältigen. Und diese Rigidität regressiver Problemlösungsversuche forciert die Katastrophe. Genau dies ist das Dilemma des politischen Mittelfeldes. Man kann an Terroristen studieren, was im Bürgertum ganz genau so abläuft, ohne indes in direkte Gewalt auszuarten. Wohl aber üben wir Bürger strukturelle Gewalt aus durch Gesetze und soziale Ordnungen, die wir durch Wahlentscheidungen gegen notwendige zukunftsfähige Reformen konservieren. Am Volk Israel kann man studieren, wie ein krimineller Netanjahu, seit Jahren angeklagt wegen Bestechung, Betrug und Untreue und nur wegen des Krieges noch nicht verurteilt, ein ganzes Volk in einen Krieg hineinzieht gegen die Hamas, die er seit 1987 unterstützt hat, um die PLO zu destabilisieren.[11] Die Siedler im Westjordanland attackieren die palästinensische Ureinwohnerschaft im Glauben, daß Jahwe ihnen dieses Land gegeben hat und sie die rechtmäßigen Eigentümer des gesamten Landes Israel seien. Ihre religiös motivierte Rigidität wirkt wie die heiligen Gesetze des Djihadisten, der sich dafür einen Bombengürtel umschnallt. Die Strukturen beider Hirne sind von religiöser Erziehung programmiert und kriegstauglich gemacht. „Gott mit uns“ stand auf Koppelschlössern deutscher Soldaten in den Weltkriegen.

Noch eine weitere Studie Zmigrods hat ein interessantes Ergebnis: Die Vorsicht und Mühe um Genauigkeit der Wahrnehmung ist bei politisch Konservativen höher ausgeprägt, dafür sind sie aber langsamer im Erkennen.[12]

Rigide Hirnstruktur und religiöse Ideologiebildung

All diese Feststellungen lassen sich auf die Theologie übertragen.[13] Religionen mit ihren Mythen sind kaum etwas anderes als Verschwörungstheorien, denen ja oft die Realität von Geheimdiensten weltweit mehr als genug Material liefert für die realistische Vermutung von fehlender Offenheit und Transparenz der Regierungen. So ulkig die Theorie der Chemtrails ist, das Waffenarsenal der USA verfügt über Bunker und Felsen sprengende Bomber und viele biologische und chemische Waffen, die den russischen weit überlegen sind.

Der Glaube vieler Christen hat sie Martern mit Todesmut aushalten lassen. Aber es gab mehr Christen, die des Marterns begierig waren, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennungen, Ketzerverbrennungen, Foltern, die nicht der Wahrheit dienten, sondern der Erpressung von Hinrichtungsgründen. Auch hier gab es immer wieder Rigidität und heilige Gesetze, die das Morden im Namen Gottes legitimieren sollten. Auch die Ausblutung Lateinamerikas unter Assistenz europäischer Missionare gehört zu den Quellen des Goldes in europäischen Kirchen. Nun ist groß Fried ohn Unterlaß, all Fehd hat nun ein Ende, so singt die Sonntagsgemeinde und die CDU nennt die neue Aufrüstungsspirale Friedensarbeit.

 

Das Urbild des religiösen Mordes ist das Kreuz Jesu, der entweder von Gott dahingegeben wird als Sündenbock für deine und meine kleinen Fehler, oder der eigeninitiativ wie der Selbstmordattentäter sich so benimmt, daß das jüdische Synhedrium und die römische Besatzungsmacht nicht umhin können, Jesus in einem Schauprozeß als Gotteslästerer zum Tode zu verurteilen. In fast allen Ländern der Erde gibt es für politische Oppositionelle ähnliche Schauprozesse mit Hinrichtungen, immer noch und grasssierend. Der Tod Jesu ist noch nicht einmal der grauenvollste gewesen, die Phantasien und Techniken der Todesfolter sind unerschöpflich, der Sadismus grenzenlos.

Heute ist der Nachhall dieser brutalen Vergangenheit der Kirche nur noch in der Ideologie zu spüren, in der Theologie, die Gott nicht als Quelle der Freiheit und Lebensfreude ansteckend und missionarisch als gute Botschaft verkündigt, sondern immer noch einen Gehorsam und eine Demut gegenüber dem angeblich Allmächtigen einfordert und damit Gottes in Jesu Handeln offenbarte Liebe und Barmherzigkeit mit Füßen tritt und so eine Gotteslästerung zweiten Grades ist. Es sind konservative von Gesetzlichkeit geprägte Typen, die sich unter den Dächern der Kirche einfinden und hier eine Chance wittern, ihren Zwangscharakter ideologisch verbrämt als Frömmigkeit zur Schau zu tragen. Sie verstehen es gut, in die Chefetagen der Kirche aufzusteigen und dort für Law and Order zu sorgen.

Alles Lebendige und Lebensfrohe, alles Verspielte und auf Wohlgefühl Bedachte wird von solchen Kräften bekämpft und als unangemessen diskriminiert. Der Effekt ist aber, daß die innovativen Menschen, die die Kirche zu einem Ort der Liebe, der gegenseitigen Fürsorge und Weltverantwortung machen wollen, vertrieben werden. Die flächendeckende Rigidität in der Kirche sorgt dafür, daß die Zahl der Kirchensteuerzahler stetig abnimmt. Was Zmigrod in ihren Karten-Versuchen bei Rigiden feststellte: die Unfähigkeit, neue Situationen mit neuen Problemlösungsformen anzugehen und einen Strategiewechsel einzuleiten, das vollzieht sich auch in den Kirchen.[14] Es bleibt fast alles beim alten, jedoch bekommt ein Pfarrer inzwischen bereits die doppelte Anzahl von zu betreuenden Gemeindegliedern aufgebürdet, sodaß vor lauter Amtshandlungen wie Beerdigungen und Taufen kaum noch Zeit bleibt für innovative Gruppenarbeit in den Gemeindehäusern.

Es gibt Überlegungen in den Kirchenleitungen, aus der Klemme schwindender Mitgliederzahlen und zugleich schwindender Pfarrerzahlen herauszukommen. Es gibt Handreichungen zur Schließung von Kirchen, einen Rückzug aus den energetisch schlecht isolierten Gebäuden mit den wenigen gebliebenen Gläubigen in wärmere Räume. Bald wird die Idee von Ernst Lange, Läden anzumieten als Gottesdienststätten, zur ökologisch besten Alternative. Die Rigidität in der Kirche hat viele Kirchensteuerzahler vertrieben, die dogmatische Rigidität kirchlicher Lehre, insbesondere die kaum glaubhaften Gehalte des Credo und die mittelalterlich gebliebenen Gottesvorstellungen haben viele Menschen verstört, die Mißbrauchsskandale tun den Rest. Wenn alles so bleibt, ist die säkulare Gesundschrumpfung der Kirche unaufhaltsam. Und daß alles so bleibt mit den Gottesvorstellungen, ist kirchenrechtlich festgeschrieben, institutionalisierte Rigidität.

Zmigrod hat 2018 in einer Studie mit 744 Probanden drei Intelligenztest gemacht, die zugleich die Rigidität des Denkens ermitteln: den oben beschriebenen Wisconsin Card Sorting Test, den Remote Associates Test, und den Alternative Uses Test. Kirchenferne je ohne und mit religiöser Erziehung und Kirchennahe mit seltenem und solche mit regelmäßigem Gottesdienstbesuch wurden getestet. Nichtreligiöse schnitten fast doppelt so gut ab wie Kirchgänger in allen drei Tests.[15] Die der Kirche ade sagten, stellten sich als die klügsten von allen heraus.

„The finding that there are significant differences in cognitive control styles between those who chose to ‘adopt’ religion and those who chose to ‘leave’ religion in the WCST, RAT, and AUT may signify that ‘adopting’ a religious ideology is a process that makes use of heightened cognitive persistence while scepticism towards religion is tied to a tendency towards cognitive flexibility.“[16] 

Das Dilemma der Kirchen ist, daß der verbliebene Teil der Gläubigen tatsächlich die Aussagen des Credo und all die anderen Mythen liebt und überhaupt nicht erträgt, eine weltoffene und wissenschaftlich haltbare Sicht des Glaubens hören zu müssen. Die wachen Geister sind vergrault, es bleiben genau die Rigiden übrig und bei der Stange, die aus Angst vor den Veränderungen der Welt auf ihre vertrauten alten Rituale setzen und damit stabilisiert werden. Gleichzeitig sind Religion und politischer Konservatismus weltweit oft eng miteinander verknüpft, sowohl psychologisch[17] als auch in Bezug auf die politische Agenda[18], insbesondere bei denen, die sich politisch stark engagieren.[19]

Ähnlich wie politischer Konservatismus ist Religiosität (Häufigkeit von Gebeten, Teilnahme an Gottesdiensten und hohe Bedeutung religiöser Werte) durch eine hohe Wahrnehmungsvorsicht und eine schlechtere Leistung bei strategischen Informationsverarbeitungsaufgaben gekennzeichnet.[20] Wie die politisch konservativen Ideologien und dogmatischen Denkweisen[21] war auch die Religiosität mit einer geringen sozialen Risikobereitschaft in Kontexten verbunden, die Nonkonformität und Ungehorsam erfordern.[22] Und das in der Nachfolge des Gesetzesbrechers Jesus! Was ist da Henne, was Ei? Weder noch. Es ist das Nest: sozialer Kontext und Ökologie.[23] Es ist ein circulus vitiosus selbstverstärkender Schleifen, um nicht zu sagen: ein Teufelskreis. Besonders ängstliche Menschen suchen die angstmindernde, lindernde Wirkung der Kirchen.[24] „Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Joh 16,33 Indem die Welt als Bedrohung bezeichnet und erlebt wird, wird die erhöhte Risikosensibilität der BeterInnen sowohl aufgefangen als auch verstärkt.[25] Kirche ist ein Sammelbecken der Ängstlichen und sowohl Linderung als auch Multiplikator der Ängste. Man ist sich einig, möglichst nichts zu riskieren, sich nicht zu weit aus dem Kirchenfenster zu lehnen. Gläubige sind sehr verträglich und gewissenhaft.[26] Jede Veränderung ist angstbesetzt und birgt unübersehbare Risiken. Jesus war einfach zu mutig.

