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Michael Lütge 

Seminararbeit an der Eberhard Karls Universität Tübingen 1973

Fachbereich Ev. Theologie – Kirchengeschichte

Wieder ausgegraben 2011 von Dr. Dr. Michael Lütge

 

Meister Eckhart´s Mystik und der "fröhliche Wechsel" bei Martin Luther

 

Vorwort 2011

Je weniger ein Mensch in den Säulen seiner Identität gehalten ist, desto mehr sucht er verzweifelt nach Halt. Gesunde Leiblichkeit, Soziales Netz, Arbeit und sinnvolles Tun, Versorgung, Einbettung in Sinnzusammenhänge, die das eigene Sein als bedeutungsvoll erscheinen lassen, diese 5 Säulen der Identität tragen uns. Dort, wo sie wegbrechen in größerem Umfang, entstehen persönliche Krisen bis hin zu sozialen Krisen. Dann erstarken fundamentalistische Bewegungen auf der Suche nach haltgebenden Sinnzusammenhängen. Kriege, Hunger, Unterdrückung, Armut bringen Leid über die Menschen, deren Not sie beten lehrt. Dieses religiöse Modell ist global wieder auf dem Vormarsch. Überall wachsen neben Freiheitsbewegungen auch fundamentalistische Gruppierungen.

Das Ziel ist, für möglichst wenig Anstrengung des Begriffs eine möglichst umfassende Anschauung der Welt zu ergattern. Je simpler die Religion als Reduktionsformel der komplexen Welt gestrickt ist, desto einfachere Leute lassen sich mit ihr trösten im Jammertal der Ausbeutung.

Das Modell ist simpel: Der von Gott geschaffene Mensch macht ständig nur Mist. Gott ist sauer. Er will ihn töten für seine Sünde. Da kommt ihm die Idee, seinen geliebten Sohn auf die Erde zu schicken, um den Leuten beizubringen, wie der Hase der Liebe läuft. Die fühlen sich provoziert und töten ihn. Das hat Gott genau so schon kommen sehen. Der Sohn ist das Bauernopfer, was Gottes Strafbedürfnis befriedigt. Durch seinen Tod sind wir gerettet. Nun ist groß Fried ohn Unterlaß. Durch häufigen Gottesdienstbesuch und Gebete üben wir uns ein in eine neue Welt, das Reich Gottes, in dem es nicht mehr so grausig ist wie im Jammertal von Armut, Hunger, Krieg. Im theologischen Jargon sind dies die Lehren von der Erbsünde (Harmatanologie), dem Sühnopfertod Jesu (Christologie), der Providenz, Ekklesiologie und der Eschatologie.

In dieser Dogmatik konvergieren die christlichen Konfessionen und leiten daraus die Grundwerte ab, nach denen Abtreibung und Empfängnisverhütung Mord ist, während der Soldatenberuf ehrenhafter Dienst am Vaterland ist, die Frau in der Gemeinde schweige, Homosexualität Sünde oder Krankheit ist, Gehorsam überhaupt eine Tugend wie Demut und Wahrheit sich in Kanzelrede und Hirtenbrief verbürgt.

Ich habe vor 38 Jahren in der folgenden Arbeit versucht, die aufkeimende esoterische Bewegung, die sich in mancherlei östlich inspirierten Jugendsekten durch die westliche Welt ausbreitete und die Vormacht der Kirchen ablöste, als eine schon von Anbeginn in der christlichen Tradition selbst beheimatete Form des Gottesbegriffs zu zeigen. Buddhistische Bewegungen haben seit den Diskussionen des Sokrates mit indischen Brahmanen[1] und dem Inderviertel im antiken Alexandria das Abendland inspiriert. Auch das Judentum lernt vom Hinduismus: Der Massensuizid der Sikarier im jüdischen Krieg auf der Feste Masada wird laut Josephus von Eleazar mit der indischen Lehre von der Himmelsheimat der Seele begründet.[2] Die Gnosis hat diese Idee weiter aufgenommen und Jesu Leben als Lehre über den Zölibat gesehen, als Ausrichtung des Lebens auf eine himmlische Friedenswelt, an der zu partizipieren bereits die irdische Welt affizieren kann. Die Heilstat des Erlösungsmordes Jesu zwecks Sündenvergebung ist hier nicht konstitutiv, weil der gnostische Gott ohne Morde auskommt.

Das ist revolutionär: Die Idee eines Gottes, der nicht mehr töten will oder töten läßt. Moltmanns Rede vom gekreuzigten Gott als dem, der auf der Seite der Unterdrückten lebt und das Leid aller Leidenden mitleidet, um mit der Kraft dieses Leidens die Welt zur Heimat zu wandeln, war die Antwort auf die bestialische Sühnopfertheorie des Paulus, die mehr vom mithrischen Taurobolium[3] geleitet ist als von dem, was Jesus selbst gesagt hat.

In ein Kontinuum von Gewalt und Schrecken paßt natürlich die Idee des mordenden Gottes, der regelmäßig sonntags seine eucharistischen Leibesgaben als symbolisches Menschenopfer einfordert, um eine gute Ernte zu gewährleisten und wirtschaftliche Prosperität. Im Kreuz als Hauptsymbol zelebriert die Kirche nach wie vor ein Hinrichtungsinstrument. Welche tiefenpsychologische Prägung und Prägnanz sich hierüber in die Seelen der Gläubigen einschleicht! Das Kreuz am Altar erzieht zur Gewaltbereitschaft, genau wie Telespiele mit Kriegssznearien. In diesem Milieu ist es folgerichtig, wenn man Todesstrafen verhängt, Kriege anzettelt und 30% der Wirtschaft aus Rüstungsproduktion besteht, die der Linderung der Welthungernöte verloren gehen und damit die soziale Ungleichheit von erster und dritter Welt befördern, die wiederum Hauptursache fast aller Kriege seit Hitler ist.

Inzwischen hat die Kritik an den Kirchen zu einer massiven Austrittswelle geführt. Nicht die krude Dogmatik ist das Hauptmotiv, sondern die sexuelle Moral der Amtierenden, die Enthaltsamkeit predigen und nachts in die Kinderschlafzimmer schleichen. Die Divergenz von Wort und Tat ist der Auslöser für Austritte. Ob Gott Jesus ans Kreuz hat schlagen lassen, ist da schon gar keine Diskussion mehr wert. Wie auch, wenn theologische Fragen von Theologen stets so formuliert wurden und werden, daß die große Mehrzahl der Gläubigen gar keine Chance hat, sie überhaupt zu verstehen, zu durchdringen und kritisch zu prüfen. Die Struktur der kirchlichen Verkündigung ist eine Einbahnstraße von den Priestern zu den Gläubigen. Daß alle Gläubigen selbst Priester sein sollen, die die Träume der Bibel bedenken und in ihr Leben hineinwirken lassen, findet in der Gottesdienstpraxis keinen Ort und Ausdruck. Es gibt keine Predigtgespräche, nur Nachgespräche. Das Evangelium bleibt auf der Kanzel. Es wird von oben nach unten gesprochen, von vorne nach hinten. Die Architektur der Kirchen baut keine Ausnahme.

Das Modell der Sühnopfertheologie und die Auferstehung der Toten werden weithin von Pfarrern nicht mehr geglaubt.[4] Zustimmung in der Gesellschaft erhält dagegen die Bewahrung der Schöpfung, der Kampf für Gerechtigkeit und eine pazifistische Welt ohne Waffen. Diese Option, von Carl Friedrich von Weizsäcker 1975 prägnant formuliert, vereint viele, die der formierten Institution der Kirchen den Rücken gekehrt haben, um effizienter in der Welt wirken zu können, als es die immer auf dem Bremspedal stehende Institution Kirche vermag, die alle Punkte von dem topt, was sie an den Jugendsekten so sorgenvoll geißelt: geistige und finanzielle Entmündigung, Bevormundung und Ausbeutung der Sektenmitglieder. Inzwischen ist der Islam in der BRD angekommen. Die Gastarbeiter haben ihre Subkultur etabliert. Diese Entwicklung ist von deutscher Wirtschaft und Politik hausgemacht. Die Multikulturalität hat ökonomische Ursachen. Man suchte viele billige Arbeitskräfte für viel unangenehme, harte Arbeit. So gibt es inzwischen nicht nur zwei christliche Konfessionen und zahllose christliche Sekten, sondern auch zahllose islamische Vereine, die ähnlich unterschiedliche Glaubensweisen pflegen. Die Idee, daß alle den Gott Abrahams meinen, verbindet faktisch keine einzige Konfession mit der anderen. Ökumene gibt es nicht einmal zwischen einzelnen Kirchengemeinden, wie die Verweigerungen bei der Zusammenlegung vieler Gemeinden zu größeren Einheiten gezeigt hat. Rivalität um Geldmittel oder Zulauf und Status sind stärkere Kräfte als das Wissen um einen gemeinsamen Auftrag in der Welt, die die Zerrissenheit der Kirchen nur in Krisenregionen übertrifft.

Umfrage-Ergebnisse und Wahlergebnisse zeigen aber in vielen Ländern einen tiefgreifenden Wandel des Bewußtseins in den Bevölkerungen hin zu mehr Demokratie, Freiheit und sozialer Gleichheit. Zudem bilden sich immer mehr Gruppen, die gegen die Zerstörung der Umwelt durch Raubbau an den natürlichen Ressourcen kämpfen. Die wachsende Rohstoffknappheit, steigende Rohstoffpreise und die ökologisch bedingten Zunahmen von Katastrophen erzwingen das Suchen nach nachhaltiger Energiewirtschaft und ökologischer Agrarwirtschaft. Nicht weise Voraussicht treibt dazu an, sondern die kapitalistische Logik und die Frage der Rentabilität. Atomkraftwerke haben Folgekosten, die um ein Vielfaches der Kilowattstundenpreis übersteigen. Die Langzeitperspektive ist durch diese Erfahrung mittlerweile zur allgemeinen Norm des Denkens geworden und setzt sich stetig mehr in den etablierten politischen Parteien durch. Was noch vor 30 Jahren als Sozialromantisches Schwärmertum von den Professoren aus der Hitlerzeit belächelt wurde, hat sich inzwischen in den neuen Bischöfen zu einer fundamentalen mentalen Erneuerung der Kirchen entwickelt. Diese Veränderung innerhalb der deutschen Gesellschaft und Kirchen innerhalb der letzten 30 Jahre empfinde ich als sensationell. Die Spinner von 1968 sind zu den gefragtesten Experten für die Wandlung von Produktion und Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft geworden. Ich möchte diese Bewegung des heiligen Geistes, die weit über die Kirchen hinausgeht, gerne als die eigentliche Kirche bezeichnen und die organisierte Kirche als einen kleinen Teil innerhalb der großen Kirche Gottes in der Weltinnengesellschaft. Diese umgreift auch die anderen Religionsgemeinschaften, Islam, Buddhisten, Hindus, Taoisten uvam.

Die fundamentalen Probleme des Fundamentalismus sind in allen Gemeinschaften ziemlich ähnlich. In allen gibt es Strömungen, die im Elend und Krisennot einfache gewaltbereite Lösungen im Stile des heiligen Krieges propagieren, aber auch Alternativen, die ohne einen Kriegsgott mit seinem Namen auf den Koppelschlössern der Soldaten und Gotteskrieger auskommen: Kabbalistik, Sufismus und Mystik entsprechen dem, was der Buddhismus lehrt. Es ist eine Intellektuellenreligion von solchen freien Geistern, die selbst weder morden noch morden lassen. Die folgende Arbeit demonstriert am Vergleich der Meistermystik mit der autoritären Theologie des streng erzogenen Luthers, wie sehr das jeweilige Gottesbild geprägt ist von den eigenen kindlichen Erfahrungen und somit vom Gesamt der Sozialisation. Das Gottesbild spiegelt die irdischen Verhältnisse detailiert. Es kann aber auch umschlagen in einen Gegensatz zu den irdischen Verhältnissen. Luthers gnadenlose Prügelerfahrung als Junge[5] und gnadenlose Verfolgung durch die katholische Geistlichkeit bringt ihn auf die Idee des gnädigen Gottes, der alles das nicht ist, was die Kirche an Jammertal zu bieten hatte. Hier schlägt das Gottesbild auch in Protest um gegen die vorhandenen Gottesbilder. Es sind Kampfformeln gegen einen religiösen Terrorismus der damaligen Papstkirche, die sich leider noch viel zu wenig von diesem Irrweg abgekehrt hat und immer noch die Phantasien autoritärer Charaktere[6] bedient und befriedigt.

