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Impressum
1. Die historisch-materialistische Geschichtsschreibung beschreibt
Geschichte als Abfolge verschiedener gesellschaftlicher Systeme, in
denen kennzeichnend ist, daß gesellschaftlicher Reichtum
nicht
gleichmäßig an alle Mitglieder verteilt ist, sondern
sich in
der Verfügungsgewalt einer zahlenmäßig sehr
kleinen
Gruppe befindet. Dieser Zustand wird aber von anderen Gruppen
der
Gesellschaft als sehr unbefriedigend erlebt. Ein großer Teil
des
öffentlichen Lebens ist von dieser Unzufriedenheit und ihren
vielfältigen Äußerungen bestimmt. Die
materiellen,
genauer: finanziellen und sozialen Lebensumstände
prägen den
Mitgliedern jeder dieser verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einen
bestimmten Interessenhorizont ein, der in dieser bestimmten Gruppe
allgemein ist, von nahezu allen geteilt wird. Diese
Interessengemeinsamkeit wird als Klassenbewußtsein, als
Wissen um
die eigene Lage und die der eigenen Gruppe im Gesamtzusammenhang der
ganzen Gesellschaft, bezeichnet. Die um den gesellschaftlichen Reichtum
rivalisierenden Gruppen werden als Klassen bezeichnet und ihr Ringen um
Anteile an diesem Reichtum als Klassenkampf. Bisher waren alle
Gesellschaftssysteme der Vergangenheit von ungleicher Verteilung der
Güter einer Gesellschaft gekennzeichnet und als Folge hiervon
von
Kämpfen um eine gleiche Verteilung. Diese Kämpfe der
Klassen
um Anteile am Gesamtvermögen bildeten einen wesentlichen Teil
des
öffentlichen Lebens, also der Politik. Die Methoden dieser
Kämpfe sind sehr verschieden und äußerlich
oft kaum
gewalttätig: Handelsgepflogenheiten, Marktgesetze,
militärisch-polizeilicher Zwang, Aufruhr, moralische Apelle,
Verhandlungen, Diebstähle, Streik, Tarifabkommen sind nur
einige
der
Kampfformen des Klassenkampfes. Daneben wirken auf einer ideologischen
Ebene die Legitimation der eigenen Forderungen und die Bestreitung
jeder Berechtigung der Forderungen der jeweils entgegengesetzten Klasse
vorbereitend für eine Eskaltion der Auseinandersetzungen auf
der
Ebene direkter Gewalt. - Dies ist, sehr verkürzt dargestellt,
der
Ansatz einer materialistischen Geschichtstheorie, der in Auslegung und
Verständnis der Bibel fruchtbar gemacht werden soll.
2. Wenn alle bisherigen Gesellschaftsformen von der Urgesellschaft
über Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus bis zum
Kapitalismus
von ungleicher Verteilung der Reichtümer bestimmt waren, wenn
bisher jedes gesellschaftliche System von Kampf um diese Verteilung
geprägt war, so ist auch die Bibel, geschrieben in der Zeit
der
antiken Sklaverei, davon nicht unberührt geblieben. In der
Bibel
spiegelt sich dieser Kampf wieder. Er ist aber selten explizit
thematisch, wiewohl doch die Themen der biblischen Erzählungen
bestimmend und durchwirkend. Beispiele für die Unzufriedenheit
der
unterdrückten Klassen, die unter massiver sozialer Not leiden,
sind: Der Mose-Aufstand in Ägypten, die Landnahme, die
Sorgepflichtgesetze des Pentateuch gegenüber "Fremden", die
Skepsis Jothams bei der Königswahl, die Inthronisation Sauls
mit
vieler Kritik, die feinen Spitzen gegen David in den
Samuelbüchern, die massiven Klagen der Propheten gegen
Königshof und Reiche, besonders Jesaja, Jeremia, Hosea, Amos.
Im
NT ist insgesamt ein Zug Jesu zu den sozial Schwachen und eine
Beheimatung der Jesusbewegung in der stark ausgebeuteten Provinz
Galiläa zu erkennen. Besonders Lukas betont diese Vorliebe
Gottes
zu den Armen und Unterdrückten. Auch der Jakobusbrief
enthält
massive Anklagen gegen die Reichen. Lediglich Paulus versteht, sich mit
der gegebenen Ordnung zu arrangieren.
3. Die Bibel als von Menschen geschriebenes Wort Gottes nimmt teil an
den Auseinandersetzungen um eine gerechte Verteilung der
Güter.
Daher bildet der Begriff Gerechtigkeit eine so wesentliche biblische
Kategorie. Weltgericht als Umkehr der bisherigen Sozialordnung
(Lazarus) wird in der Apokalyptik immer mehr zur erhofften
Lösung
der Frage, wieso Gott als Garant der Gerechtigkeit den Sünder
ungestraft weiter Geld scheffeln läßt,
während er den
Frommen mit Schicksalsschlägen straft, obwohl dieser die sehr
sozial ausgerichteten Regel der Tora einhält. Jubeljahr und
Halljahr etwa waren Maßnahmen, die im Namen Gottes als
Gegensteuerung gegen die beginnende Konzentration von Landbesitz in der
Hand geschäftstüchtiger Hofbeamter Jerusalems gedacht
waren.