Gemeindeleben als Provokation

In meiner aktuellen Kirchengemeinde stehen die frisch gedämmten Gemeinderäume bis auf Deutschkurse für Asylanten fast immer leer. Eine Gruppe älterer Damen macht noch sakrale Tanzabende. Sonst passiert fast nichts. Ein Pfarrer nahm einmal nicht mehr benötigte Blumen vom Altar, um eine neue Sekretärin im Gemeindebüro zu begrüßen. Er wurde von einer Person gemaßregelt, Gott seine Blumen gestohlen zu haben. Diese in der Gemeinde dominierende und raumgreifende Person glaubt an ein paralleles Nebenuniversum, in dem Gott existiert und von dort aus die Welt steuert und man kann sich durch sakralen Tanz und andächtiges spirituelles Schweigen mit dieser Nebenwelt verbinden und daraus Kraft tanken. Man sucht sich als Mitarbeiter nur solche aus, die zu dieser Auffassung kompatibel sind. Jugendarbeit gibt es rudimentär: Es gibt eine Jugenddiakonin mit Büro, aber keinerlei Gruppen. Die Gottesdienste bleiben steif und langweilig. Das alles versteht sich als „spirituell“. Aus drei früher eigenständigen Gemeinden kommen insgesamt ca.  7 Jugendliche zum Konfirmandenunterricht und ca. 40 Personen zum Gottesdienst. Beliebt sind Choräle wie „Großer Gott, wir loben dich, Herr, wir preisen deine Stärke“.

Daneben aber gibt es einen Diakon, der neben Fahrradwerkstatt, Essen für Arme und einer sehr engagierte Ausländerarbeit eine Kirche umgerüstet hat als Sozialkaufhaus, in dem für extrem wenig Geld gebrauchte Möbel, Kleidung, Spielwaren und Elektronik verkauft werden. Diese Kirche ist sehr gut besucht und ein großes Vorbild für viele Gemeinden der Umgebung, besonders reiche Gemeinden, die in Containern kaum getragene Kleidung sammeln und vom Team der Sozialdiakonie abholen lassen. Zwischen all den Kleiderständern wird vor dem Altar das Agapemahl gefeiert. Das ist tätiges Gotteslob. Ihm wurde vom Kirchenvorstand gerade verboten, Haushaltsauflösungen zu machen, weil gelegentlich Schränke in wenig benutzten Räumen zwischengelagert wurden. Seine blühende Arbeit ist der „spirituellen“ Fraktion der Gemeinde ein Dorn im Auge, weil bei der Spiritualität kaum etwas passiert und die durch Versterben der Mitglieder sich ausdünnende sakrale Seniorinnen-Tanz-Veranstaltung in einem unterprivilegierten Stadtteil völlig an den Bedürfnissen der dortigen Menschen vorbeigeht.

Blicke ich zurück auf die Gemeinde, in der ich als Pfarrer arbeiten durfte, war dort täglich Betrieb in einem Stadtteil mit der höchsten Jugendkriminalität des ganzen Kreises. Wir hatten 50 Konfirmanden, viele Jugendgruppen und Mitarbeiterteams, Disko, Teestube an 4 Wochentagen, monatliche Rockkonzerte, Jazzkonzerte, Chorkonzerte und politisches Theater, Gemeindefeste mit Schwerpunkten Afrika, Chile, Greenpeace, Rumänien, gemeinsame Theatergottesdienste, Frühstücksgottesdienste, machten im Gottesdienst Yogaübungen mit der Gemeinde. Die Jugendlichen waren als Akteure eingebunden, schrieben eigene Texte, teilten Abendmahl aus, diskutierten in den Predigtgesprächen im Gottesdienst mit, übten neue Lieder und sangen sie mit der Kirchenband, verkauften im fahrbaren selbstgebauten 3.Welt-Laden nach den Gottesdiensten am Ausgang, bettelten in den Einkaufszentren der Stadt um Unterstützung für unser Barfußärzteprojekt in Sierra Leone und brachten eine sensationelle Summe zusammen. Die Presbyterinnen planten eifrig mit, die Männer wollten nur Macht demonstrieren und waren nicht hilfreich, Musterbeispiele der rigiden Konservativen. Es gab Cocktailpartys, die Einnahmen gingen ans Barfußärzteprojekt, viele spendeten Bettwäsche, wir bekamen 2 Motorroller und einen Stromgenerator, alles ging zum Minikrankenhaus nach Sierra Leone.  Es gab den Seniorenclub getrennt für strickende Frauen und rauchende Männer, Frauenhilfe, Krabbelgruppen. Es gab eine Kleine Offene Tür mit Sozialarbeiterinnen im Keller, wo auch türkische Jugendliche willkommen waren. Mit der Presse waren wir täglich in Kontakt und stellten unsere Projekte vor. Mit 3 Bussen fuhren wir nach Bonn und in den Hunsrück zur Demo gegen Mittelstreckenraketen. Unsere Gemeinde erklärte das Kirchengelände zur Atomwaffenfreien Zone. Unsere Friedensgruppe und 3.Welt-Gruppe sorgten für Verpflegung der 3000 Ostermarschierer, die vor unserer Kirche bei einer Kundgebung Rast machten. Es gab ökologische selbstverwaltete Jugendfreizeiten, wo die Teilnehmer lernten, ohne Fleisch schmackhaft zu kochen und reihum die Gruppe bekochten. Es gab vor Geschäften Stände „Kauft keine Früchte aus Südafrika“, die sogar von der örtlichen Polizei gegen Übergriffe der Filialleitung geschützt wurden, desgleichen vor der Kreissynode, wo die Synode eine Resolution gegen die Apartheits-Regierung Botha in Südafrika verabschiedete. Wir waren an vielen Stellen engagiert und haben in der konservativen Stadtverwaltung einflußreiche Feinde gehabt, die uns den Geldhahn für die Jugendarbeit zudrehten. Auf der Heeresschau der Bundeswehr waren wir als große Gruppe der Friedenskirche mit Worten des pazifistischen Jesus auf dem Rücken. Ähnlich vor dem Atomkraftwerk Hamm-Uentrop. Der Pfarrer war einer unter vielen. Das allgemeine Priestertum hatte eine Gestalt angenommen. Auch damals gab es einen erbitterten Kampf von rigiden Presbytern und Pfarrerkollegen gegen diese Arbeit. Es ging um das Aufrechterhalten der alten Form von Gottesdienst: die Einmannshow des Pfarrers nach lutherischer Liturgie. Da wir auch Muslime und Katholiken zum Abendmahl einluden, gab es vom katholischen Kollegen ein Verbot für Katholiken, an unseren Gottesdiensten teilzunehmen. Der antiökumenische Gestus der katholischen Kirche hält bis heute an und genau diese Gesetzlichkeit und Rigidität in der Abendmahlsfrage ist unvereinbar mit der Offenheit Jesu. Wir hatten breite Resonanz bei SPD und Gewerkschaften, wir brachten Streit in die Stadt und zeitgleich entstanden die Grünen. Es gibt inzwischen immer mehr Gemeinden, die ähnlich leben und unsere christliche Weltverantwortung umsetzen.

Unglaubwürdige Dogmen revidieren

In wissenschaftlich orientierten Zeiten nach der Aufklärung, wo der Urknall allgemein anerkannt ist wie die Entstehung des Lebens aus makromolekularen Strukturen zu Einzellern, Zellteilung und Diversifikation des Lebens in Millionen Arten, die optimal je ihrer Umwelt angepaßt sind – in diesen Zeiten zu behaupten, Gott habe in 6 Tagen die Welt erschaffen und sei ihr Herr, der das Weltgeschehen lenkt, habe Jesus geschickt, um zu zeigen, wie lieb er sein möchte, aber dann doch als Weltenlenker Erdbeben, Tornados und immer effektivere Kriege mit ungekannten Zahlen von Ermordeten ins Werk setzt – das ist nur plausibel für Menschen, die autoritär erzogen die Existenz einer Respektsperson für unabdingbar halten und sei sie auch noch so ungreifbar und fiktiv.

Im naturwissenschaftlichen Zeitalter der fortschreitenden Erkundung der Welt in Makro- wie Mikrokosmoi sind für die meisten Menschen ihre Handys verläßlicher als ein Schöpfergott, der als mythische Vorstellung so bekannt ist wie Andersens Märchen. Der traditionelle christliche Glaube ist Realität als kirchlich gepflegtes Gedankengut. Es ist eine beliebte und immer noch bekannte Vorstellung, über die man nichts Genaues weiß, sie ist denkbar, aber höchst unwahrscheinlich und im Widerspruch zu fast allen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Selbst Pius XII. vertrat den Urknall. Das Auto hat deutlich höhere Realität und auch der Pfarrer fährt damit zur Beerdigung. Das ist vielleicht die wichtigste heutige Aufgabe der Kirche: den Tod zu begleiten und Sterben zu erleichtern.

Sieht man Jesus arbeiten, so hakt er immer in Krisen ein, heilt Kranke, kümmert sich um die Mühseligen und Beladenen. So haben es Jahrtausende lang auch die Christen gemacht in Mimesis und Nachfolge Jesu. Das hat im Sozialstaat andere Formen bekommen und das ist vielleicht sogar ein kirchlicher Erfolg, dieser Sozialstaat, der in vielen Bereichen auf den Spuren Jesu handelt, bei aller demütigenden Bürokratie. Das Buch des Lebens besteht nicht aus Formularen. Die Orthopraxie ist die einzige Form der Verkündigung Jesu, die glaubwürdig ist.