Die Weite eines Gottes, der alles durchdringt ohne Übergriffigkeit, der alle und alles liebt, ohne es bestimmen und dominieren zu wollen, der Heimat ist und in sich birgt, was einsam und verlassen ist, kann wohl nur in sozialen Schichten gedacht werden, die zumindest teilweise dem Diktat der Produktionsverhältnisse entronnen sind. Die Klöster des Mittelalters lebten eine eigene Welt, vom Trubel der Märkte geschützt. In dieser Stille konnte sich eine zartere Erfahrung Gottes entfalten, eine Entschleunigung gegen die allgemeine Mobilmachung.

Wir sind wieder an diesem Wendepunkt angelangt. Die Mobilmachung mittels der Automobile frißt inzwischen die Amazonas-Urwälder auf im Wahn, durch Biokraftstoffe die Fehlproduktion immer größerer PKWs kompensieren zu können. Die Schwellenländer wiederholen die Fehler der westlichen Industrienationen und potenzieren das Problem. Wirtschaftswachstum durch Rüstungsexporte bildet die Krone dieser Perpetuierung ökologischer Verschwendung. Die Globalisierung läßt fast keinem Land die Möglichkeit, aus dieser Spirale des Wettrüstens, Wettproduzierens und Wett-Verschwendens auszusteigen.

Angesichts dieses Wahnsinns eröffnet die östliche religiöse Tradition, der sich so viele auch hierzulande inzwischen geöffnet haben, eine Umorientierung zu mehr Gelassenheit und weniger Gewalt. Hier liegt die Relevanz von Meister Eckhart. Seine Predigt läßt innehalten, zur Ruhe kommen, zum Nachdenken über das, was mir wirklich wichtig ist. Es ist ein Abschied von den Wertekatalogen der Betriebsamkeit, vom Mainstream, von den Werten derer, die von Grundwerten reden und die Menschen ausbluten lassen. Wachstum wird hier nicht mehr als krebsartiges Wuchern des imperialistischen Marktes begriffen, sondern als ein Hineinwachsen in eine Welt der Einfachheit und Begrenzung des eigenen Lebens(zeit)raumes, der deshalb geehrt werden kann, weil die Durchwaltung der Welt durch den Geist Gottes grenzenlos erlebt wird und die Meditation als Erfahrung der Entgrenzung und Grandiosität bereits so überbordend ist, daß jede Versorgung mit den üblichen gesellschaftlichen Symbolen der Grandiosiät (Auto, Palast, Segeljacht) als lächerlich erscheint und die Verteilung der Reichtümer in sozialer Gleichheit als beste Verehrung des Gottes, der seine Sonne über allen aufgehen läßt.

 

 


1. Zur Möglichkeit, heute Mystik zu verstehen

Es hat keinen Sinn, eine Arbeit über Mystik zu schreiben, wenn man sie nicht verstehen kann. Zu klären, ob und wie wir heute im Zeitalter der Technisierung des Geistes, der Technik schuf, ein angemessenes Verständnis der my­stischen Erfahrungen erarbeiten können, ist notwendi­ger Schritt dieses Verständnisses selbst.

Im Gegensatz zum hochgradig objektivierenden Erklären der Naturwissenschaften ist Verstehen auf die Subjek­tivität des Verstehenden, auf die ganze Breite der Erfahrung des Verstehenden angewiesen. Damit ist ein nur geringer Objektivationsgrad möglich. In diesem Dilemma der Unmöglichkeit stärkerer Objektivität be­findet sich jede Geisteswissenschaft.

Verstehen basiert auf ‘mimetischen Nachkonstruktionen’[7], Erklären auf Hypothesen. Im Verstehen verschmelzen Lebenserfahrung und Theorie: „aus der Fülle des eige­nen Erlebnisses wird durch eine Transposition Erlebnis außer uns nachgebildet und verstanden.“[8]

Schon sich selbst zu verstehen, ist ungemein schwer. Ein Gedicht zu verstehen, in äußerster Betroffenheit von Glück oder Schmerz geschrieben, ist nach Tagen, wenn die Situation anders geworden ist, schon fast unmöglich: das Gedicht vermag zwar Betroffenheit zu allgemeinsprachlicher Objektivation zu heben, diese führt aber nicht umge­kehrt den Leser wieder zur ausgänglichen Betroffenheit zurück. Schon intrasubjektiv ist Verstehen der eigenen früheren Texte schwer, man merkt, wie sie fremd ge­worden sind. Intersubjektiv dürfte dies noch erschwert werden durch die fehlenden intimbiographischen Infor­mationen, die noch beim intrasubjektiven Verstehen geschichtlich gewordenen Eigenerlebens vorliegen.[9]

Intersubjektives Verstehen miteinander kommunizieren­der Wesen ist durch gemeinsame Informationsgrundlagen möglich, dh gemeinsame Lebenssituationen und Lebens­erfahrungen und gemeinsame Sprache (die ja geronnene Lebenserfahrung ist), die sich durch die etnische Kulturgenese konstituiert und durch die Lebensgemein­samkeiten der Kommunizierenden auf die Verstehenssituation präzisiert werden kann. Verstehen basiert auf der dialektischen Vermittlung des ganzen mensch­lichen Verhaltens - vermittelt durch Kulturgemeinschaft und individueller Lebensidentität.

Die Verwobenheit von Allgemeinem und Besonderem, Ge­sellschaft und Individuum führt zu einer nahezu aporetischen Schwierigkeit von Erfahrungsausdruck und Erfahrungsverstehen: „das hermeneutische Verstehen muß in unvermeidlich allgemeinen Kategorien einen unveräußerlich individuellen Sinn erfassen.“[10] Bei Texten fremder Kulturtradition fremder Zeit aus fremden gesellschaftlichen Verhältnissen summieren sich die Faktoren, die Verstehen verunmöglichen.

Möglich ist, die Sinnstruktur mystischer Texte dar­zulegen. Das ist ein literarisches Verstehen, was zur Sondierung und Präparation der Informationen Eckharts über seine mystischen Erfahrungen beiträgt. Es bleibt dabei aber ein innersprachliches Unternehmen und berührt die Erfahrungen selbst noch gar nicht.

Mystische Rede ist Objektivation mystischer Erfahrung. Das Verstehen mystischer Rede ist Voraussetzung zum Verständnis der darin objektivierten mystischen Er­fahrung. Das Verstehen mystischer Erfahrung hingegen ist nur möglich, indem man sie erfährt. Mystische Erfahrung verstehen heißt: sie erfahren. Wir kommen zu einem mehrschichtigen Modell des Verstehens früherer Texte:

 

Text

Verstehen der Sinnzusammenhänge auf der Basis gemeinsamer Sprachzusammenhänge: „literarische Hermeneutik“

Autor und

Erfahrung

Verstehen der individuellen Lebenssituation auf der Basis biografischer Informationen

Verstehen der objektivierten Erfahrung auf der Basis individuellen Nacherlebens

historische Situation

Verstehen der Faktoren, die zur Entstehung solcher Erfahrung beitrugen, auf der Basis sozioökonomisch-sozialpsychologischer Deutung historischer Information aus der Zeitgeschichte

primäre Einwirkungsrichtung von unten nach oben (Entstehungsgeschichte des Textes)

sekundäre Wirkungsrichtung von oben nach unten als Rück-/Auswirkung (Wirkungsgeschichte von Text und Autor)

Für die Arbeitsmethodik ergäbe sich hieraus folgender Set von Untersuchungsgängen:

1)     Information zur historischen Situation, in der ein Autor sozialisiert wurde, Erhellung des zeit­geschichtlichen Hintergrunds

2)     Biographische Angaben zu Autor und Hörerschaft

3)     Literarische Erarbeitung der Textinhalte

4)     Verstehen der außersprachlichen Erfahrung, die im mystischen Text sprachlich objektiviert ist, durch übersteigende Erfahrung in der Subjektivität

5)     Auswirkung des Textes und/oder des Autors auf seine Zeitumwelt durch Erarbeitung historischer Informa­tion

 

Bei allen diesen Arbeitsgängen befinden wir uns in dem Dilemma ungenügender Informationen bzw ungenügen­der Aneignung von an sich genügenden Informationen. Besonders das Problem der ungenügenden Aneigung der an sich zu Genüge vorliegenden Informationen muß mit Notwendigkeit der Fehler jeder Seminararbeit sein.

Das (von Dr. Horst Laubner 1974) vorgegebene Thema, ein Vergleich von Eckharts unio-Begriff mit dem des fröhlichen Wechsels bei Luther, wäre unexakt behandelt, würde man sich auf eine rein literarische Aussäuberung des Begriffsfeldes einlassen. Mindestens auf der Ebene semantischer Bedeutungsgehalte wäre der geschichtliche Bezug notwendig herzustellen, um gedankliche Sachgehalte zu erkennen und nicht nur vor einem quasimathematisch-logischen in sich ruhenden Begriffe-System ohne jeden Bezug zu etwas anderem zu stehen.[11] Darum kommt Luther im Rahmen des obigen Schemas der Verständniserarbeitung der unio Eckharts unter die Wirkungsgeschichte Eckharts zu stehen, also Kapitel 5. Umgekehrt käme in einer Untersuchung über Luther die unio-Erfahrung unter Punkt 1 zu stehen als ein Moment innerhalb der his­torischen Prädispositionen des Denkens Luthers.

In dieser Arbeit steht Meister Eckhart im Mittelpunkt, da mir die mystische Erfahrung zu verstehen vordring­licher erscheint als die allgemein geläufige Theorie der Bräutigamschristologie Luthers. Luther erhält hier also Nebengewicht, wird unter Kapitel 5 der Eckhart-Deutung abgehandelt.

1.1. Kontemplation und Arbeitsalltag. Gott gibt Ruhe

Der Akt der Vereinigung Gottes mit dem Menschen ist Regression in prähistorische und ontogenetisch zu­mindest pränatale Einfachheit des Seins. Diese Ein­fachheit und Ungeschiedenheit hat sich im Weltprozeß nur durch Entäußerung und Zurücknahme bewahren können. Für das Bewußtsein der im Rahmen der kulturellen Entwicklung in die Individualität getrie­benen Menschen bedeutet der Vereinigungsakt zugleich Aufhebung ihrer individuierten Existenz in ein Ganzes. Darin verschmilzt ihr Ich mit dem Nicht-Ich Gott. Solche Ichdiffusion ist ambivalent erfahrbar, teils als befreiende Entgrenzung des Ich aus seiner zur Fessel gewordenen Kreatürlichkeit oder sozialen Si­tuation, teils als bedrohliche Zerstörung des Iden­titätsgefüges, durch das die Persönlichkeit ihren Zusammenhalt hilfreich erfährt.

Regression ist das Zurückgehen in einen früheren Seinsstand. Regressionszustände sind z.B. Schlaf, Sexu­alität und Spiel. Sie dienen psychophysischer Rekonstitution des Individuums. Ohne Regressionen wäre kein Fortschritt.