Das Schlüsselerlebnis Israels, der Auszug aus der Sklaverei
Ägyptens, beschreibt Gott als Befreier. Die Botschaft der
Propheten beschreibt Gott als Kläger gegen die Reichen, die
solche
geworden sind durch unmenschliche Ausbeutungspraktiken gegen Leibeigene
oder Sklaven. In allen Klassengegensätzen läuft als
ein Tenor
die Parteinahme Gottes für die Schwächsten dieser
Auseinandersetzungen durch die Texte. Im Handeln Jesu und der Apostel
gewinnt diese Parteinahme für die unterdrückten
Menschen die
Gestalt der diakonischen Hinwendung zu den Schwachen. Dabei konvergiert
Unterdrücktsein nicht immer mit Armsein. Jesus verkehrt auch
mit
den Zolleintreibern und römischen Besatzungsoffizieren. Sein
Verständnis von Unterdrücktsein ist sehr
differenziert und
überschreitet einen allzu eng gefaßten
Klassenbegriff, nach
dem vielleicht nur Fischer und Kleinbauern als wirklich arme Klasse
Palestinas gelten könnten. Dennoch ist seine Grundhaltung
gegenüber Reichen entschieden ablehnend. Die Briefe des NT
setzen
die Schärfung des Bewußtseins für die
gegenseitige
soziale Verantwortung fort und erträumen ein Bild der
Gottesherrschaft, in der die Menschen nicht mehr wegen ungleicher
Verteilung der Güter verfeindet sind.
4. Gewiß ist die Bibel mehr als ein Buch über arm
und reich.
Dennoch hieße, diese Dimension als Nebensache abzutun, die
von
den biblischen Menschen behauptete Sichtbarkeit der Gerechtigkeit und
des Friedens Gottes, auf die zu hoffen Glaube kennzeichnet, zu
bestreiten und eine Spiritualisierung der Bibel zu betreiben, die so
damals nicht gemeint war.
5. Die Erzählungen der Bibel gehen in der Schilderung von
Klassenkampf nicht auf. Sie setzen diese Situation als
Selbstverständichkeit voraus, um sie zu
überschreiten. Die
biblische Hoffnung ist auf ein Leben gerichtet, in dem die bisher
Unterdrückten zu besondern, ausgleichenden Ehren kommen und so
für ihr anfängliches Leiden entschädigt
werden. Kirche
wird bei Lukas in der Kraft des Heiligen Geistes als ein
urkommunistisches Miteinander beschrieben: alles gehörte
allen. In
diesem Motto ist auch die Lebenseinstellung Jesu getroffen oder die des
Paulus: Alles ist euer, ihr aber seid Gottes. Die Bibel ist
nicht
von Gott geschrieben, sondern mit Gottes Hilfe. Sie ist
Selbstoffenbariung Gottes durch Menschen.
6. Diese Selbstoffenbarung Gottes durch die biblischen Akteure und
Schreiber hat keine in sich widerspruchsfreie Eindeutigkeit und
Einstimmigkeit, sondern geschieht durch viele Wiedersprüche
hindurch. Für die Zusammensteller der biblischen Texte zu
einem
einheitlichen und verbindlichen Kanon waren sie aber in ihrer
Widersprüchlichkeit vereinbar. Erst das neuzeitliche, von der
aristotelischen Logik geprägte Denken erlebt die biblischen
Widersprüche als Beleg für die Unangemessenheit der
Bibel als
Auskunft über Gott.
7. Der Historische Materialismus versteht die biblischen
Widersprüche als Zeugnisse entweder von verschiedenen
Klasseninteressen (z.B. Ja oder Nein zum Königtum) oder als
Zeugnisse verschiedener geschichtlicher Stadien einer sich wandelnden
Auffassung der biblischen Autoren über die Seinsweise Gottes.
Die
Theologie spricht hier von einer Glaubensgeschichte im Verlauf der
Geschichte Israels. Die innere Bewegung dieser Glaubensgeschichte
läßt sich als ein Reinigungsprozeß der
Aussagen
über Gott verstehen.
8. War anfangs Gott noch für Kriege verantwortlich und befahl,
alle Kriegsgefangenen zu töten (Bann), so ist die prophetische
Friedensbotschaft mit diesem Kriegsgott schlicht unvereinbar geworden.
Die Verfriedlichung des Gottesbildes in der biblischen
Glaubensgeschichte gipfelt im Handeln und Denken Jesu, hinter dem die
apostolischen Brief erheblich hinterherhinken, und welches Johannes mit
dem zentralen Satz begriffen hat, der das kürzeste Bekenntnis
zu
Jesus und seinem Werk ist: Gott ist Liebe.