Heutige Orthodoxie hätte als rechte Lehre die Aufgabe, Gottes Sein so zu denken, daß es korreliert mit dem fortgeschrittensten Stand wissenschaftlicher Erkenntnis. Hier bleibt die Theologie und kirchliche Verkündigung der Welt all deren, die ihr den Rücken zugekehrt haben, die gebührende Achtung und Aufrichtigkeit schuldig. Sie ist nicht mehr missionarisch, sondern hat es sich im eigenen Saft schmorend gemütlich gemacht in wohliger Verschlafenheit.

Gotteslehre in säkularer Welt

Die Säkularisierung schreitet voran, wie Jörns 1997 dokumentiert.[27] Säkularisierung als Zerfall der reformatorischen Standard-Mythologeme ist meßbar.[28] Sein Umfrage-Team hat in Berliner Stadtteilen (West+Ost), einem evangelischen und einem katholischen Dorf im Hunsrück, diversen Schule und Brandenburgischen Pfarrer in Ost- und Westgebieten 1992 recherchiert und aufgrund der Ergebnisse die Befragten in 4 Gruppen eingeteilt:

Neben Gottgläubigen alter Schule (1)[29] ist der Anteil von Transzendenzgläubigen (2)[30] unter der Pfarrerschaft auf nahezu 15 % gestiegen. Unentschiedene (3)[31] und Atheisten (4)[32] sind ebenfalls mehr geworden. Für das „Laienvolk“ wird die Rate Nichtgottgläubiger erheblich höher liegen.  Die Beschwörung der wiederkehrenden Sinnsuche, der gestiegenen »Nachfrage nach Religion« hat zu »blühenden Sinn-Geschäften« geführt, »ohne viel Gefühl dafür, daß es die Sucht nach Sinn ist, die nun jedem Unsinn die Chance gibt, sich als die Straße zum Heil zu verkaufen.«[33] Der Boom von „Jugendsekten“ und kirchlichen „Sektenbeauftragten“, die gegen diese Konkurrenz zu Felde ziehen sollten und ihnen genau das vorwarfen, was zu den basalen Features der Kirchen selbst gehört, ist inzwischen ausgelaufen. Die Theologie hat vereinzelt östliche Religionen im Visier, nachdem sie Jahrhunderte lang dort ihre Missionsbemühungen als den einzig wahren Heilsweg dargestellt hatte. Aus diesen Missionsbegegnungen erwuchs ein Hören auf das, woran die glauben, die man überzeugen will.[34]

Wenn man diese Umfrageergebnisse von 1992 jetzt nach 33 Jahren korreliert mit den neuen Zahlen von Kirchenmitgliedschaft, Austritten und den Ergebnissen der 6. KMU, so sieht man, daß sich die Entwicklung deutlich beschleunigt hat. Zugleich kann man aber auch spüren, daß die Predigten der PfarrerInnen der letzten Jahrzehnte das Gottesbild vieler Gemeindeglieder von einem Law-and-Order-Gott zu einem liebevollen Gott hin verändert haben. Daß sich die Kirche im 19. Jahrhundert neutral zur Knechtung der Arbeiter und ihrem gewerkschaftlichen Kampf gehalten haben, hat die Arbeiter aus der Kirche getrieben.

Klaus-Peter Jörns: „Die Kirchen haben viele Strukturreformen durchgeführt. Aber was den Inhalt des Glaubens angeht, verweigern sie Reformen, weil das Dogma von der Bibel als Gottes Wort sie daran hindert. So kommt es auch, dass in Gottesdienst und Theologie immer noch Bildprogramme aus dem Großkönigsmilieu verwendet werden (Gott als »Herr« und »König« mit »himmlischen Heerscharen« und so weiter). Doch angesichts des Bildungswissens über den Menschen ist es absurd, die Wahrheit über das Leben einzig in der Bibel finden zu wollen. Immer mehr Kirchenmitglieder treten aus, weil das nicht ihre Welt ist. Oder sie verändern frei die Gestalt ihres Glaubens. Dazu können sie die Hilfe der Gesellschaft für eine Glaubensreform (GfGR) nutzen, in der Nichttheologen, Theologinnen und Theologen ohne Denkverbote nach einem heute glaubwürdigen Christentum suchen.“[35] Aber die Gläubigkeitslage in der BRD ist erstaunlich hoch bei Mitgliedern der Kirchen und anderen Gemeinschaften. Ein kurzer Blick auf die Zugehörigkeitsstruktur hierzulande:

Die Kirchenfernen machen immerhin 47% der Bundesbürger aus. Sieht man sich die religiös organisierten Bürger an, ist die Gottgläubigkeit aber noch erstaunlich hoch mit 58 % im Schnitt. Bei Katholiken sogar 78%, in der EKD 70%, bei freikirchlichen und muslimischen Gemeinschaften 69%. Umgekehrt glauben von den nicht einer religiösen Gemeinschaft angehörigen Bürgern nur 14% an Gott, während 83% Atheisten sind. Im evangelischen Norden sind 2019 noch 29–41% gottgläubig, in der früheren DDR mit 19-24% viel weniger, dafür im Süden mit 47% fast die Hälfte.

2019 zeigt eine Umfrage von KANTAR/EMNID: 55% der Deutschen glauben an Gott. 2005 waren es noch 66%. Immer mehr Menschen sind dafür wundergläubig. 2021 ergibt eine IfD-Allensbach-Umfrage: 46% Gottgläubige. 2022 glauben 19% der Deutschen noch an einen in Jesus Christus offenbarten persönlichen Gott, das apostolische Credo wird von 81% nicht mehr geglaubt.

Daß der Glaube an einen persönlichen Gott sich von 25 auf 19 % verringert ist ebenso plausibel wie der Anstieg der Befragten, die nicht an einen Gott glauben, von 26 auf 33 %.

Die Kirchenmitgliedsumfrage der EKD von 2022[36] ergibt ein aufschlußreiches Bild bei Frage 50:

Vergleicht man die Entwicklung gegenüber 2002, zeigt sich ein deutlicher Rückgang des trinitarischen Glaubens um 6% in der Gesamtbevölkerung innerhalb von 20 Jahren.

Entsprechend den Kirchenaustritten hat sich der Anteil der Gottesgläubigen bei den Katholiken um 4% verringert, bei den Evangelischen jedoch um 6% erhöht. Immerhin 8% der Evangelischen fühlen sich mit ihrer Kirche eng verbunden. Bei den Evangelischen sind die Nicht-Gläubigen tatsächlich ausgetreten, so daß unter den Restlichen der Anteil der Gottgläubigen gestiegen ist. Bei den Katholiken sind die Nicht-Gläubigen zum Teil in der Kirche verblieben. Das liegt an Erschwernissen beim Kirchenaustritt. Die Anzahl der Austrittswilligen steigt bei den Katholiken stärker als bei den Evangelischen, was sich für die Jahre 2021 und 2022 bestätigt. Vom heiligen Rest evangelischer Christen glauben also 29% an einen in Jesus offenbaren Gott, 21% wissen es nicht und 18% glauben das nicht, obwohl sie noch Kirchenmitglied geblieben sind. Sie werden von den 83% der Ausgetretenen flankiert, die auch nicht an Gott in Jesus glauben. Das Credo treibt die Menschen aus den Kirchen, die Tendenz ist unverkennbar.

Sieht man, wie die jungen Theologiestudenten und VikarInnen gestrickt sind, so gehören sie deutlich zu den 29% Gottgläubigen unter den Kirchenmitgliedern. Ihr Forum und ihre Perspektive sind entsprechend genau diese Kirchentreuen, die sie betreuen wollen. Der Blick auf die Hälfte der ehemaligen Kirchenmitglieder, die die Kirchen verlassen haben, ist für sie obsolet. Diese gehören nicht mehr in ihr Arbeitsfeld. Damit ist das Schmoren im eigenen Saft programmiert und der volksmissionarische Gedanke, die Botschaft Jesu für alle Welt verständlich und plausibel weiterzusagen, eskamotiert. Das kleine Problem bei dieser Entwicklung ist nur, daß der Mitgliederschwund bei dieser Haltung munter weitergeht und so die Finanzen schrumpfen, die sie ernähren. Es ist buchstäblich ein Sägen am eigenen Ast. Die Kirche wird nicht attraktiver mit Segnungen und mythischem Klamauk, wie es heute viele versuchen und damit gar manche in Krisen erreichen. Die Chance liegt in einer Neuformulierung des christlichen Glaubens.

Auch die Universitätstheologie als Kaderschmiede der Kirche müßte das Bild eines Gottes entwerfen, dessen Sein und Wirkungsweise evident ist und gerade auch von Ungläubigen als glaubhaft akzeptiert werden könnte – ob sie dann überhaupt noch darauf achten, bleibt eine schwache Hoffnung. Mit den meisten hat es sich die Kirche gründlichst verscherzt.

Die alle 10 Jahre aktualisierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen geben ein sehr gutes Bild dieser Entwicklungen.[37] Fazit: es geht rapide bergab.