Die Materie ist in Sein und Bewußtsein gespalten seit der Schöpfung. Materie ist immer schon geistvoll strukturiert und assoziiert. Die Beziehungen der Elementarteilchen sind von Anbeginn logisch und entwickeln sich nach einer immanenten quantenmechanischen Beziehungslogik.(Hans Peter Dürr). Materie ließ diesen uranfänglichen holistischen Beziehungs-Geist der Elementarteilchen als Formgestalten, Relationalitäten von Partikeln zu einer allmählich immer mehr sich verselbständigenden Subjektivität aus sich heraustreten. Geist ist materiegebundener Form-Teil der Materie. Seine Selbst-ständigkeit erweist Geist in seiner Fähigkeit, sich die Materie zum Objekt zu machen, sich die Erde unter­tan zu machen (Gen 1,28). Durch die Emanzipation des sich vergeistigenden Menschen von der Mutter Natur wird historisch die Geist/Materie-Polarisierung iden­tisch mit der Subjekt/Objekt-Aufspaltung. Der Denk­fehler des Subjekts bei seinem neuzeitlichen Objekt­bewußtsein von der Natur ist hierbei, den subjektiven Faktor der Natur zu übersehen. Mindestens als innere Natur rächt sich diese Subjekt/Objekt-Spaltung, indem die innere Natur über den Geist Macht besitzt und ihn treibt, ohne daß er dessen bewußt wird. Vereinigungserfahrung antizipiert die von der jüdisch/christlichen Apokalyptik prognostizierte sog. endzeitliche Universalversöhnung von Subjekt und Objekt, Mensch und Gott (der in der Scholastik Objekt des Denkers wurde), Natur und Mensch und Gott und Natur.

In diesem universalhistorischen Horizont von Entäu­ßerung und Zurücknahme des Menschen aus der einfachen Identität mit der Natur in Gott über die als Sünde erfahrene entfremdende Emanzipation aus Naturkausa­lität und Gottgemeinschaft in die endzeitliche Wieder­vereinigung von Natur, Mensch und Gott (Reich Gottes) mit Gott und Christus als „Alles in allem“(mit den paulinischen Panta-Formeln) kommt der unio-Erfahrung aller Mystik eine diese Universalversöhnung antizi­pierende, individuell und fragmentarisch antizipieren­de Bedeutung zu. Für den Akt der unio ist das Objekt aufgehoben. Unter dieser Prämisse bleibt Mystik auch heute noch gültige religiöse Erfahrungsform. Ihre Wahrheit liegt im Vorscheincharakter eines vom Ich befreiten Lebens. Solche Hoffnung hat sich bis in die Romantik (Böhme) hinein gehalten und darum wird sie heute des (hegelschen) Idealismus und der sozial­romantischen Fehlanpassung an die Grunderfordernisse der positivistischen Neuzeit bezichtigt. Gleichzeitig mit der Regression hinter die hominide Emanzipation aus der Natur zur Vereinigung mit dem verlorenen Ursprung (Gott) entsteht aber durch die unmittelbare Gottgeborgenheit ein „indirektes Ver­hältnis zur Welt und dadurch Freiheit“.[12] Mystik eröffnet individuelle Freiheit gerade durch die Erfahrung der Entgrenzung des Individuums in Gott hinein.

Die religionsphänomenologische Bedeutung von Kult­spiel und Ekstase ist Neuschöpfung, Aufhebung des Objekts und des zugreifenden, verfügenden Denkens, Intensivierung der Lebenssensibilität, Selbsttranszendierung zu Offenheitsbereitschaft, Gewahrung der eigenen Endlichkeit durch Eingang ins Unendliche, Partizipation an kosmischer Totalität und zuletzt „Welterschließung durch ‘Vergegenwärtigung’ des Ge­samtzusammenhanges“.[13]

Der religiöse Mensch will „mit der Ursprungsmacht dahinter eins... werden, um von ihr neu geschaffen zu werden. Diese Macht ist aber nicht ein Entfern­tes“[14]. Diese Macht, das „Totum geht in einen Teil seiner selbst zurück und überhöht dieses innerweltliche Stück durch den Rückschein des Ganzen.“[15]

„In den mit den Ursprungsmächten vereinigenden Kulten dringt... der Mensch tiefer in die Welt ein, als deren Teil er sich weiß, und in diesem Eindringen, das bes­ser ein Einsinken zu nennen ist, leuchten die Qualitäten intensiv auf.“[16] „Im kultischen Spiel wird der Mensch endliches und zugleich unendliches Wesen und bringt diese Einheit als vergegenwärtigendes Anschau­en des Welttotums zustande.“[17] Der Mensch hat laut Kutzner nicht nur Teil an der Unendlichkeit, indem er sich mit ihr konfrontiert in Anschauung des Univer­sums unter kantiger Erkenntnis der Erhabenheit, sondern er ist selbst unendlich, also göttlich und kann sich vermöge seiner eigenen Göttlichkeit nun mit Gott ver­einigen. Die Spezifikation des Universums als gött­lichem erhält sich bis hinein in die göttliche Men­schenseele als das noch Offene, über sich hinaustrei­bende Drängen von Welt, Gott und Mensch. „Der Mensch war als Selbstübersteigerung, als Bewegung eines Transzendierens, eines Aufschwunges gedeutet: er verblieb nicht in sich, war nicht eingekapselt in seiner Egoität, er war gedacht als ein Lebewesen, das immer mehr ist als es selbst, das in seiner Sehnsucht brennt und seine höchtete Möglichkeit in der enthusiastischen Entrückung hat.“[18] Obgleich diese allgemeinen Bestimmungen religiöser Ekstase sich in ihrem Kontext primär auf kultische Formen wie Orgie, Rausch, Tanz, Drogen,  Fasten, Hyp­nose, monotone oder aufpeitschende Musik, Gebimmel, Lärm, Bewegung, Trunkenheit und Rhythmus bis hin zur Menschopferung beziehen, wird sich ihre Gültigkeit auch für die spiritualisierte christliche Mystik erweisen. Wir sollten uns daher die Unterscheidung von Symptom und Wesen, Form und Inhalt, Ausdruck und Sache dergestalt aneignen, daß wir den Rückgang in die Vereinigung mit Gott als Wesen der Ekstase beschreiben, der konkreten religionspragmatischen Realisation dieses Strebens aber einigen Handlungs­spielraum lassen, von Plotins Weg in das Eine, der Hermetik, der Gnosis und Kabbalistik, vom Hinduismus und Buddhismus, Zen bis zum mittelalterlichen Mystik. Eine Vergeistigung ist für die christliche Mystik des Mittelalters nicht durchgängig ersichtig, sie findet sich aber in der Meister­mystik, deren Vertreter aristokratische Prägung hatten und dadurch ohnehin zur Spiritualisierung tendierten.

Ekstatische Erfahrung der Ruhe in Gott drängt in der Zerrissenheit des Alltags auf Wiederholung. Solche Wiederholung von Ekstase findet bei Naturvölkern in institutionalisierten Festen statt, die durch Jahreszeitgebundenheit eine zusätzliche Punktion erfüllen: „Im Kultspiel hat die Ichdiffusion die gesellschaftliche Funktion der verbindlichen Zeitstrukturierung“.[19] Die Himmelsreise-Berichte der Gnostiker sind Einladungen zur ekstatischen Rückkehr in die Himmelsheimt. Der mittelalter­liche Mystiker wollte auch mehr erfahren und blieb nicht beim ersten Mal. Besonders in der Frauenmystik wuchs die religiöse Sehnsucht zur Sucht nach Vereinigung mit Gott und nahm laut Wentzlaff-Eggebert pathologische Züge an.[20] Die Gefahr der Übertreibung liegt in jeder ekstatischen Betätigung. Über das rechte Maß entscheidet der Theologieprofessor, der unversehens das Amt des Psychiaters übernimmt. Immerhin gibt es die physische Grenze: Wer nur noch meditiert und nichts mehr ißt und trinkt, tritt die gewünschte Himmelsreise für immer an. Daher ergibt sich als Aufgabe die Vermittlung von

Ekstase                            mit      Handeln

Fest                                 mit      Alltag

Spiel                                mit      Arbeit

vita contemplativa             mit      vita activa

Ästhetik                           mit      Ethik

Theorie                            mit      Praxis

Innen                               mit      Außen

Unio                                mit      individueller Verantwortung

Gottesliebe                       mit      Nächstenliebe

Regression                       mit      historischem Progress

Hinreise (Sölle)                mit      Rückreise

Vergeistigung                   mit      Kreatürlichkeit

ewigem Nun                     mit      ziehendem Jetzt

innerer Freiheit                  mit      Offenheit für andere

Unsagbarkeit                    mit      Verbalkommunikation.

Ein Modell ist dabei schlechthin undenkbar: daß man per Befehl die Vermittlung bewerkstelligen will, indem von außen her die linke Seite limitiert wird und nur noch die rechte Seite erlaubt ist. Einzig aus sich selbst heraus ist die linke Spalte fähig, in ihren Gegenpart umzuschlagen: wer ausgeschlafen hat, will an die Arbeit; die gelungene Resurrektion drängt auf Produktion; wer hingereist ist, will zurück; wer von Gott voll ist, muß zu Menschen; wer tief genug nach innen vorgestoßen ist, zieht sich wieder heraus. Zur Alternative steht hier nur eine Dialektik der Periodizität, also ein Latenz-Präsenz-Wechselspiel, oder die doppelsphärische Gleichzeitigkeit.

1.2. Mystik als Erwachen des Subjekts vom Dogmatismus

Als letzte Eigentümlichkeit christlicher Mystik sei ihr Hang zur Häresie genannt. Unio ist ohne Kirche, wenn auch nicht ohne Gott, möglich. Sobald Mystik zur Massenbewegung wird, fürchtet die Kirche um ihren Mittlerstatus zwischen Gott und Kirchenvolk. Darum war sie aus Selbsterhaltungsdrang gezwungen, die mystischen Ströme als häretisch zu etikettieren und teilweise mit aller Folterkunst des Mittelalters auszumerzen. Mystik wurde zur Autono­miebewegung des Kirchenvolkes. Die mystische Kommunikations­basis war deutsche Sprache, die erstmals dem Volk durch die großen Mystiker aufbereitet wurde. Das Volk konnte in seiner eigenen Sprache religiöse Erfahrung kommunizieren, war auch darin nicht mehr auf die klerikale Vermittlung angewiesen. So ist aus der Mystik eine Bewegung geworden, die sich auf breiter Massenbasis im Volk abspielte und eine erste, wenn auch ohnmächtige Emanzipation von Adel und Klerus initiierte. Dieser häretische Zug ist das beste, was das Christentum hervorgebracht hatte und nahezu jeder Häretiker ist bis jetzt noch später zum Heiligen ge­worden. Häresie will Reformation. „Nach kaum einem weiteren Jahrhundert steht Luther in der Linie der Mystik und beruft sich auf Tauler und die ‘Theologia Deutsch’, ehe er zum offenen Kampf gegen Rom vorgeht.“[21] „So trägt die Mystik auch im Geschichtszusammenhang gesehen einen kirchlichen Reformcharakter und bricht als Reformbewegung in die deutsche Geistesge­schichte ein.“[22] „Was die Mystik angeht, so weiß man, wie abhängig die Reformatoren des 16. Jahrhunderts von ihr waren; auch Müntzer hat viel aus ihr genommen“.[23]„Das ist die Einheit, worin die Mystik alle ihre Kinder sah, eine Einheit, die die Religionen aufhob, indem sie den Schnitt zwischen Ungläubigen und Aus­erwählten quer durch die einzelnen Religionen vollzog. Dazu gehörte allerdings die große Volksbewegung, wie sie seit den Albigenserkriegen im zwölften Jahrhundert begonnen hatte und im deutschen Bauernkrieg kulminierte: die Fülle der Auserwählten ging, wie ehemals die Jüngergemeinde, als Einheit im Volk um, nicht unter Herrenpfaffen, gar Fürsten.“[24]



2. Frühe Mystik als Praxis der Oberschichten

Gewaltsam trennbar wäre zwar der soziale Faktor der Eckhartschen Genese vom theologischen, es käme aber auf den Nachweis ihrer Zusammengehörigkeit an. Abge­handelt werden:

Bernhardinische/ Victorianer Mystik,

Armutshäresie/ Bettelorden,

Hochscholastik/Volksfrömmigkeit,

Papst-Kaiser-Konflikt,

Zeitnöte/Geißlertum,

häretische Mystik/Frauenverklösterung, Frauenmystik.