[38]

2014 zeigte sich: „Innerhalb der Kirchenmitglieder in den jüngeren Generationen ist eine steigende Distanzierung zur Kirche zu beobachten, die mit zunehmender religiöser Indifferenz einhergeht. Dies spiegelt sich auch in der Haltung der jüngeren Mitglieder zum Kirchenaustritt: So findet sich bei den jugendlichen Westdeutschen die höchste Bereitschaft, vielleicht aus der Kirche auszutreten. 19 % der 14- bis 21-Jährigen sind sich dessen sogar relativ sicher, dass sie diesen Schritt in naher Zukunft vollziehen werden.“[39] „So ist es nicht allein die Distanz zur Institution Kirche, welche sich in der Jugend auszubreiten scheint, vielmehr handelt es sich um einen sozialen Bedeutungsverlust von christlicher Religiosität überhaupt. Gerade die austrittswilligen jungen Menschen bezeichnen sich zumeist als wenig religiös oder nennen dies als Austrittsgrund. Konfessionslose zeigen fast gar keine Bezüge zur Religion mehr oder äußern sich entsprechend. Da alternative Formen der Religiosität strukturell eher temporäre Übergangsformen ohne Sozialisationsprägnanz sind, verschwindet Religiosität zwar nicht, sie wird aber zu einer für den Lebensalltag nachrangigen Sache.“[40] Es läuft auf eine Seniorenkirche hinaus. 25 % sind liberal-flexibel, 50% indifferent und 25% rechtskonservativ in der Kirchenlandschaft, ganz analog zur Gesamtbevölkerung.[41] 2024 faßt die EKD-Studie zusammen: „Kirchlich-religiös sind nur noch 13 % der Menschen, darunter hauptsächlich ältere, gut situierte mit höherer Bildung und intaktem sozialen Umfeld. 25 % lassen sich als religiös-distanziert beschreiben. Sie sind oft noch Kirchenmitglieder und glauben an Gott – ihr Glaube ist aber eher skeptisch und kaum christlich geprägt. Außerdem kommen sie nur selten in Kontakt mit der Kirche. Die Mehrheit bilden mit 56 % säkular ausgerichtete Menschen. Sie können mit Religiosität wenig anfangen. 36 % von ihnen sind sogar Religionsgegner. 6 % der Menschen sind alternativreligiös, interessieren sich zum Beispiel für Esoterik.“[42] Diese Krise des religiösen Glaubens, der religiösen Praxis, des religiösen Erfahrens und der religiösen Kommunikation ist dramatisch. Nicht nur in Europa, sondern weltweit ist mit zunehmendem Wohlstand die Säkularisierung auf dem Vormarsch, auch im Islam, besonders in Türkei und Iran, wo die Diktatoren das Volk auf Religion als Staatstreue einschwören, tritt der gegenteilige Effekt zutage.[43] „Die Bedingungen, unter denen sich religiöse Sinnsysteme zu bewähren haben, haben sich so grundsätzlich verändert, dass der Glaube an ein Jenseits, an Gott, an die Wirksamkeit religiöser Rituale und die Heilskraft religiöser Institution für viele nicht mehr plausibel ist.“[44] Und wieder regen sich deutsche Theologen auf über die Ergebnisse der KMU der EKD, die so gar nicht den in ihren Kerngemeinden vorgefundenen Frömmigkeitsstrukturen entsprechen will und ignorieren damit, daß christliche Lebenswelt als „Lived Religion“ immer mehr zu einer schrumpfenden Blase im ideologischen Reigen der Moderne geworden ist. „In einigen Teilen der deutschen Theologie ist basierend auf diesem unbestimmten Religionsbegriff eine Verweigerungshaltung entstanden, die empirischen Befunde anzuerkennen, die unübersehbar einen weltweiten Bedeutungsrückgang von Religion und religiösen Bindungen aufzeigen.“[45] Wer an leibhafte Auferstehung glaubt, ist so jenseitig aller Vernunft, daß er natürlich wie die Evangelikalen der USA die Evolution, und alle Plausibilität der Wissenschaften mit Luther der Hure Vernunft als Verblendungszusammenhang anlastet.

Eine ähnliche Tendenz sind die von Billy Graham inszenierten Massenaufmärsche der Evangelikalen in den USA, in Brasilien, Korea und vielen anderen Ländern wie Nigeria, wo Monsterkirchen mit Fassungsvermögen von bis zu 2000 Gläubigen gebaut wurden. Die ungeheuren Summen Geld, die dort akkumuliert wurden und die zunehmende Einmischung in die Politik mit extrem rechten Optionen, etwas bei Trump oder Bolzonaro in Brasilien, zeigt, wie die Berufung auf die Bibel mit faschistischen oder diktatorischen Regimes deckungsgleich sein kann, übrigens auch in muslimischen Diktaturen. Für diese Bewegungen gilt beispielhaft die Feststellung rigider Hirnstrukturen in kontrafaktischer ideologischer Kriegführung gegen das Wissen der Neuzeit. Deutsche Evangelikale propagieren seit 1966 auf breiter Fläche die Diffamierung historisch-kritischer Bibelforschung und sprechen allen, die ihren Verstand benutzen, das Christsein ab. Dialogbereitschaft wäre dort schon Sünde wider den Heiligen Geist. Innerhalb der Kirche bilden diese Gruppen eine Minorität, die um so aggressiver für ihre Dogmen streitet. Ich habe durch meinen evangelikalen Vater solche Kreise in der Jugend intensiv erlebt. Tilman Mosers Gottesvergiftung beschreibt diese pietistischen Kreise detailliert und ist eine Langzeitstudie der evangelikalen Repression aus der Innenperspektive, die illustriert, wie das Milieu evangelikalen „Denkens“ das Gehirn der in ihm Aufwachsenden manipuliert und strukturiert.[46]

Lag in den USA die Quote Konfessionsloser vor 2000 noch unter 10%, so ist sie inzwischen auf über 30% angewachsen. Sie kritisieren vor allem die rechtskonservative Liäson der Evangelikalen mit Republikanern wie Trump. "Die Bedingungen, unter denen sich religiöse Sinnsysteme zu bewähren haben, haben sich so grundsätzlich verändert, dass der Glaube an ein Jenseits, an Gott, an die Wirksamkeit religiöser Rituale und die Heilskraft religiöser Institutionen für viele nicht mehr plausibel ist."[47] In Westeuropa hat sich die Mehrheit der Gläubigen vom Glauben an einen persönlichen Gott abgewandt und glaubt heute nur noch an eine höhere Macht, deren Wirken nicht direkt erfahrbar sei. Die außerkirchlichen Entfaltungsmöglichkeiten erübrigen immer mehr Kirche als sozialen Bezugspunkt. Das autoritäre Gebaren der Kirchen zeitigt eine weit verbreitete Kirchenskepsis. In Italien und Polen führt die starke traditionelle Frömmigkeit zu aggressiver Ablehnung muslimischer Überfremdung durch Asylanten und konsolidiert die Tradition. Je aggressiver Kirchen um ihre Machtstellung kämpfen, desto mehr verlieren sie diese. Jesus setzte auf Kraft der Schwachen.

Ein Effekt der Säkularisierung ist auch, daß der Markt für adäquate Gottesbilder schwindet und der heilige unbeirrbare Kerngemeinderest auf mittelalterliche Dogmen pocht. Genau für diesen heiligen Rest der Kerngemeinden sind die folgenden Überlegungen eine Chance, in mehr Dialog zu kommen mit denen, die sie für Spinner halten.

Konsequenzen für die Theologie als Wissenschaft

Kognitive Flexibilität ist unabdingbar in einer Theologie der Zukunft, die dafür sorgen muß, daß Kirche noch eine Zukunft hat jenseits der erratischen Bauklötze der starren Bekenntnisse und kontrafaktischen Glaubensbehauptungen. Leider reicht es vielen Pastoren auch, eine Verschwörungstheorie neben vielen anderen zu pflegen und dafür noch genügend Gäste zu haben, die mit diesen mythischen Phantasmata spielen. Das Bedürfnis nach haltgebenden Mythen aller Art besteht, je haltloser die Perspektiven des Lebens werden. Das rechtfertigt aber nicht, Blödsinn zu verkündigen. Jesus hat diese abgelaufenen Dogmen nicht erfunden und seine christologischen Hoheitstitel sind Teil seiner permanenten Passion über den Tod hinaus als Popanz hierarchischer Gottkönigsmythen herhalten zu müssen.

Die Wissenschaftsgeschichte lebt von Paradigmenwechseln. Es werden ständig neue Erkenntnisse gewonnen, die alte Hypothesen korrigieren. Adaequatio intellectus ad rem ist der Motor der Forschung. Und in der Theologie wäre Gott als „Sache“ oder genauer: zu erforschende Realität der Welt mit Forschungsmethoden immer präziser zu erfassen. Das Gottesbild kann in den Paradigmenwechseln der christlichen Glaubensgeschichte nicht das gleiche bleiben wie vor 3000 Jahren. Gegen alles Bilderverbot: Wir brauchen Bilder von Gott, die allen einleuchten können, die nicht als purer Unfug und Spinnerei abgetan werden. Es geht um Plausibilität der Gottesbilder und den Wahrheitsgehalt theologischen Denkens.

Jörns führt Dogmen an, die nach Revision schreien: „Evolution und Menschenbild; Gott – Person oder Kraft; Korrektur des Jesus-Bildes; Probleme einer Kinderbibel; Beten heute; Ökumene der Religionen und vieles mehr. Am Anfang stand die Ablehnung der Erlösungstheologie, nach der Jesus von Nazareth am Kreuz stellvertretend als Sühnopfer für »unsere Sünden« gestorben sei. Wir glauben nicht, dass unser unvollkommenes Menschsein todeswürdig wäre. Wir folgen Jesus, der erkannt hat, dass wir Hilfe brauchen, um das schwere Leben bestehen zu können. Und die evolutionäre Anthropologie lehrt uns, dass wir aus unserer tierlich-wilden Herkunft eine leicht entflammbare Neigung haben, unsere Interessen mittels Gewalt durchzusetzen. Diese Neigung in Schach zu halten gelingt nur durch die Stärkung der Kooperation, also durch Nächstenliebe.“[48]

Mit Sorge sieht Jörns, wie die Kirche an der Sühnopferlehre festhält: „Wir aber sehen das Christliche wesentlich geprägt durch Jesu Leben und seine Botschaft der unbedingten und unbegrenzten Liebe Gottes zum Leben. Aus ihr allein und nicht aus einem Blutvergießen nehmen Gottes und unsere Vergebung ihre Kraft. Da setzt die Revolution Jesu an.“[49] Die Evolution mit Gott zusammenzudenken ist möglich: „Das Leben ist aus einer unglaublichen Verdichtung von Quanteninformation entstanden und hat sich entfaltet in einem immer differenzierter werdenden Beziehungssystem. Dass dies alles Zufall gewesen sein soll, mag ich nicht denken.“[50]

Feuerbachs Projektionsthese gilt unverändert. Gott ist keine Person: „Die Personalität Gottes ist ein Produkt unserer Wahrnehmungsmuster, die sich an unserem Selbstbild orientieren. Übertrügen wir unser Selbstbild auf Gott, müssten wir von einer Menschenebenbildlichkeit Gottes reden. Aus meiner Sicht gibt es kein Weiterleben von Personalität, weil die ja mit der irdischen Existenz und ihrer Leiblichkeit zusammengehört. Meine Hoffnung ist eine andere: Alles, was in einem Leben gedacht, geglaubt, gehofft und geliebt wird, ist Energie, und Energie geht im Kosmos nicht verloren. Jeder Mensch wirkt durch diese geistigen Kräfte evolutiv-schöpferisch, über seinen Tod hinaus. Ich glaube, dass sich alle Potenzen von Geist und Liebe, die wir in dieses Leben hineingeben, nach allen Toden miteinander verbinden und neue Lebensgestalten schaffen. Aber es gibt keine Hoffnung auf eine wie auch immer gedachte Gerechtigkeit bei Gott, die etwas Furchtbares »wieder gut« machte. Die einzige Kraft, die mit erlittenem Unrecht leben lässt, ist die Vergebung. Sie kann selbst IS-Terroristen, die zum Morden radikalisiert worden sind, zugestehen, was Jesus seinen Kreuzigern zugestanden hat: »Vater, vergib ihnen. Denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lukas 23, 34).“

Hier wird eine Weite Gottes entwickelt, die bei aller Trauer um den verlorenen Vater im Himmel und das Fehlen aller Rachemöglichkeiten ganz nah bei Jesus ist, dessen Vater seine Sonne über Guten wie Bösen aufgehen läßt. Jörns konstatiert als Theologieprofessor, daß solche Überlegungen ähnlich denen von Halbfas und anderen durch die Bekenntnisbindung an den Fachbereichen nicht adaptiert werden dürfen; kein Theologe riskiert, seine hochdotierte Stelle für ketzerische Gedanken aufs Spiel zu setzen. Die Ketzer der Reformation waren mutiger.

Flexibles Denken stößt in der Theologenschaft, die durch Universitätsverträge mit den Kirchen sehr fest und rigide in die traditionelle Dogmatik eingebunden ist, immer wieder an Grenzen, an Tabus wie etwa Lüdemanns Satz, Jesus sei im Grab verwest, die Hannovers Kirche zu einem Ketzerverfahren gereizt hatte, dieselbe Kirchenleitung, die die alarmierenden KMUs durchführen läßt. Dabei gibt es kaum einen mir bekannten Theologen, der die leibhafte Auferstehung und Himmelfahrt tatsächlich glaubt seit Bultmanns Entmythologisierungsforschung. Die Theologiegeschichte ist voller Kämpfe um die faktische Unglaubwürdigkeit von Dogmen. Früher mit Scheiterhaufen, heute mit Lehrzuchtverfahren. Wenn Gottes Sein wirklich im Werden sein soll, müssen sich die Bilder Gottes mit ihm und uns verwandeln und falsche und deshalb heute großflächig abgelehnte Dogmen verworfen werden, etwa Weltgericht, Auferstehung, Hölle, Opfertod, Siebentageschöpfung, Allmacht.

In den neuen Glaubenstypen seiner umfassenden Untersuchung über die deutsche Frömmigkeit sieht Jörns einen Gestaltwandel Gottes, „der den veränderten Welt-, Lebens- und Selbstwahrnehmungen der Menschen parallelläuft.“[51] Neben den alten Gottesbildern wächst in den Gemeinden eine Gottesidee, „die Gott in den Bewegungen der Menschen oder auch zwischen Menschen und anderen Geschöpfen wirken weiß.“[52] Dabei geht es um Bewahren von Leben, Erhaltung dieser Erde und Geborgenheit, ohne daß dabei die Allmacht eine Rolle spielt. „Viele wollen auch deshalb nicht mehr von Gottes Allmacht reden, weil sie ihn nicht länger pauschal für die Ursachen und Folgen der eigenen destruktiven Gewalt verantwortlich machen, sondern selbst die nötige und mögliche Verantwortung tragen wollen.“[53] Diese schleichende Abkehr vom allmächtigen Schöpfer- und Strafgott zu einem, der Liebe ist und größer als unsere Herzen, dürfte sich auch der Predigt einer ganzen Generation von Pastoren verdanken, die in ihrem Denken von der Studentenbewegung der 1968er Jahre geprägt sind und die die desaströsen Folgen der Verehrung von Macht und Autorität im Nazideutschland reflektiert haben in und mit ihren Gemeinden. Daß sich diese Entwicklung hat vollziehen können, ist ein gutes Zeichen für das im Werden befindliche Sein Gottes, der in Jesus gezeigt hat, wie wenig er von Macht und Verehrung hält.

Gleichzeitig kann man die Kraft alter Bilder adaptieren, ihre damalige Bedeutung aus dem mythischen Narrationsgewand herausfiltern und in den gegenwärtigen Problemlagen der Welt neu entfalten. Ein altes Bild ist der Gott, der als Feuersäule mit seinem Volk mitgeht und es beschützt. Daß Gott Feuer ist, wird keiner heute behaupten, daß er ein Phänomen des Mitgehens, der Begleitung und des Schutzes ist und sich dort realisiert, wo genau dieses passiert, könnte man als Substrat dieses alten Bildes festhalten und als Kraft der Solidarität zu einer Lebensqualität erklären und gemeinsam herausfinden, wo und wie wir diese Solidarität mit denen, die sich noch nicht selbst helfen können, in globalen Feldern und unserem unmittelbaren Umfeld praktizieren.

Mit dem Unheiligen in der Heiligen Schrift, dem Grausamen, Gewalttätigen, Kriegerischen und Gesetzlichen gilt umgekehrt, es klar zu benennen als Lieblosigkeit und dem Sein Gottes gänzlich unangemessenes Erzählgut einer feudalistischen Geschichte von Unterdrückung und Mißbrauch Gottes für nationalistische oder diktatorische Interessen.

Daß Gott eifersüchtig und gefährlich ist, wenn er nicht genügend verehrt wird, ist eine pubertäre Reaktion, ähnlich die Sintflut als nutzloser Strafe für ein „falsches“ Leben. Es gibt zahllose Verhaltensweisen Gottes im AT, die ihn eher als Unhold fürchten lassen und nicht als Beschützer und Bewahrer seiner Schöpfung. Es wirft womöglich eher ein schlechtes Licht auf die Erfinder dieser Erzählungen als auf Gott, über den sie sprechen. Man kann die Gottesbilder der Bibel nur als Menschenbilder bezeichnen und wir kommen um die Anthropomorphie der Theologie kaum herum. Luthers Katechismus mit dem „Gott fürchten und lieben“ perpetuiert die Ambivalenz des geprügelten Martin zum gewalttätigen Vater. Es ist lehrreich, wie diese rigide Vatererfahrung Luthers sein gesamtes Gottesbild geprägt hat. Es zeigt, daß wir alle ohne Ausnahmen Vorstellungen über Gott speisen aus unseren Erfahrungen mit Menschen. Der himmlische Thronsaal im AT ist nur ein Beispiel dafür, wie ein feudalistisches Gottesbild für die gesamte israelische Theologie konstitutiv geworden ist.

Gott ist also eine bestimmte Form des Menschseins und die Bilder von ihm können Utopien des Menschenmöglichen werden. Und so gibt es viele Friedensutopien und Bilder der Gerechtigkeit, die Gott mit den Möglichkeiten friedlichen und gerechten Zusammenlebens der Menschen in Verbindung bringen. Sieht man diese Vielfalt der szenischen Erzählungen von Gottes Wirksamkeiten, so kann man das Reich Gottes, von dem Jesus gerne sprach, als eine Friedensutopie sehen, die Jesus gelebt hat. Gott ist eine Möglichkeit, wie wir miteinander umgehen können. Er ist das Szenario von Solidarität, Frieden, Gerechtigkeit und Sorge für die Mitlebenden, ob Tier, Pflanze oder Mensch. Die neuen Bilder Gottes dürfen in einer nicht mehr feudalistischen Zukunft als ein demokratisches Miteinander, als eine Kompetenzgemeinschaft der Priester – und das sind wir alle – gemalt, gedacht und erzählt werden. Es wäre schön, wenn die Kirchen an dieser Zukunftswerkstätte Gottes teilnehmen würden. Nicht nur in einigen Gemeinden, sondern in einer grandiosen ansteckenden Weise Martin Luther-Kings: I have a dream. Mit der Begeisterung, die wir von den Baptistischen Gemeinden und den Evangelikalen kennen, aber statt der frauenfeindlichen Attitüde gegen Abtreibung und quere Liebe nun gegen Kriegspropaganda, Aufrüstung und die wachsende Schere von Arm und Reich. Damit wären wir endlich wieder bei Jesus und seiner Vorliebe für die Armen und Verlorenen und seiner Gewaltlosigkeit.