2.1. Bernhardinische und Victorianer Mystik

Mit Anselm von Canterbury (1033-1109), der die Notwendigkeit der Existenz vom Begriff Gottes herleitete und unter aller Anstrengung des Begriffs den Primat des Glaubens vor der Vernunft dozierte, begann Scholastik. Verinnerlichung und Individualisierung der monastischen Frömmigkeit gipfelt in Bernhard von Clairvaux (1115-53). Der Adelige versuchte in Mönchsdemut eine „nicht rationale Begründung des Glaubens“.[25] Er praktizierte eine „von der Kreuzzugsbewegung“[26], die er selbst mitorganisierte[27], „inspirierte ‘Ecce-homo’-Frömmigkeit mit ihren Kruzifixen in Kirchen und Mönchszellen“[28]. In seiner ‘Christus-Devotion’ rezipiert er die über den Neuplatonismus, Areopagita zu Hugo gelangte fernöstliche Mystik und modifiziert sie wie folgt:

 

1)     Meditation über Jesu Niedrigkeit und Kreuzespein

2)     Abtötung von Wille/Sinneslust - Reinigung für Gott

3)     „Kuß des Bräutigams“, die „Gottesvereinigung als mystische Ekstase; in ihr wird das Gegenüber von Subjekt und Objekt... aufgehoben, weil Urbild und Abbild ineinander aufgehen. Allerdings bleibt dem mystischen Erlebnis nicht die Ernüchterung erspart, da der Christ weiterhin... in einer Welt lebt, die sich selbst liebt, und damit von Gott abwendet.“[29]

 

Daneben widmet sich Bernhard der „religiösen Erotik“[30] und hält massenhaft im Symbolismus „personaler Brautmystik“[31] christologisierte Hohelied-Predigten. „Er gewann dank seiner Erfahrungstheologie“ „das Ohr breiter Massen“[32] und wurde „Ratgeber der Päpste und Fürsten“[33], also eine „führende religiöse Persönlichkeit seiner Zeit“[34].

Für Petrus Abaelard, einen kritischen Scholastiker, erwirkte er Lehrverbot[35] und rief zum Kreuzzug auf. Der andere Mystik-Typus wurde von den Insassen des von Wilhelm von Champeaux (gest 1121) in Paris ge­gründeten Chorherrenstifts St. Victor entwickelt. Gegenüber dem bernhardinischen Irrationalismus stan­den sie in rationalistischerem Verhältnis zu ihrer mystischen Erfahrung. Der von Pseudo-Dionysius Areopagita christlich rezipierte Neuplatonismus bewirkte um 500 erstmals eine mönchische Mystikwelle[36] und wurde von Hugo von St. Victor (1097-1141) mit der scholastischen Dialektik zu einer „Analyse des reli­giösen Erlebens“ vermittelt.[37] Bernhard und Hugo haben sich gegenseitig beeinflußt. Hugo übernahm von Bernhard die Liebesmystik, Bernhard von Hugo die areopagitische Tradition.[38] Auch in der Victorianischen Kontemplationsmystik gibt es die Dreistufenmystagogie:

 

1)     cogitatio

2)     meditatio

3)     contemplatio

 

Dem areopagitischen Mystikerleben eignet ein high-down-feeling. „Wie man hier die Welt sich vorstellt als ein von der Materie durch das Geistige hindurch zu den über­weltlichen Mächten und schließlich zur Gottheit emporführendes System, so richtet der Mystiker auf die Dinge in eben dieser Reihenfolge seine Kontemplation, um schließlich in der Ekstase für wenige Augenbliche das wallende Gefühl der Berührung der Seele mit dem Absoluten zu erleben, einen Genuß, den er freilich mit der starken seelischen Depression erkaufte, die in der Mystik regelmäßig dem höchsten Erlebnis folgt.“[39] Hugos Schüler Richard von St. Victor (gest 1173) setzte die Aufgabe fort, Glauben und Wissen zu versöhnen, mit scholastischer Vernunft die mystische Erfahrung zu reflektieren. „Der Gegensatz zwischen Scholastik und Mystik darf überhaupt nicht überspannt werden.“[40] Diese beiden mystischen Stränge setzten sich „aus­schließlich in den Klöstern“ fort[41], wurden also keineswegs zur Volkstradition.

2.2. Kirchliche Armutsbewegungen im 12. Jahrhundert als Protest

Die Armutsbewegungen des 12. Jahrhunderts haben sich weitgehend kirchenkritisch formuliert und organisiert. Mindestens ein sicheres Indiz dafür bildet die kirchliche Reaktion: Kritik wird unter dem Ettikett ‘Häresie’ liquidiert. Katharer und Waldenser rekrutierten sich aus Adel, Klerus, Mönchtum, Handwerk und Bauernstand.

In radikaler Askese und absoluter Armut[42] zogen die Waldenser ab 1176 als Wanderprediger herum und riefen zur Umkehr. „Die Eigentümlichkeiten ihrer Verkündigung flossen teils aus dem Gegensatz zur Hierarchie, teils aus der Hochschätzung der lex Christi“.[43] Mit ihrer Armut protestierten sie gegen die Weltlichkeit der Papstkirche, die machtpolitisch und ökonomisch sich an der Bevölkerung unschädlich-schadlos hält.[44] Arnold von Brescia (um 1147 in Rom) forderte die verweltlichte Kirche auf zur Rückkehr zur apostoli­schen Armut. Er wurde, da er mit seiner Forderung in Rom auf Massenbasis stieß und Erregung im Volk auslöste, gejagt, gefangen und hingerichtet.[45] Die Kirche versuchte, mit den kirchenkritischen Armuts­bewegungen zu einer Lösung zu gelangen, immer wieder gerne zu einer Endlösung in Form einer Erlösung von Leben. Die Doppelstrategie verdient Beachtung im Hinblick auf neuzeitliche Politik: Integration durch die Bettel­orden einerseits und, wo dies nichts nützte, Inqui­sition, also Ausrottung andererseits.[46] In den Mendikanten haben wir eine „heimatlose, straff zentralistisch geleitete, stets schlagfertige und un­gemein bewegliche Hilfstruppe des Papsttums“[47] vor uns. Die „Verkirchlichung der Armutsbewegung“[48] sollte der außerkirchlichen Armutsopposition den Wind aus den Segeln nehmen, dadurch, daß die gleiche Leitvorstellung (imitatio des Vorbilds Christi und der bettelarmen Apostel) nun von der Kirche selbst praktiziert wurde.

Die andere Methode: Barbarossa kann bewegt werden, 1184 staatliche Ketzergesetze zu erlassen, auf Häresie erfolgt Reichsbann, 1197 wird in Aragon auf Häresie Todesstrafe gesetzt.[49] 1209 beginnt die Zeit der 20jährigen Albingenserkriege. 1216 gründet Dominikus in päpstlichem Einverständnis einen Missionsorden, der Albingensermission treibt, 1220 zum Bettelorden gemacht wird und nach erfolgloser Albingensermission zur Albingenserinquisition fort­schreitet; nach dem Ketzererlaß 1231 von Papst Gregor IX., der Scheiterhaufenverbrennung und Sippenhaft einführt, erhält der Dominikanerorden 1232 das Monopol für die Inquisition und meistert die Aufgabe. 1252 erweitert Innocenz IV. das Programm der perfekten Befragungs­techniken um die Folter.

Unter den Bettelmönchen tat sich Franz von Assisi hervor, der in vorbildlicher Demut und Armut die weitaus meisten Nachfolger fand. Während sich die Dominikaner primär aus höheren Schichten rekrutierten, fanden die 1210 zum Orden anerkannten Franziskaner starke Verbreitung und Beliebtheit im Volk. Ab 1223 bettelte sich der Orden missionierend durch Italien. Sie wurden zwar vom Papsttum privilegiert aber in späterer Zeit sogar teilweise für häretisch erklärt, weil das Armutsideal, sofern radikal verfolgt, eine Papstkritik impliziert. „Johannes XXII. verhängte über die Spiritualen 1317 die Inquisition und erklär­te 1323 ... die Meinung, Christus und die Apostel hätten kein gemeinsames Eigentum besessen, d.i. die theore­tische Grundlage des Franziskanertums, für häretisch. Das rief den Widerstand fast des ganzen Ordens und eine heftige literarische Fehde hervor. ... Die Mehr­heit der Minoriten kehrte 1329 zum Gehorsam zurück.“[50]

2.3. Die Hochscholastik als Streitforum zwischen Arm und Reich

Sowohl Dominikaner als auch Franziskaner stellten Lehrer für die Universitäten Paris und Bologna. Mit ihnen kam die Scholastik zum Höhepunkt. Dabei repro­duzierte sich die Kluft zwischen Dominikanern als kirchentreuen Inquisitoren und Franziskanern als den tendenziell institutionskritischen Häretikern im Lehrstreit zwischen Thomismus und Scotismus fort. Bei Alexander von Hales, Bonaventura und Duns Scotus, den franziskanisehen Vertretern des Streits, wird keine adelige Herkunft angegeben, wie sie Albertus magnus und Thomas von Aquin, die gebildeten Dominika­ner, nachweisen können.[51] Die Aristoteles-Rezeption war allen gemeinsam. Verkürzt könnte man dem Thomismus eine Betonung der Objektivität von Religion, dem Scotismus eher eine Primatisierung der Subjektivität zuordnen - aber diese Zuordnung gilt nur eingeschränkt. In Stichworten als Schema:

Thomas     
Duns Scotus

Gott ist Sein

Gott ist Wille

Gewissen geleitet von Vernunft

Gewissen determiniert vom Willen

Christi Werk ist objektive Heilstat

muß von Gott akzeptiert werden

 

Es ist schon aus der Stellung der Dominikaner zur Papstkirche verständlich, daß nicht Duns Scotus, sondern Thomas zur normativen Kirchentheologie erhoben wurdet[52], und die innertheologische Evidenz dafür, daß Thomas die göttliche Wahrheit besser vertritt als Duns, ist vermutlich unwichtig für den historischen Sieg des Thomismus. Leider ist die Vermutung eines inneren Zusammenhangs zwischen dem scotistischen Willenspri­mat und der im Vergleich zur dominikanischen Missions- und Inquisitionspraxis ungemein höheren Willenserfordernis in der radikalen Armuts- und Demutspraxis der Franziskaner mit den hier verfüglichen Erkenntnismitteln weder veri­fizierbar noch valsifizierbar. Die Dominikaner waren mehr in Klosterpredigt, die Franziskaner mehr in Volks­predigt engagiert.[53] Die klösterlichen Bildungs­voraussetzungen, in die hineingepredigt wurde, waren natürlich ungemein höher als die im bäuerlichen Volk, das weder lesen noch schreiben konnte und für das die Scholastik völlig unzugänglich war. In dem dominikanischen Desinteresse an Volkspredigt, mithin Volks­bildung und im weitesten Sinne Volkaufklärung offenbart sich die Erfahrung, daß es der Herrenkirche umso besser geht, je unmündiger das Volk ist. Bis heute ist das so, bei allem gern eingestandenen „Strukturwandel“. Die Franziskaner Antonius von Padua und Berthold von Re­gensburg wirkten auf breiteste Volksschichten und hatten riesigen Andrang zu ihrer Predigt.[54] „Das hängt jedoch nur sekundär damit zusammen, daß sie weithin aus den sozial niederen Sichten stammten. Es erklärt sich in erster Linie aus der spezifisch missi­onarischen Einstellung des Ordens, die ihn von der mehr defensiven Haltung der Dominikaner unterschied.“[55] Unter diesem Aspekt ist später die Predigtwirkung Meister Eckharts zu betrachten.