Im Prinzip gab es immer schon Synoden und Diskurse, in denen der Weg der Kirche ausgefochten wurde und Jesus zeigt, wie Streitkultur gehen kann. Der synodale Weg der Kirche ist unmittelbar die Seinsweise Gottes. Aber diese Weg war von Anbeginn an auch einer der Macht, mit der sich bestimmte Kräfte durchgesetzt haben und ihre partikulare Wahrnehmung zu Dogmata für die Allgemeinheit quasi universalisiert haben. Synoden allein sind noch lange nicht die Garantie guter Entscheidungen im Sinne der Liebe Gottes. Bischofskonferenzen demonstrieren auch heute lediglich Macht und Unterdrückung und werden mit Gottes Hilfe die Selbstdestruktion ihrer reichen Institution befördern, wir müssen nur noch eine Weile warten. Der Antidemokratismus gerade der Katholischen Kirche, der sich legitimiert mit jesusfernen Dogmen, der Hitler damals mit Freuden begrüßt hatte, erlebt in dieser Zeit einen spektakulären Schiffbruch und das Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt ohne den verlogenen Klerus weiter. Es ist Musterbeispiel rigider Hirnstrukturen, die immer nur die alten Reflexe abrufen und damit in neuen Situationen vor die Wand laufen.

Vom göttlichen Funken in den Seelen der Menschen getriggert ist Gott die Kraft in den Schwachen, die Welt zu einer gerechten und friedlichen globalen Gemeinde zu bewegen. Gegen alle Widerstände, die man nennen mag, wie man mag. Auch die Teufel sind nur verblendete Menschen. Und Engel eine besonders nette Form von Geflügel, nämlich wache Geister, die vorausschauen, im Kreis umherblicken, enzyklopädisch die Welt in ihrer Komplexität erfassen und mit diesem informierten Weitblick der docta spes Weichen für diese Zukunft Gottes in einer Muslime, Christen, Hindus, Buddhisten usw. verbindenden Weltgemeinde stellen.

Gott ist das gemeinsame Friedensprojekt dieser Welt. Er sitzt in ganz vielen Herzen und Köpfen und die große Hoffnung des Glaubens ist, daß aus diesem Senfkorn ein Baum wird, dieser Sauerteig die Welt aufgehen läßt mit den Luftbläschen des Heiligen Geistes. Gott ist nicht der Oppa, der im Himmel herumlungert, sich Kirchenlieder vorsingen läßt und dabei an seiner Shitpfeife saugt, sondern der neugierige, auf Problemlösungen erpichte, an der Aufhebung von Leiden interessierte und arbeitende Geist in unseren Köpfen und Herzen. So ist er mitten unter uns. Als Arbeitsgemeinschaft und Zukunftswerkstatt für eine bessere Welt, die trotz allem Wüten Trumps, Putins und Netanjahus[54] und all der anderen Diktatoren der Hure Babylon die Köpfe nicht hängen lassen wird. Die Graswurzelrevolution ist ein schönes Bild für dieses Wirken Gottes bei und mit uns. Dieses Wirken ist nicht an die Kirche gebunden. Sie könnte eine der Wiesen Gottes sein, wenn sie nicht unmäßig bremst oder die alte Bremser-Riege ihr Wesen treiben läßt. Die Felder Gottes sind aber größer als die Kirche. Sie überziehen den Erdkreis und die Städte, orbi et urbi. Es gibt keine Grenze des Wirkens Gottes und der Weltverantwortung der von ihm inspirierten Menschen. „Wo ich gehe wo ich stehe“, singt ein Kinderlied. Da hat es etwas gewußt…

Das Desinteresse an diesen Überlegungen ist statistisch erwiesen. Kaum einer interessiert sich überhaupt noch dafür, ob und wie es Gott gibt. 8% von 24% der Evangelischen sind 2% der Deutschen, die möglicherweise noch interessiert sind an der Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens, weil sie sich eng verbunden fühlen mit der Kirche. Das ist eine niederschmetternde Relevanz.

Jörns und seine Gattin haben mit dem Freundeskreis aus Berg am Starnberger See ein Credo formuliert, womit ich meine unvollständigen Überlegungen abschließe:

„1. Wo Geist und Liebe wirken, da wird Leben, da ist Gott. Gottesdienst beginnt mit der Ehrfurcht vor dem Leben. Dass es Leben gibt, ist das eine große Geheimnis. Geist ist die treibende Kraft in der fortdauernden Schöpfung, und Liebe hält die Welt im Innersten zusammen.

2. Liebe hilft, das schöne, schwere Leben auszuhalten und andere Menschen und Geschöpfe, aber auch uns selbst, leiden zu können. Bleiben wir in der Liebe, sind wir in Gott, ist Gott in uns.

 3. Jesus hat den Opferkult durch die Vollmacht abgelöst, einander Schuld zu vergeben. Menschen, Tiere und Pflanzen haben eine unverlierbare Würde, sind Leben inmitten von Leben, das leben will.

4. Heilig sind uns Menschen, die durch ihr Vorbild unsere Schritte auf den Weg zum Frieden leiten.

5. Wir gehören zu einer neuen Ökumene, in der die Religionen die uralte Gewohnheit verlassen, Gott in Dienst zu nehmen für den Willen zu herrschen.

6. Zur neuen Ökumene gehören aber auch alle Künste und Wissenschaften, die unsere Sinne und Sehnsüchte richten auf das, was dem Leben dient.

7. Wir warten nicht auf himmlische Weltenretter. Jesus hat uns beauftragt, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Gerechte Lebensbedingungen für alle zu schaffen, bleibt unsere Aufgabe. Sie hat Vorrang vor allem religiösen, nationalen und wirtschaftlichen Eigennutz.

8. Wir haben Zukunft über den Tod hinaus durch den Glauben, dass Geist und Liebe nicht verloren gehen, sondern weiter wirken.“

Klaus-Peter und Wiltrud Jörns, Berg, 23.7. / 15.10.2018

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„Ideologien verändern Körper“ Die Neurowissenschaftlerin Leor Zmigrod hat ideologische Denkmuster untersucht. Im Gespräch erklärt sie, was Hirnscans über politische Ansichten verraten können, wie Dschihadisten ticken und warum Social Media extremes Denken befeuern

 

Interview Jens Uthoff in der taz vom 21.6.2025 Seite 13

 

taz: Frau Zmigrod, Sie haben mithilfe von MRTs und Hirnscans ideologische Denkstrukturen im Gehirn untersucht. Wozu braucht es diesen neuen Ansatz?

  Leor Zmigrod: Ich habe vor über zehn Jahren begonnen, mich damit zu beschäftigen, warum Menschen sich radikalisieren. Dabei fiel mir auf, dass sich die Analyse vor allem auf demografische Faktoren wie Alter und Geschlecht, Bildungsgrad oder sozioökonomischen Status konzentrierte. Warum aber sind von jenen Menschen, die unter ähnlichen Bedingungen leben, manche bereit, für eine Ideologie alles zu opfern - und andere nicht? Wir können das besser verstehen, wenn wir uns die Mechanismen des Gehirns anschauen, die bei ideologischem Denken wirken.

  taz: Was haben Sie herausgefunden?

  Zmigrod: Ich habe festgestellt, dass Menschen mit bestimmten Denkmustern und Gehirnmerkmalen von Ideologien angezogen werden - unabhängig von deren Art und Ausrichtung. Dabei hat mich die kognitive Rigidität interessiert. Kognitiv rigiden Personen fehlt die Fähigkeit, sich anzupassen und zwischen verschiedenen Denkweisen zu wechseln. Sie verharren in starren Denkmustern. Ich habe einen Test mit tausenden Teilnehmer*innen durchgeführt: Proband*innen müssen Karten nach einer bestimmten Regel sortieren, die sie durch Trial and Error schnell herausfinden - denn sie erhalten eine Belohnung bei der richtigen Anwendung. Also zum Beispiel, dass auf ein bestimmtes Symbol ein anderes Symbol folgt. Irgendwann im Spiel ändert sich die Regel, ohne dass die Teilnehmer*innen davon wissen. Dieser Moment interessiert mich. Einige sind kognitiv flexibler und ändern ihr Verhalten schnell, andere wenden immer wieder die alte Regel an, obwohl die Belohnungen ausbleiben.

  taz: Sie unterscheiden zwischen rigiden und flexiblen Denkstrukturen. Ist das ein Dualismus für Sie?

  Zmigrod: Nein, das ist nichts Binäres, es gibt nicht auf der einen Seite die flexiblen und auf der anderen Seite die rigiden Menschen. Die Mehrheit der Menschen liegt irgendwo dazwischen.

  taz: Noch mal einen Schritt zurück. Wie würden Sie Ideologie definieren?

  Zmigrod: Wer ideologisch denkt, hält sich streng an moralische Regeln, an vorgegebene Denkweisen. Auch wenn Beweise vorliegen, die sein Weltbild ins Wanken bringen, wird er sich gegen diese verwehren. Verschwörungserzählungen sind ein prototypisches Beispiel für ideologisches Denken.

  taz: Sie stützen sich auf Geisteswissenschaftler*innen, verweisen auf die Kritische Theorie und Adornos und Else Frenkel-Brunswiks „Studien zum autoritären Charakter“. Was kann die „politische Neurobiologie“ dem hinzufügen?

  Zmigrod: Sie kann andere Wissenschaftszweige oder Methoden nicht ersetzen, aber sie kann etwas zur Diskussion beitragen. Sie kann eine Art Mikroskop sein, um zu sehen, was passiert, wenn das ideologische Denken im Gehirn übernommen hat.

  taz: Entspricht denn der „rigide Charakter“, wie Sie ihn nennen, jenem „autoritären Charakter“?