2.4. Feudalismus und die Frömmigkeit der Armut

Sowohl Volksfrömmigkeit wie Frauenemanzipation zur Zeit Eckharts[56] bedürfen für den Ausweis der Zeitbe­dingungen Meister Eckharts noch näherer Ausführungen. Die Papstkirche hatte vor, „die abendländische Universalkirche zu einem theokratischen Universalstaat umzugestalten“.[57] Sie wollte das Kaisertum abschaffen und durch päpstlichen Totalitarismus ersetzen, aus Gottesstaat und Reich der Welt eins machen. Nach dem päpstlichen Sieg über die Stauffer (1268 Hinrichtung Konradins in Neapel) nahm die Papstkirche eine absolu­te Vormachtstellung in Europa ein, bis ca 1303 Bonifatius VIII. vom schönen Philipp IV. aus Frankreich gefangen wurde und bald vor Schreck starb.[58] Von 1309 bis 1377 wanderten die Päpste nach Avignon in die sog. „babylonische Gefangenschaft“ aus. Damit war die Papstherrschaft über Europa zu Ende. Bonifatius VIII. „liebte es, durch großen Prunk zu bekunden, daß er der Herr der Welt sei“[59]; als Reaktion auf den Reichtum von Papst und Bischoftum, an dem allerdings nicht der niedere Klerus teilhatte, darf die oben beschriebene Armutsbewegung gewertet werden. Es drängte zu einer Reform der feudalen Herrenkirche, deren reale Macht und damit die Glaubwürdigkeit ihres theokratischen Vorhabens und der darin implizierten Legitimation des klerikalen Wohlstandes dahingesunken war. „Zugleich wird die Zeit durch Verwüstungen erschüttert und erschreckt durch furchtbare Naturkatastrophen, Erdbeben und Überschwemmungen, durch das Gespenst des schwarzen Todes, das durch die Lande zieht und im Motiv des Totentanzes, das damals erstmalig in der Kunst ge­staltet wird, so schauervoll an die Hinfälligkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen gemahnt. Es war jene Zeit des „Herbstes des Mittelalters’, in der eine an Körper und Seele gefolterte Menschheit die Schauder des Todes und der Verwesung zutiefst erlebte und durchkostete.“[60] Pest, Dorf- und Stadtbrände schufen im Verein mit Erdbeben und Überschwemmungen Hungersnot, die so groß war, daß manche Leute ihre Nachbar töteten und verspeisten.[61] Diese Leiden erinnerten an die apokalyptischen Zeichen der Bibel und es entstand verstärkt eine große Furcht vor dem Gericht Gottes, dessen Vorschein die Zeitleiden zu sein schienen. „Die Vorstellungen vom Fegefeuer und von den Höllenqualen und der Schmerz über die eigene Sündhaftigkeit wirkten mit so unbezwinglicher Gewalt, daß das plötzliche Umschlagen überschäumender Lebens­lust in Weltentsagung und rastlose Sorge um das ewige Heil häufig vorkam. Die Sündenvergebung suchte man durch gute Werke zu verdienen: durch Fasten, Almosen, unermüdlich wiederholte Gebete, Wallfahrten, Bau von Kirchen und Kapellen, Stiftungen, Selbstgeißelung, Kreuzfahrt, Eintritt ins Kloster.“[62] Psychoanalytisch betrachtet finden wir das so häufige Symptom des Manisch-Depressiven. Nichts anderes sagt der Begriff der starken seelischen Erregbarkeit aus: Mit der Fähigkeit zur Freude nimmt proportional auch die zur Trauer zu. Gesteigerte Lebensintensität ver­einigt in sich beide Tränensorten, Schmerz- und Freu­dentränen. „Die starke seelische Erregbarkeit äußerte sich in der Neigung zum Visionären und Ekstatischen, sowie den Massenerregungen, die der Kreuzzugsgedanke (im 13. Jh. freilich nur noch in starker Abschwächung) oder auch die Geißlerzüge hervorriefen.“[63] Den Kreuzzügen der Reichen entsprachen die Romwallfahrten der Armen. Ohne Pferd war Rom leichter als Jerusalem zu erreichen.

Zum einen ist in der Volksfrömmigkeit das Prinzip der „Manifestation“[64] zu bemerken. Die ungebildeten Bauern verstanden nur, was in ihrem Horizont lag. Das durch digitale Perfektion errungene Reflexionsdenken war ihnen, die mit Feldarbeit und praktischer Vernunft betraut und begabt waren, unzugänglich und darum ver­standen sie in ihrem Horizont: nur was auf der Hand lag, existierte real. Real war, was greifbar, sichtbar war. Begriffe der Scholastik waren ihnen nicht greif­bar. Spekulative Vernunft gab es bei ihnen nicht, dafür eine gewisse Art praktischer Vernunft. Greifbare „Be­griffe“ waren für sie Reliquien, Vorbilder guter Menschen, die als Heilige verehrt wurden, einschließlich der Gottesmutter Maria, die keinen göttlichen Zorn hatte, sondern nur Gnade und Milde, die Urpotenz der gebären­den, lebens-, milch- und liebespendenden Frau. Auch Sakramente waren greifbar/griffbereit. Spekulatives Element in allem Realismus war der starke Wunderglaube. Ökonomisch tat der Kirche der Ablaßhandel gut, wo aus dem von guten Taten Heiliger gespeisten Gnadenschatz der Kirche Pluspunkte zum Ausgleich der durch die Sünde bewirkten Verschuldung bei Gott gekauft werden konnten. Davon konnte der Papst sich schöne Feste machen. Und der Bauer hatte ein gutes Gewissen. Man sollte diese für wenige leib- und für viele serelsorgerliche Funktion des Ablaßwesens als Vergebungs-Placebo gerade auch im Luthertum hochschätzen, wenn auch der theologische Gehalt reiner Bluff ist. Die innere Erregbarkeit mag mitbedingt sein durch die äußeren Katastrophen und Aufregungen des Zeitalters. Mit der Mariaverehrung wurde die Stellung der Frau insgesamt in ein besseres Licht gerückt. Es scheint, als ob in jener Zeit das Ansehen der Frauen stieg. Damit hängt dann die Bildung der Frauenklöster indirekt zusammen. Die Frauen bedurften eines gewissen Selbst­bewußtseins, um sich in die Klöster hineinzukämpfen.“[65]

2.5. Die Autoaggression der Geißler als Prototyp des Glaubens

Die Volksfrömmigkeit kam jedenfalls ohne kirchliche Vermittlung nicht aus und war im Bereich des Greif­baren, äußeren Erlebens angesiedelt, innere Erfahrung und erst recht innere Symbolbildung, die Voraussetzung für Mystik, war dem einfachen Volk nicht möglich. Und trotzdem gab es innere Erfahrungen. Die Führer der Geißlerbewegung beriefen sich auf Visionen, ähn­lich den etlichen Berufungsvisionen der Propheten.[66] Im Geißlertum haben wir den Versuch einer praktischen Gemeinschaft mit Christus; das Blut verband die Brüder. Leidensimitation und andererseits auf dem Hintergrund der Interpretation der Zeitleiden als apokalyptischer Vorstufe des Weltuntergangs und Weltgerichtes ein Versuch, den Zorn Gottes durch Antizipation der erwarteten Strafen zu beschwichtigen. Im verinnerlichten Straf­bedürfnis der Geißler offenbart sich der paranoide -Mechanismus der Mimesis des Gefürchteten. Natürlich waren beim damaligen Wissenschaftsstand die Zeitnöte gar nicht anders als religiös und deshalb apokalyptisch interpretierbar und so erscheint das Verhalten der Flagellanten durchaus rational; ihre Absicht ist ja denn auch erreicht worden: Vermeidung des Weltuntergangs. „Im Anfang des Jahres 1261 bis 1262 hat die italienische Geißlerbewegung nach Deutschland übergegriffen.“[67] Alle Schichten waren beteiligt.[68] „Da es sich um eine Reformbewegung handelt, darf man den antikirch­lichen Unterton nicht überhören“.[69] Mit der Mystik haben die Geißler gemeinsam:

 

 

1)     direkter Weg zur Gottbegegnung für jeden ohne klerikale Vermittlung: Mystiker als unio; Geißler als Schmerz

2)     Gotterneuerung ohne Sakramente

3)     Legitimation durch Berufungsvisionen der Führer

4)     Magisch-suggestive Massenwirkung

5)     Freiwillige Unterwerfung unter gewählte Führer[70]

 

Was in bernhardinischer Christus-Devotion spirituell geschah, geschieht in der Geißelung carnal: Versenkung ins Leiden Christi.[71] Der Mystiker macht es in seinem Medium, dem Geist, im Körper symbolisiert es der unvergeistigte Mensch. Unterschiedlich sind die Weisen und Medien der Symbolisation und Erfahrung, während der Inhalt sich gleicht: Schmerz. Dabei stellt der körperliche Schmerz nur ein Symbol für den anders nicht vermittelbaren seelischen Schmerz dar. Die nicht entwickelte Symbolisationsfähigkeit von psychischer Erfahrung auf der Ebene sprachlichen Ausdrucks ließen nur die vertraute Ebene der Körperlichkeit zur Symbolisation des primär psychisch gemeinten zu. Erst durch Auswirkungen der Mystik aber kommen die Geißlerzüge voll in Gang.[72] Die Pest allerdings ist wohl der stärkste Faktor. 1349 kulminiert das Überhandnehmen der Geißlerzüge mit der dreijährigen Pestwelle und wird von Clemens VI. als häretisch verboten.[73] Joachim von Floris (gest 1201) bildet eine Theorie der Abfolge dreier Zeitalter und prophezeit den Anbruch des dritten Reiches, wo eine Geistkirche das Reich Gottes (in seiner trinitarisch dritten Person) aufrichtet, dabei wurde der Papst als Antichrist an­ gesehen.[74] Von diesem Antipapismus wurden sowohl Geißler als auch die häretischen Mystikergruppen beeinflußt.

Die häretische Mystik lehrte, „daß in der mystischen Ekstase die Gottheit in den Menschen eingehe und ihn sündlos mache, so daß für ihn zB. Unkeuschheit keine Sünde sei.“[75] Eine frühe Tradition dieser Auffassung ist der korinthische Libertinismus. Diese Mystikergruppen formierten sich als Amalrikaner (um 1209) und „Brüder und Schwestern des freien Geistes“ „in Frankreich und Deutschland, die das ganze 14. Jh. über bestanden; nicht wenige Beginen und Begharden verfielen den Anschauungen dieser Sekte und wurden, bes. im 14. Jh., von der Inquisition als Ketzer verfolgt.“[76] Sich von dieser Häresie abzugrenzen wurde für Meister Eckhart lebens­wichtig. In der Tat ist es schwer, Eckharts Sündenlehre vom häretischen Libertinismus zu sondern oder auch den häretischen Pantheismus bei Eckhart zu übersehen.[77]

2.6. Die Lust reicher Frauen auf das Klosterleben

Zuletzt also zum Wichtigsten, weil für Meister Eckhart unmittelbar betreffendsten. In der ersten Hälfte des 13. Jh. begann eine Mobilisation unter den Frauen. Die Patrizierinnen und Adeligen wanderten in die Klöster ab. Besonders den beiden großen Bettelorden machte der immense Frauenandrang zu schaffen und es gab regel­rechte Kämpfe um die Etablierung von Frauen im Kloster. „Die religiöse Frauenbewegung entsprang der asketischen Abkehr vornehmer und begüterter Kreise... von dem un­recht erworbenen Gut und von der Ehe, nicht etwa wirt­schaftlichen Motiven (wie äußerer Armut oder dem Frau­enüberschuß der Kreuzzugszeit).“[78] Man ist sich aber doch nicht so sicher in der rein religiösen Motivation des Frauenklösterbooms. Ob der Bruch mit der Ehe schon als Vorläufer neuzeitlicher Frauenemanzipation zu werten ist, sei dahingestellt. „Insbesondere wohl als Folge der starken Ritter-Verluste der Kreuzzüge strömten in der zweiten Hälfte des 13. Jh. unzählige verwitwete und verwaiste Frauen, zumal des hohen und niederen Adels, in die wie Pilze aus dem Boden schie­ßenden dominikanischen Frauenklöster.“[79] Hier fällt in der Darstellung von Heussi die bemerkenswerte Betonung der rein religiösen Motivation auf, während er etwas später die Entstehung der Mystik in Frauenklöstern mit der „erlangte(n) wirtschaftliche(n) Sicherheit“[80] begründet. Daß gerade adelige Frauen ins Kloster kamen, nimmt Wunder angesichts der sonstigen sozialen Streuung der Mönchsbewegungen. Die Armen konnten ja nicht an den Kreuzzügen teilnehmen und wallfahrteten als Pilger nach Rom oder zu kleineren Heiligtümern. So ist der Männerverlust gerade im Adel sicherlich historisch zutreffend und gleichfalls die Tatsache des Frauenüberschusses im Adel. Wie aber soll eine Witwe weiterleben? Ihre unerfüllte Erotik bedarf dringender Sublimation durch die Religion und einen erfüllenden Sozialkontext. Ge­rade die „starke () visionssüchtige () Erregbarkeit und oft exzentrisch übersteigerte() Gefühlsinbrunst“[81] deutet auf erotische Sublimation.

Darin, daß die Frauenmystik pathologisch, exzeßhaft übersteigert und verwerflich sei, sind sich fast alle Historiker einig.[82] Sie rezipieren darin den bürgerlichen Pathologie- und Normalitätsbegriff und beginnen zu werten, während sie als Wissenschaftler deskriptive Wertfreiheit propagieren.

Neben den ordentlichen Nonnen, die durch ihre adeligen Verwandten bei der Einschleusung in die aus dem Adel rekrutierten Dominikanerklöster unterstützt wurden[83], kam das Beginentum auf. „Die Ursprünge dieser Bewegung fand man, von den Zeugnissen Jakobs von Vitry ausgehend, in jenen niederländisch-deutscnen Frauenkreisen, meist adelig-patrizischer Herkunft, die auf die Güter und Freuden der Welt, auf Ehe und Familie verzichten und ein religiöses Leben in Demut, Armut und Keuschheit führen wollten. (...) Ihre Frömmigkeit ist gerichtet auf das innere Erleben der Gottes- und Christusliebe, be­eindruckt von der Victoriner-Mystik und auch von der höfischen Minne-Lyrik.“[84] Sie fanden „aber in den überfüllten Frauenklöstern keine Aufnahme“[85] und „lebten, meist in kleinerer Zahl, in den sog. Beginenhöfen, unter Aufsicht eines Pfarrers oder eines Klo­sters (Gütergerneinschaft; kein bindendes Gelübde). Später verfielen sie vielfach in Häresie“.[86] Denn offenbar führte „der mystische Drang zur völligen Ver­einigung mit Gott immer wieder überschwengliche Geister in die Versuchung und Gefahr, alle dogmatischen und moralischen Scheidungen zu übersteigen, um ganz auf­zugehen in der göttlichen All-Einheit.“[87] Wieder wird hier ein bürgerlicher Wertmaßstab von Grundmann in die Geschichts­betrachtung eingetragen. „Gerade in der Darstellung der deutschen Frauenmystik ist zu betonen, daß im frühen deutschen Beginenwesen weniger eine krankhafte (sic! M.L.) Übersteigerung durch­bricht, als daß eine merkliche Zurückhaltung, ja Herb­heit spürbar wird, - trotz der Gefühlsbeteiligung. Diese beherrschte Kraft in der Gefühlsäußerung möchte ich gerade für Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg betonen. ... Die Frau habe ihre literarische Selbständigkeit und Mündigkeit gerade in der Visionen­literatur der Mystik erworben.“[88] Emanzipative Ten­denz wird also nicht abzustreiten sein. Aber mit der Beschreibung der Grenze zur Häresie, welche im kirchenhistorischen Wertegebäude so deviant wie eine Krankheit ist, tut man sich schwer. Man will nicht werten und kann doch nicht anders. Als Beispiele seien die Recarnalisierungsvisionen der Spekulationsmystik genannt, die real vermißte und asketisch sublimierte Sexualerotik spiritualisiert: „Die Vision wird zum Schema, die seelische Vertiefung der unio zu verflachtem Gefühlserlebnis. (...) Die Übersteigerung und gleichzeitig die Vermenschlichung und Konkretisierung des Vereinigungsgedankens führt zu solchen Einbildungen und Selbsttäuschungen!“[89] „Immer stärker wandelt sich das geistige Erlebnis in ein körperliches, so daß diese Schwesternviten eher den Charakter von Wunderchroniken tragen als den my­stischer Offenbarungen. (...) Am deutlichsten wird dieser Abstand von der Frauenmystik des 12. Jh.s, wenn man an die Traumvorstellungen denkt, die sich mit Jesus beschäftigen. Die mystische Askese, die von diesen Nonnen in Unerbittlichkeit gefordert und äußerst streng durchgeführt wird, hat sicherlich ausgesprochen patho­logische Zustände bewirkt. Das Krankhafte mischt sich mit Gesundem in den Darstellungen der unio mystica, die jetzt nicht mehr allein als Geschenk göttlicher Gnade verstanden werden kann.“[90] „In groben Bildern mischen sich jetzt die Vorstellungen des Tanzes der menschlichen Seele mit Christus zwischen die aufmuntern­den und tröstenden Sätze frommer Volksbelehrung.“[91] So konnte es nicht bleiben. 1317 erklärt Papst Jo­hann XXII. alle Beginen für häretisch und exkommuniziert sie.

In dieser Situation haben wir Meister Eckhart zu suchen. Die Klosterpredigtperfektion der Dominikaner ließ sich auch in der religiösen Versorgung der Frauen applizieren. Die cura monialium wurde 1267 von Clemens IV. erneut und speziell für die Frauen den Dominikaner-Predigern übertragen. Wegen der geringen Lateinkennt­nisse der Klosterfrauen mußten die Prediger ab 1290 deutsch predigen.[92] „Die besonderen Ausdrucksformen ihrer deutschen Predigten und Traktate sah er (Denifle; M.L.) nicht in ihrer nationalen Eigenart und Neigung begrün­det, sondern in der von ihrem Orden ihnen übertragenen Aufgabe, als Seelsorger und Prediger eine große Zahl frommer Frauen zu betreuen, Dominikanerinnen und Be­ginen, die ohne gelehrte Lateinkenntnis, aber besonders empfänglich und interessiert waren für religiöse Unter­weisung und theologischen Tiefsinn.“[93] Dietrich von Freiberg (ca 1250 - ca 1310) war einer der ersten und be­rühmtesten Vorgänger Eckharts.[94] Die Mystik war nicht von den Meistern in die Frauenmassen hineinge­tragen, sondern sie bestand schon und wurde von den Meistern durch die Predigt korrigiert. Die Meister „ragen zwar durch ihre geistige und literarische Leistung und Wirkung weithin sichtbar hervor, aber nicht als isolierte Einzeldenker, sondern als bedeutende Gestal­ten einer mystischen Frömmigkeit und Denkweise, die viele ihrer Zeitgenossen schon seit langem bewegte. ... Ihre Lehre konnte häretisch mißbraucht oder mißver­standen werden, weil auch radikalere Strömungen der gleichen Bewegung sich durch sie bestätigt und ermu­tigt fühlten. Meister Eckhart mußte sich der bedenk­lichen, für ihn verhängnisvollen Gefolgschaft von Beginen und Begarden erwehren, die als ‘Brüder und Schwestern des freien Geistes’ in ihrem Wahn (sic!; M.L.) von Sündlosigkeit und Vergottung des ‘gelassenen Menschen’ alle Schranken und Lehren der christlichen Moral durchbrachen.“[95] Wir sahen bereits den Grund ihrer Unmoral: Unkeuschheit sei keine Sünde.[96] Es mag tatsächlich in der paulinischen Tradition der christlichen Leibfeindschaft einige von uns heute noch bedrängen und anfechten, daß „allzu-menschliche Süchte (sic!; M.L.) nach liebender Vereinigung nicht nur mit Gott“ den mystischen „Drang“ „mißbrauchen und verzerren“ konnten.[97] „Allzu verwandt sind die religiösen mit den sexuellen Vorgängen.“[98]

 


3. Lebensgeschichte Meister Eckharts

3.1. Nonnen und Beginen als Trägerinnen der Mystik

Natürlich ist die Abgrenzung der engeren Lebensge­schichte Meister Eckharts von der Zeitgeschichte im vorhergehenden Abschnitt völlig widersinnig. Nur der bestehende Zusammenhang von Zeitgeschichte, Lebensge­schichte und Textproduktion rechtfertigte in der methodologischen Vorüberlegung die Abhandlung der Zeit­geschichte im Kontext der Vorbereitung unserer Text­analyse dergestalt, daß wir im Text geronnenes Leben und geronnene Zeitgeschichte in verschlüsselter Form wiederzuentdecken haben, um zum Verstehen der im Text ausgesagten Erfahrung zu gelangen. Dennoch hat die engere Lebensgeschichte Eckharts der Zeitgeschichte voraus, daß wir hier Eckhart als Subjekt betrachten können, daß im Wechselspiel zur Umwelt agiert und re­agiert, während die Zeitgeschichte nur Aussagen zur Geworfenheit Eckharts zu machen in der Lage ist. Im Sinne eines fließenden Übergangs der Zeitgeschichte in die engere Biographie ist ein Fazit zu ziehen aus dem bisher Verhandelten.

Der durch die Kreuzzüge verursachte kulturelle und wirtschaftliche Aufschwung und das Anwachsen der päpstlichen Macht und Herrlichkeit riefen Reformbewe­gungen wach, die starke Kirchenkritik leisteten und sich verselbstständigten gegenüber die Kirche. Schon vorher kam es in mönchischer Frömmigkeit zu Sensibilisierung und Vergeistigung in Gestalt der Liebesmystik und Reflexionsmystik, derselbe Vergeistigungstrend auch zu finden im Aufkommen der Frühscholastik. Auf der Blüte päpstlicher Macht wird die Kirchenkritik der Armutsbewegungen teils verkirchlicht, teils inquisitorisch ausgerottet; Bettelorden bilden sich, die die asketisch, biblizistisch und am Armutsideal Jesu ori­entierte und organisierte Volksbewegung absorbierte, wobei die ökonomische Basis der Bettelorden durch die von Kreuzzügen und Orienthandel geförderte Entstehung eines städ­tischen Bürgertums und die Steuerpflicht geschaffen wurde. Durch die großen Bettelorden kommt es zur Blüte der Scholastik, die einen allgemeinen Bildungsanstieg in Adel und Klerus zu präzisieren scheint. Die Einrückung der sich spiritualisierenden Frauen in die Klöster der Bettelorden ist zum Teil aus dem Ritterverlust der Kreuzzüge erklärlich, die gerade die Frauen der Ge­adelten mit sozialer Unerfülltheit und Einsamkeit schlug, zum Teil mögen aber auch die politischen Wirren der Zeit (Papst-Kaiser-Konflikt) und Naturkatastrophen Auslöser eines allgemeinen Klimas von Todesangst, apo­kalyptischem Grauen und eminentem Lustverlust am welt­lichen Leben gewesen sein, was eine Suche nach neuer Geborgenheit in der Abgeschiedenheit und Gehaltenheit in den Klostermauern verständlich machen könnte. Die Vergeistigung dieser klösterlichen Frauen fand ihren Ausdruck in der Aufnahme der bernhardinschen und victorianischen Mystik. Hier war ein soziales Umfeld geschaf­fen, das vielen Frauen bessere Möglichkeiten der Selbst­entfaltung gab als das frühere Leben.