  Zmigrod: Die Methoden, die die Autor*innen der Studie damals verwendeten, waren viel rudimentärer. Sie konzentrierten sich auf psychoanalytische Methoden, sie verwendeten Fragebögen, aber es waren immer die Menschen selbst, die Auskunft über ihre Persönlichkeit gaben. Das ist heute anders, wir können mit MRTs die Gehirnaktivität sichtbar machen. Damals konzentrierten sich die Wissenschaftler*innen nach den Erfahrungen des Faschismus auf den rechten Autoritarismus. Das ist auch ein Unterschied zu unseren Untersuchungen: Die kognitive Rigidität, die wir beschreiben, ist anfällig für extremistische Ideologie jedweder Art, ob rechts oder links.

  taz: Stützen Sie mit Ihren Erkenntnissen die Hufeisentheorie?

  Zmigrod: Nein. Es geht uns gar nicht um die tatsächlichen politischen Bewegungen. Unser Fokus liegt auf der psychologischen Veranlagung der Person. In den Daten sehen wir, dass extreme Linke und extreme Rechte in puncto kognitive Rigidität Ähnlichkeiten aufweisen. Es gibt viele weitere Faktoren, die dazu führen können, dass jemand extrem links oder extrem rechts denkt.

  taz: Dennoch könnte man Ihren Ansatz für deterministisch halten.

  Zmigrod: Das ist er nicht. Bei biologischen Prozessen geht es nicht zwangsläufig um etwas (genetisch) Vorherbestimmtes. Was wir feststellen können, ist, dass es biologische und psychologische Marker gibt, die Menschen für Ideologien prädisponieren. Doch dabei handelt es sich immer noch um Potenziale und Wahrscheinlichkeiten, nicht um ein vorherbestimmtes Verhalten. Für mich steckt in unserem Ansatz sogar eher eine emanzipatorische Hoffnung: Tatsächlich zeigen viele Forschungen, dass man eine andere Wahl treffen kann, dass Hirnstrukturen veränderbar sind.

  taz: „Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist nicht die Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz (...), sondern die Transformation der menschlichen Natur selbst“, hat Hannah Arendt geschrieben -schließen Sie an diese Idee an?

  Zmigrod: Ja. Ideologien verdrängen alte Denkweisen und ersetzen sie durch neue. Sie verändern unsere Kognition, unsere Reflexe, unsere biologische Natur. Vielleicht sogar bis zu einem Grad, den Arendt nicht geahnt hat.

  taz: Inwiefern?

  Zmigrod: Gelegentlich- wie in ihrer Analyse von Adolf Eichmann -hat Arendt argumentiert, dass „Gedankenlosigkeit“ und „Oberflächlichkeit“ Menschen dazu bringen, ideologische Verbrechen zu begehen. Ich denke, die neue Wissenschaft stellt diese Annahme infrage: Es gibt tiefgreifende und komplexe Veränderungen, die im Gehirn und Körper ideologischer Gläubiger stattfinden.

   taz: Wenn Medien über Anschläge berichten, wird oft gefragt, ob ideologisch motivierter Terror oder eine psychische Störung ursächlich war. Kommt in Wirklichkeit oft beides zusammen?

   Zmigrod: Ja. Wenn eine Person sehr ideologisch, sehr radikal und extrem wird und bereit ist, anderen Menschen Schaden zuzufügen, haben sich in ihr viele psychologische Prozesse verändert oder verstärkt, die zu diesem Zustand geführt haben.

   taz: Sie zitieren eine Studie, in der man die neuronalen Muster von Dschihadisten untersucht hat. Was hat man dabei herausgefunden?

   Zmigrod: Diese Studie hat sich mit „heiligen Werten“ befasst, also Überzeugungen, für die Menschen bereit sind zu sterben. Man kann tatsächlich sehen, wie bestimmte Netzwerke im Gehirn aktiviert werden, wenn militante Menschen mit einer fundamentalistischen Ideologie über diese heiligen Werte nachdenken. In einem Experiment haben die Forscher*innen herausgefunden, dass diese Menschen noch mehr zu absoluten heiligen Werten neigten, wenn sie sich sozial ausgegrenzt fühlten.

  taz: Trägt Einsamkeit also zur Radikalisierung bei?

  Zmigrod: Ja, das kann sie. In einer interessanten Studie fanden Forscher heraus, dass Menschen, die in den USA wegen terroristischer Anschläge verurteilt wurden - aufgrund rechtsextremer, linksextremer oder religiös fundamentalistischer Ideologien -, fast immer im Jahr vor ihrer Tat einen persönlichen Zusammenbruch erlebt hatten, beispielsweise aufgrund von Zäsuren in sozialen, beruflichen oder familiären Beziehungen.

  taz: Sie vermessen Dopaminkonzentrationen im Gehirn oder die Aktivität der Amygdala: jene Struktur, die negative Emotionen wie Angst, Ärger, Ekel und Gefahr steuert. Wie können uns diese Erkenntnisse helfen?

  Zmigrod: Die untersuchten Hirnprozesse führen dazu, dass wir uns gegenseitig entmenschlichen, diskriminieren und rassistisch behandeln. Wir wissen zudem, dass ideologische Führer diese Prozesse ausnutzen können. Menschen auf bestimmte Weise zu stressen - indem man zum Beispiel Ressourcenknappheit als großes Problem darstellt -, kann zum Beispiel ein wirksames und gefährliches Mittel sein, um Diskriminierungsmuster zu aktivieren.

  taz: Nehmen wir ein konkretes Beispiel: die Weltbilder rechter männlicher Jugendlicher in Deutschland.

  Zmigrod: Zu den wichtigsten Faktoren, die viele junge Männer zu extrem frauenfeindlichen und rechten Ideologien treiben, zählen heute die sozialen Medien. Die Algorithmen, die die sozialen Medien steuern, sind so beschaffen, dass sie möglichst binär und emotional negativ sind, um die Angst, den Ekel und die Bedrohungsgefühle anzusprechen, für die die Amygdala zuständig ist. Durch die politische Neurobiologie verstehen wir, inwiefern bestimmte Denkmuster anfällig dafür sind und wie umgekehrt Inhalt und Form von Social Media bestimmte Denkweisen weiter verstärken.

  taz: Was folgt für Sie daraus?

  Zmigrod: Wir müssen darüber nachdenken, ob wir das weiter zulassen wollen und wie wir die digitalen Medien verbessern können. Gleichzeitig sollten wir versuchen, die psychische Widerstandsfähigkeit zu stärken - nicht nur junger Menschen, sondern der Nutzer*innen insgesamt.

 

Die 29-jährige Leor Zmigrod forscht als Neurowissenschaftlerin an der Universität Cambridge. Sie gilt als Begründerin der politischen Neurobiologie.

Leor Zmigrod: „Das ideologische Gehirn. Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen“. Aus dem Englischen von Matthias Strobel. Suhrkamp, Berlin 2025, 302 Seiten, 24 Euro



[1] Adorno, T. W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J., & Sanford, R. N. , The authoritarian personality. Harper 1950

[2] Leor Zmigrod, Das ideologische Gehirn. Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2025; cf Ideologien verändern Körper. Interview von Jens Uthoff mit ihr in der taz vom 21.6.2025 Seite 13

[3] Zmigrod, “The Role of Cognitive Rigidity in Political Ideologies: Theory, Evidence, and Future Directions.” Current Opinion in Behavioral Sciences 34/2020, 34-39

[4] Zmigrod, “Ideological Mind-Shaping or Brain-Shaping: Fusing Empirical Biopolitics and Political Philosophy of Mind.” Journal of Philosophy of Emotion 6/2024, no.1,59-68 (https://doi.org/10.33497/ 2024.summer.8), 59: „Dominant ideologies can infiltrate the bodies of adherents, and the task of the social critic or political philosopher is to delineate how, why, where, and when political structures shape the minds and bodies of citizens, as well as whether the effects are coercive, destructive, or liberatory.“

[5] Zmigrod 2024,64

[6] Theoder W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Zur Genese der Dummheit, Gesammelte Schriften 3,296

[7] Zmigrod im TAZ-Interview vom 21.6.2025 Seite 13

[8] ebd

[9] ebd

[10] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/

[11] https://www.wina-magazin.at/israels-pakt-mit-dem-teufel/ „Vor allem die rechte Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu übernahm diese Strategie der Spaltung. Sie hielt an diesem Status quo fest und glaubte, den Nahostkonflikt ohne echten Friedensprozess mit den Palästinensern beenden zu können“, erklärt der pensionierte Shabak-Offizier Avner Cohen zur Zeit ab 1987. „Das war nicht besonders klug und ein großer Fehler.“ Tatsächlich erklärte Netanjahu bereits im Dezember 2012, dass es im Interesse Israels sei, die Hamas in Gaza stark zu halten – quasi als Gegengewicht zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die das Westjordanland kontrolliert. Laut der rechtskonservativen Website Mida hat Netanjahu seiner Likud-Partei 2019 erklärt, man müsse zulassen, dass die Hamas finanzielle Unterstützung aus Katar bekomme - das sei wichtig, um einen palästinensischen Staat zu verhindern. "Das ist Teil unserer Strategie: Eine Trennung zwischen den Palästinensern in Gaza und im Westjordanland herbeizuführen", sagte er. Monatlich flossen anfangs 10.000.000 $, später das Dreifache.

[12] Zmigrod, “A Neurocognitive Model of Ideological Thinking.” Politics and the Life Sciences 40/2021, no. 2: 224-238. Hence, individuals with more conservative and cautious ideologies displayed more caution even at the level of visual perception.