Die Spiritualisierung, deren Ausdruck die Frauenmystik war, setzt ein großes Maß an Sensibilisierung der äußeren und inneren Wahrnehmungsfähigkeiten voraus und zudem gute Bildung.

Für welche Schichten trafen diese Vorbedingungen zu? Die Bauern waren ungebildet und durch ihrer Gebundenheit an harte körperliche Fronarbeit einer Vergeistigung und Entfaltung der Sensibilitäten höchst unzugänglich. Nur wer partiell von harter Handarbeit freigestellt ist, kann sich weiterbilden und seine geistigen und körperlichen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten steigern. Darum blieben nur Adel, Rittertum, Klerus und bestenfalls die Anfänge der neuen Stadtkultur, also das beginnende Bürgertum der Pool für mystische Erfah­rung und deren Ausdruck. „Daß die Mystik zB. überwie­gend im Orden der Dominikaner zu Hause war, beruht schlicht darauf, daß in ihm und seinen Konventen Menschen der gehobenen Schichten sich wiederfanden, deren Bildungsstand den nicht geringen Anforderungen thomistischer Theologie gerecht werden konnte. Gleicher sozialer Herkunft waren auch die Insassinnen der Beginenhöfe, in denen die dominikanische Mystik gleichfalls zu Hause war“.[99] Es besteht also ein Zusammenhang zwischen Hoher Mystik und sozialer Schichtung, der aus den mit der feudalhierarchischen Arbeitsteilung ermöglichten Verinnerlichung und Spiritualisierung derer resultiert, die zur Bildung und Muße freigestellt wurden, dennoch aber nicht von den kreatürlichen Leiden der Zeit verschont bleiben konnten (Pest, Witwentum, Naturkatastrophen).

Gewiß ist Mystik das Gegenteil jeglicher Herrschaft, die ein Machen voraussetzt, dem ein Machenlassen folgt (der Herr macht seinen Anderen zum Knecht, um. sich die Arbeit machen zu lassen), denn am Anfang der Mystik steht das Lassen, dem ein Machen, besser: ein sich-zu-einem-Machenden-machen-lassen-durch-Gott folgt. Doch ist zunächst eine gewisse soziologische Kongruenz der Mystiker mit der herrschaftlich organi­sierten und dadurch sensibilisierten und gebildeten Bevölkerungsschicht festzustellen. Man kann umgekehrt mit Bestimmtheit formulieren: Die Mystik war zunächst keine Frömmigkeitsbewegung der breiten Masse, war nicht im Bauernstand beheimatet, dessen Spiritualitätsdefizit ihn ans Gegenständlich-Manifeste in der Religionspraxis band.

Und auch die Verfallsbewegung der hohen deutschen Frauenmystik etwa einer Hildegard von Bingen oder gar Mechthild von Magdeburg zur nur noch gefühligen eksta­tischen Visionsmystik, deren sexuelle Komponente ein Hauptgrund für das Verflachen der Spiritualität und das Abgleiten ins körperliche Erlebnis bis hin zur Pathologie[100] sein kann, bestätigt die These von der aristokratischen Frömmigkeitsform der Mystik[101], der gegenüber die Geißlerbewegung typische Manifestation der Volksfrömmigkeit war.[102] Es ist anzunehmen, daß diese Verfallsbewegung der Frauenmystik in körperliche und ekstatische Visionsmystik bedingt ist durch eine Ausweitung der sozialen Rekrution der Klosterbewohnerinnen von der stark gebildeten Adelsschicht auf das Bürgertum. Denn immer mehr wird in den Dominikanerklöstern die Verständigung in lateinischer Sprache zum Problem, da den Frauen Lateinkenntnis abgeht.[103] So mußten die dominikanischen Frauenprediger der besseren Verständlichkeit wegen ab 1290 deutsch predigen[104], worin man allgemein die „Geburtsstunde der deutschen Mystik“[105] sieht. „Soziologisch gesehen erleben wir darin die Auswirkungen einer bürgerlichen Bildungsbewegung in ungelehrten Kreisen.“[106] Anscheinend muß es aber auch innerhalb die Klerikalhierarchie Meinungsverschieden­heiten über die deutsche Sprache als Mittlerin der Ver­kündigung gegeben haben, da man Eckhart vorwarf, „er profaniere die hohe scholastische Schulgelehrsamkeit, indem er sie dem einfältig ungebildeten Volke von der Kanzel herunter darbiete.“[107] Hier wird die von der Aufklärung geleistete Ermündigung des Volkes von den Besitzern des Wissens angegriffen; solange Wissen in der Verfügung weniger ist, ist es deren Machtmittel und ihre Macht steht und fällt mit diesem Wissen; also muß ihnen im Sinne ihrer Machtstabilisation alles am eigenen Gebildetsein und nichts am Gebildetsein der anderen liegen. Dagegen wehrt sich Eckhart, der auch in der Frage der Volksaufklärung würdiger Vorgänger des Volkspädagogen und Bibelübersetzers Luther ist, im „Tröstungsbuch“: „Soll man nicht ungelehrte Leute lehren, so wird niemals wer gelehrt, und so kann nie­mand lehren oder schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden.“[108] Dennoch war die Verwendung deutscher Sprache noch lange keine Garantie für Verständlichkeit und so tröstet Eckhart, dem niemand zu sagen brauchte, „daß er über die Köpfe des einfältigen Volkes hinwegrede, daß er in diesen Köpfen beschränkter Passungs­kraft Verwirrung stiften und daß er allenfalls von ei­nigen wenigen kongenialen Geistern begriffen werden könne“[109], seine Predigthörer: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so­lange wird er diese Rede nicht verstehen.“[110] Wurde anfangs Mystik von mir religionsphänomenologisch dem Kultspiel zugeordnet, so muß hier der Unterschied der Meistermystik zu nichtasketischen Mystik etwa der Perser betont werden, bei denen Musik, Tanz und ero­tische Geschlechtsgemeinschaft Medium der unio waren.[111] Auch zur ekstatischen Frauenmystik verläuft eine analoge Unterscheidung. „Nur im ‘Geist’, im allgemeinsten Sinne des Wortes kann es zur Einigung mit Gott kommen. Der Geist des Menschen hat in Gott seinen Ursprung, und so gilt es als Aufgabe des Menschen, seinem Geist immer wieder dorthin zu lenken.“[112] Meister Eckhart „ersetzt die ‘visio’ der Frommen durch die ‘speculatio’ des Weisen. Dabei wird sein Abstand zur Frauenmystik deut­lich.“[113] Er „kommt immer wieder auf die Betonung der Geistigkeit, auf die Intellektualisierung und Spiritualisierung, unter der die Unio zwischen Seele und Gott begriffen wird“.[114] Eckhart bestimmt den Intellekt und die Vernunft als Medium der Vereinung mit Gott, vermeinend, der Geist sei reiner denn der Körper und dessen Bedingungen der Kreatürlichkeit, also die uns beherrschende innere und äußere Natur, der gegenüber unser Körper unfrei ist, während der Geist sich von ihr zu befreien im­stande wähnt. Die Selbsttäuschung einer solchen Primatisierung des Geistes vor aller Natur, zurückweisend auf den Ideenhimmel der Präexistenz des Geistes bei platonisch-plotinischer Spekulation, wird deutlich beim Fieber, welches den Geist in den kör­perlichen Bann zurückzuholen vermag, bei Alzheimer oder starken Schmerzen, vollends beim Tod. Dennoch haftet Eckharts Rezeption der Scholastik zur Medialisierung des göttlichen Erkennens und Vereinigens, schon im Hebräischen als Einheit begriffen ( (adfy ), ein Wahrheitsmoment an: daß nur vermittels des Geistes, der wesentlich selbst Vermittlung ist, Vermittlung von innerer und äußerer Natur des Menschen, geronnen im Ich-Begriff Freuds als Mittler von Es und Über-Ich, menschliche Emanzipation aus dem Bann der Natur mög­lich war. Unwahr darin wäre schon wieder, den Ursprung des Geistes nicht eben in dieser Natur sehen zu können, aus der sich Geist hergeleitet und abgelöst hat. Für den unmittelbaren Gestaltkreis des mittelalterlichen Geistes ist wiederum zutreffend, seine Fähigkeit zur Selbstbefreiung von (fast) aller Naturkausalität gel­tend zu machen, dergestalt, daß er die einzige noch verbleibende Kausalität seiner selbst zu werden beginnt. In diesem Sinn der Selbstaufhebung, als reines Prinzip der Negation, trifft die Einschätzung des Intellekts bei Eckhart unmittelbare Wahrheit.[115] Im Gegensatz zur Kreatürlichkeit der Mystik anderer Völker und Traditionsbildungen ist eine geistbezogene Spekulationsmystik der Ansatz und die Affirmation des Negativen, des emanzipativen Prinzips der Aufhebung der eigenen Kausalität. Der im Medium des Geistes be­heimatete Gott wird nun nicht mehr im Rekurs in die alte Naturabhängigkeit der sog. primitiven Naturreli­gionen gesucht und gefunden, sondern Gott wird zum Symbol der Befreiung aus Naturkausalität. Die mystische Unmittelbarkeit Gottes im Intellekt befreit zudem von jeglicher kirchlichen Mittlerschaft.[116] Nur ein Be­leg eckhartischer Identifikation von Gott und Geist: „Es ergibt sich also offensichtlich, daß Gott im eigentlichen Verstande einzig ist. Und da er Intellekt oder Erkennen ist, und zwar reines Erkennen ohne Bei­mischung irgendeines andern Seins, so ruft dieser ein­zige Gott durch sein Erkennen die Dinge ins Sein, eben weil in ihm allein das Sein Erkennen ist. .. Daher ist Gott nirgend und niemals als Gott vorhanden außer im Intellekt.“[117] Traditionsgeschichtlich sind hierin schon Ansätze gelegt zu Hegels Theorie Gottes als Objektivem Geist im Werdeganzen der Weltmaterie. Vermittels dieser Freiheit des naturgewordenen Geistes von der Natur vermag der Geist in der Natur sich selbst wiederzuerkennen. Der aus der unio mit Gott her lebende Mystiker ist fähig geworden, Gott in allen Dingen zu finden. „Wer aber recht daran ist, der hat Gott in Wahrheit bei sich; wer aber Gott recht in Wahrheit hat, der hat ihn an allen Stätten und auf der Straße und bei allen Leuten ebensogut wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle; wenn anders er ihn recht und nur ihn hat, so kann einen solchen Menschen niemand behindern.“[118]

Schon der Titel des späten ‘Buches der göttlichen Tröstung’ und die häufige Aufnahme des Problems des Leidens im eckhartschen Werk reimen sich stimmig mit der angezeigten Not des Lebens in dieser Zeit. Wo es kein Trostbedürfnis gibt, wäre ein ‘Trostbuch’ nicht nötig und hermeneutisch eine Vergewaltigung der Appellaten. Mystik hat augenscheinlich ein bestehendes Trostbedürfnis beantwortet, was auch die große Ver­breitung bestätigt und woraus diese erklärbar wäre. Als Rückzug hinter Klostermauern wäre das rein kontemplative Leben anzusehen. Hier findet meine Anfangs­these von Mystik als Regression ihr Verhandlung in den Sachen. In der Frauenmystik begegnet uns eine hoch äußerliche Regression, denn Sozialverzicht und Klo­stermauern sind rein äußerliche Faktoren. „Ich wurde gefragt: Manche Leute zögen sich streng von den Men­schen zurück und wären immerzu gern allein, und daran läge ihr Friede und daran, daß sie in der Kirche wären - ob dies das Beste wäre? Da sagte ich: ‘Nein!’“[119]

Daß Mystik zunächst als Weltflucht auftritt, wird aus der visionär-contemplativen Ausschließlichkeit frauenmystischer Lebensdisposition, ebenso beim Eremitentum dieser Zeit, klar ersichtlich. Gegen diese Tendenz kämpft Eckhart mit seiner Gleichzeitigkeits­lehre von vita contemplativa und activa. „War die ekstatische Mystik in ihrem Ursprung nur verständlich aus einer Flucht aus der Zeit, so mußte eine Lebens­lehre, wie sie Eckhart schuf, das Bleiben in der Zeit zum Mittelpunkt haben und so alte und neue mystische Frömmigkeitsformen verbinden.“[120] Es ging um ein „Leben in der Welt ohne Furcht“.[121] Hier liegt m.E. die Hauptspitze der Theorie Eckharts: Vermittlung von mystischer Erfahrung mit realitätsbezogenem Handeln im sozialen und natürlichen Kontext.[122] Knapp reduziert: Synthese von Erfahrung und Verhalten. Der ‘Sitz im Leben’ dieser Theorie war der Verlust an Realität bei der visionären Erregung in den domini­kanischen Frauenklöstern.