[13] Hill, P. C., & Williamson, W. P. , The psychology of religious fundamentalism. Guilford Press 2005; Hommel, B., & Colzato, L. S. (2010). Religion as a control guide: On the impact of religion on cognition. Zygon, 45(3), 596604; Hommel, B., Colzato, L. S., Scorolli, C., Borghi, A. M., & van den Wildenberg, W. P. (2011). Religion and action control: Faith-specific modulation of the Simon effect but not stop-signal performance. Cognition, 120(2), 177185; Inzlicht, M., McGregor, I., Hirsh, J. B., & Nash, K. (2009). Neural markers of religious conviction. Psychological Science, 20(3), 385–392; Inzlicht, M., Tullett, A. M., & Good, M. (2011). The need to believe: a neuroscience account of religion as a motivated process. Religion, Brain & Behavior, 1(3), 192–212; Israel, S., Hasenfratz, L., & Knafo-Noam, A. (2015). The genetics of morality and prosociality. Current Opinion in Psychology, 6, 55–59; van Elk, M., & Aleman, A. (2017). Brain mechanisms in religion and spirituality: An integrative predictive processing framework. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 73, 359-378

[14] Zmigrod, L., Rentfrow, P. J., Zmigrod, S., & Robbins, T. W. (2019). Cognitive flexibility and religious disbelief. Psychological Research, 83(8), 17491759

[15] aaO 1753

[16] aaO 1756

[17] Friesen, A., & Ksiazkiewicz, A. (2015). Do political attitudes and religiosity share a genetic path?. Political Behavior, 37(4), 791-818 https://doi.org/10.1007/s11109-014-9291-3 791: „These findings provide evidence that the overlap between the religious and the political...  may be adopted to satisfy biologically-influenced psychological needs.“

[18] Layman, G. C. (1997). Religion and political behavior in the United States: The impact of beliefs, affiliations, and commitment from 1980 to 1994. Public Opinion Quarterly, 288-316

[19] Malka, A., Lelkes, Y., Srivastava, S., Cohen, A. B., & Miller, D. T. (2012). The association of religiosity and political conservatism: The role of political engagement. Political Psychology, 33(2), 275-299

[20] Zmigrod, Individual-Level Cognitive and Personality Predictors of Ideological Worldviews: The Psychological Profiles of Political, Nationalistic, Dogmatic, Religious, and Extreme Believers DOI:10.31234/osf.io/srgup, Seite 41-43

[21] aaO 16ff

[22] aaO 41f

[23] aaO 47

[24] Inzlicht, M., Tullett, A. M., & Good, M. (2011). The need to believe: a neuroscience account of religion as a motivated process. Religion, Brain & Behavior, 1(3),192–212; Greenberg, J., Solomon, S., & Pyszczynski, T. (1997). Terror management theory of self-esteem and cultural worldviews: Empirical assessments and conceptual refinements. Advances in experimental social psychology, 29, 61-139

[25] Zmigrod, Individual-Level Cognitive and Personality Predictors of Ideological Worldviews Seite 42

[26] Vassilis Saroglou, Religion and the five factors of personality: a meta-analytic review. in: Personality and Individual Differences, Volume 32, Issue 1, 5 January 2002, 15-25

[27] Klaus-Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München (Beck) 1997; 19992,56ff

[28] Jörns 19992,199-232

[29] Jörns 19992,202-11: noch 30% der Gottgläubigen und 43% der Pfarrer glaubt an Gottes Allmacht. ¾ glauben an Beten als Gotteskontakt. 50% halten Gott für den Weltschöpfer, je älter desto stärker. 30% glaubt an Gottes Bewahrung der Schöpfung, 42% der Pfarrer und 16% der Theologiestudenten. Kaum einer der Befragten, auch nicht der Pfarrer, glaubt noch an Erbsünde durch Adam. Ans Weltgericht glauben noch 25%, besonders Ältere, 30% der Pfarrer, 25% der Theologiestudenten. Kaum jemand glaubt an die Hölle, 27% glauben an Auferstehung und Weiterleben im Himmel, deutlich mehr aber an Unsterblichkeit der Seele in eher buddhistischer Art. 211: „Anzunehmen ist aber, daß die Entdogmatisierung auch der Gottgläubigen weiter voranschreiten wird.“ Hohe Werte haben gegenseitige Zuwendung und Geborgenheit.

[30] Jörns 19992,212-15 oft Singles bis 44 Jahre in WG´s von Kreuzberg und Wannsee, freiheitsliebend, sexuell offen, für Sterbehilfe, gegen Ehezwang und feste Kleiderordnungen und Macht. Für Hilfsbereitschaft und Verantwortung gegenüber der Natur. Statt Gott sprechen sie lieber von kosmischem Geist, Schicksal, übersinnlichen Kräften und Energien. Sie sehen pantheistisch Gott in jedem Wesen, meditieren für ihr seelisches Gleichgewicht, sehen Buddha als toleranten Weisheitslehrer und die Kirchen als unglaubwürdig. 15% evangelischer und 13% katholischer Pfarrer teilen diese Ansichten.

[31] Jörns 19992,215ff: Unentschiedene in Berlin ca. 20%. Vielleicht gibt es Gott, aber sie glauben nicht an seine Allmacht, wünschen aber, daß er die Welt erhält und gerecht macht. Beten wäre zwecklos.

[32] Jörns 19992,217-20: 25% der unter 64jährigen in Kreuzberg und Wannsee sind Atheisten, in Mitte über 50%. Es sind mehr Männer als Frauen und sehr politisch interessiert, ebenso an Wissenschaften und Technik zur Verbesserung der Welt. Sie optieren für Gesellschaftsveränderung zur Autonomie, Frauenrechte, weniger Repression. 63% von ihnen glaubt nicht an Leben nach dem Tod.

[33] Sloterdijk 1983,524

[34] Fritz Buri, Der Buddha-Christus als der Herr des wahren Selbst. Die Religionsphilosophie der Kyoto-Schulen und das Christentum, Bern (P. Haupt) 1982; Walter Strolz, Heilswege der Weltreligionen II: Christliche Begegnung mit Hinduismus, Buddhismus und Taoismus, Freiburg/Basel/Wien (Herder) 1986; Daisetz Teitaro Suzuki, Der westliche und der östliche Weg, Berlin (Ullstein) 1990; Theo Sundermeier/ Werner Ustarf (Hg), Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik, Gütersloh/ München (Gütersloher Verlagshaus/ Kaiser) 1991

[35] Jörns, Gott und das schöne, schreckliche Leben, Interview in: Publik-Forum, Nr. 17/2017, 32f

[36] https://kmu.ekd.de/fileadmin/user_upload/kirchenmitgliedschaftsuntersuchung/PDF/Anhang_Tabellen_ Grundausz%C3%A4hlungen_der_6._KMU.pdf

[37] Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, https://www.siekd.de/wp-content/uploads/2018/06/ekd_v_kmu2014.pdf

[38] Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Relevanz von Religion und Kirche in der pluralen Gesellschaft. Analysen zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Herausgegeben vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (SI-EKD) und der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP), EVA Leipzig 2024,73 cf 69ff zur Verbundenheit mit der Kirche

[39] Engagement und Indifferenz. aaO 11

[40] Engagement und Indifferenz. aaO 72

[41] Wie hältst du’s mit der Kirche? 2024,317ff

[42] Informationstext zur 6. KMU. Allgemeine Informationen zur sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Neue Erkenntnisse über Religiosität und Kirchenmitgliedschaft, Seite 1

[43] Detlef Pollack /Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich. Centrum für Religion und Moderne, 3.Aufl., Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2025; https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2025/Religion_in_der_Moderne_Neuauflage.shtml: „Die zunehmende Säkularisierung, also der Rückgang religiöser Bindungen, betrifft nicht nur die Regionen Westeuropas, in denen diese Tendenzen seit langem beobachtet werden, sondern auch bisherige religiöse Hochburgen wie Polen und die USA sowie Südkorea und Japan. Das gilt auch für muslimisch geprägte Staaten in Nordafrika sowie die Türkei und den Iran.“ Im Iran sind nur noch 40% muslimisch nach eigenen Angaben.

[44] Pollack aaO

[45] Pollack aaO unter Aufnahme von Statistiken des World Values Survey (WVS), des International Social Survey Programme (ISSP), der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung und der General Social Survey (GSS)

[46] Tilmann Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt (Suhrkamp) 1976,28f: »Ich saß wie in einer Falle mit dir: alle mir wichtigen Menschen zeigten keinerlei Zweifel, daß es dich gebe und du ansprechbar, verständnisvoll, gütig, gerecht, gar 'lieb' und 'barmherzig' seiest, wenn auch mit dem Hintergrund düsterer Strafen, deren schlimmste freilich der Liebes- oder Beziehungsverlust sei, und es galt gleichzeitig als ausgemacht, daß bei dem, der dich nicht erreichte, etwas Schlimmes vorliegen müsse.«

[47] Pollack aaO

[48] Jörns, Gott und das schöne, schreckliche Leben, Interview in: Publik-Forum, Nr. 17/2017, 32f

[49] aaO 33

[50] ebd

[51] Jörns 19992,220

[52] Jörns 19992,221

[53] Jörns 19992,222

[54] Dr. Graeme Groom schreibt in einem Hilferuf vom 21.8.2025: "... als Arzt gehöre ich zu den Wenigen, die die unvorstellbaren Gräueltaten in Gaza aus erster Hand bezeugen können. Ich habe in den zerbombten und vom Hunger heimgesuchten Krankenhäusern gearbeitet … Babys und Kinder, die nur noch Haut und Knochen sind, viele mit abgerissenen Gliedmaßen. Mütter, die zu schwach sind, um ihre Neugeborenen zu füttern. Sogar das Krankenhauspersonal bricht vor Hunger zusammen.“ Über 62.100 Zivilisten sind vom israelischen Militär ermordet worden und 157.000 verletzt auf der Suche nach Hamaskämpfern. Das ist die Antwort auf 1200 von der Hamas ermordete Israelis.