Keineswegs ist dabei Eckharts Spekulationsmystik und seine Passion-Aktion-Vermittlung der Bestimmung von Mystik als Regression enthoben. In ihr wird lediglich die noch äußerliche Regression der verflachenden Gefühlsmystik abgelöst durch eine innerlichere Regression. Es wird die Regression selbst quasi noch um eine Stufe weiter spiritualisiert. Ich habe damit eine Tautologie formuliert, die in sich aber gerade das Wesen dieser neuen eckhartschen Regression gegenüber der Frauen­mystik seiner Zeit enthält: Die Spiritualisierung ist selbst die Regressionsstufe, auf die sich Eckhart vor den Mächten des Gefühls und der inneren Natur flüchtet. Seine Purgation vom Ich geht hinter alles Sein zurück auf den letzten Grund der Seele. Die Flucht in den Intellekt läßt sich psychoanalytisch unschwer kenn­zeichnen als Angstreaktion, wobei Angst selbst „als Denken zu erkennen“[123] ist, und das Denken als Angst­reaktion „ist Abstandnehmen, es ist Herausgelöstsein aus den Instinkt-Zügen des natürlichen Lebens. Es ist insofern eine Art von Freiheit“.[124] Verhelfe der Welt­flucht ins reine Erkennen Gottes, in die Abgeschieden­heit, vermag sich der spiritualisierte Mensch erneut der Welt zuzuwenden, Regression mündet aus in Offenheit.

Die Einblicknahme in das Neue an Eckhart, die Primatisierung des Geistes, und dessen Entstehungsbedingungen in der Gefühlsmystik hat einen Verstehenshintergrund bringen sollen, auf dem die nun folgende Datenbiographie als Tendenzkunde gelesen werden kann für eine lebens­geschichtlich gestaltete Verbindung von Scholastik und Seelsorge im weitesten Sinn, wobei die Mystik beides umgreift und beinhaltet.

3.2. Das Leben Eckharts bis zum Ketzerprozeß

Um 1260 wurde Eckhart in einem Rittergeschlecht in Hochheim bei Gotha geboren. Er ging als junger Mann nach Erfurth ins Dominikanerkloster. Auch hier sehen wir also die Ver­bindung von sozialer Herkunft und religiöser Erfahrung: Eckharts Erziehung in der gehobenen Schicht war die Vorbedingung für seine Geistestätigkeit. Aus dieser ersten Zeit in Erfurt stammen die ‘Reden der Unter­weisung’. Darin ist schon das gesamte Denkmaterial vorbereitet, was sich in den späteren Jahren weiter­entfaltet, insbesondere die Abgeschiedenheit und der Umschlag aus ihr ins Werk.

Aufgrund überragender Begabung hub eine steile Karriere an. Vor 1300 noch wurde er vom Orden nach Köln gesandt, um ein studium generale zu treiben, wo er vielleicht Albertus Magnus noch gehört hat. Von 1300 - 1302 absolviert er in Paris, der Hochburg des Geistes und dem Zentrum des Thomismus und Skotismus, ein weitere studium generale, hält Vorlesungen über den lombardischen Sen­tenzenkommentar und erlangt 1302 die Magisterwürde. Er ist jetzt 42 Jahre alt. Die Ausbildungsphase kann als vorläufig und formal abgeschlossen gelten. Eckhart versah dann ab 1303 in Erfurt den Posten des Ordenspriors und wird Provinzial über die gerade ge­gründete neue Ordensprovinz Sachsen. Er hat also einen sehr hohen Posten in der Ordensleitung übernommen. Acht Jahre später, 1311, geht er das zweite Mal nach Paris und hält Vorlesungen, wobei sein lateinisch kon­zipiertes Monumentalwerk ‘Opus tripartitum’ entsteht, aber zeitlebens nicht fertig wird. Diese Zeit als Hochschullehrer währt zwei Jahre. Es ist möglich, daß Eckhart sich in diesem Amte auf Dauer nicht wohl fühlte, jedenfalls wechselte er 1313 nach Straßburg als Ordensprior des dortigen Domini­kanerklosters. Hier, im Zentrum der mystischen Bewegung gelangt Eckhart zu größtem Ruhm. Er ist zehn Jahre in der Nonnenseelsorge tätig. Am Oberrhein war ein Ballungs­gebiet von Klöstern und Beginenhöfen, in denen die Mystik gelebt und geliebt wurde und wo geistliche An­leitung der Damen dringend erforderlich schien, da es gefährliche Tendenzen dieser Mystikbewegung gab, besonders, weil sich viele Damen den ‘Brüdern und Schwestern vom freien Geist’ anschlossen. Gegen diese häretische Mystikform mußte sich die Kirche zur Wehr setzen und deren eine Form war die Eckhartsche Ver­kündigung, so war sie zumindest von den Ordensobersten intendiert.

Als Sechzigjähriger lehrt Eckhart dann ab 1323 in Köln auf dem ehemaligen Lehrstuhl von Albertus Magnus. Nach zwei Jahren war es soweit. Der Erzbischof von Köln, Heinrich von Virneburg, inszeniert nach einer ersten Verwarnung gegen den unbeugsamen Rivalen[125] im Jahr 1326 einen Inquisitionsprozeß „wegen Verbreitung glau­bensgefährlicher Lehren in deutschsprachigen Predigten vor dem Volke.“[126] Der Kölner Bischof hatte als Hobby, die ‘Brüder und Schwestern vom freien Geist’ auszurotten und kam in diesem Zusammenhang unweigerlich auf Eckhart. Dieser wehrte sich und ging zu Papst Johannes XXII. nach Avignon, um von ihm ein Urteil zu erlangen. Er starb aber schon ein Jahr später, bevor Johannes XXII. in der Bulle „In agro dominico’ vom 27. März 1329 gerade einmal 26 Sätze Eckharts für häretisch erklärte, „davon 15 als objektiv ‘häretisch’, 11 als ‘übelklingend’ .., wenn sie auch verstanden werden konnten. Und zwei weitere wurden be­dingt verurteilt, das heißt unter der Voraussetzung, daß der Wortlaut zutreffe. Die Bulle war für den Erzbischof von Köln bestimmt sowie, nach der beigefügten Erklärung, ‘für jene, bei denen die angeführten Sätze gepredigt oder gelehrt worden sind oder zu deren Kenntnis sie gekommen sind’.“[127] Noch vor seinem Tod widerrief Eckhart alle Sätze, „die einen glaubenswidrigen Sinn bezeugen könnten“.[128]

Ein wesentlicher Grund der papistischen Verketzerung Eckharts ist wohl das Verschwimmen der für die repres­sive Mittelaltertheologie so fundamentalen Unterschiede von Gott und Mensch. Das mag ein aus dem Kontext ge­rissener häretisierter Satz zeigen: „Wir werden völlig in Gott umgeformt und in ihn verwandelt... Auf die näm­liche Weise, wie im Sakrament das Brot in den Leib Christi verwandelt wird, so werde ich in Ihn verwandelt, daß Er mich als sein Eigenes, Eines, nicht etwa nur Ähnliches, wirkt. Beim lebendigen Gott, es ist wahr, daß da kein Unterschied besteht.“[129] Gerade diese Fundamentaldifferenz zwischen Gott und Mensch , die Eckhart zu bestrei­ten scheint, ist theoretische Legitimationsbasis der Existenz von Kirche als Mittlerin zwischen dem ganz anderen Gott und dem erlösungsbedürftigen Volk.[130] Durch die Volkspredigt der unio vereinigt Eckhart zwei polare gesellschaftliche Dimensionen: einerseits die aus der gehobenen Schicht stammende Mystik als Gipfel von persönlicher Individualfrömmigkeit und andererseits die Einfachheit der Bauernbevölkerung, die ohne große Voraussetzungen für Verständnis wie Erfahrung der Mystik lebte, erst recht aber ohne jene bürgerliche Autonomie, derer es bedurfte, um aus jener sprichwörtlichen Unmündigkeit der ‘dummen Bauern’ herauszufinden. Die Mystik lebt von einem nur der gehobenen Schicht erfahrbaren Autonomie- und Freiheitgefühl, dem das für die Versenkung so wichtige ozeanisch verschmelzende Ichdiffusionsvermögen entwächst. Bei den Franziskanern kulminiert ein gewisser Sozialismus als ethische Konsequenz der Vereinigungs­erfahrung mit Gott. Das entgrenzte Ich kann den Anderen als Teil der göttlichen Einheit erleben, zu der es sich selbst gehörig fühlt.

Eckharts Praxis der mystagogisehen Volkspredigt, die seinen Ruhm gründete, eint Individualfrömmigkeit und religiöse Erneuerungs­bewegung einer großen Masse, die zugleich von der kirch­lichen Mittlerschaft freigestellt wird.[131] Es ergibt sich aus der unio-Erfahrung der Vereinigung mit Gott ein dehierarchisierter Freundschaftsbegriff als Charakteristikum des Gottesverhältnisses, unter Rezeption von 15,15 des gnostisiert-mystischen Johannesevangeliums.[132] „So radikal ist bei Eckehart das Knechtschaftsver­hältnis von Mensch und Gott in der völligen Einheit beider überwunden, daß er sagen kann: Jede kleinste Regung, jedes kleinste Werk dieses Gerechten läßt einen Freudenschauer durch das Göttliche rieseln, so daß in seinem Grunde nichts bleibt, das nicht von Freude durchkitzelt werde.“[133]

Einen Hinweis verdient die Andeutung des Sozialismus als ethischer Konsequenz der Mystik als einer der Aristo­kratie entwachsenen Bewegung geistiger Erneuerung. Zunächst fällt ein gewisser Libertinismus gegenüber dem religiösen Pflichtgefühl auf; es kommt Eckhart ebenso wie später Luther nicht auf die peinlich genaue Erfül­lung asketischer und anderer Religionspflichten an; die Fixierung auf die formale Erfüllung religiöser Vor­schriften als Auswirkung der kirchlichen Mittlerschaft auf die Seele des Einzelnen hat psychoanalytisch ge­urteilt neurotische Struktur, wird im Christentum als ‘Gesetzlichkeit’ der präfidalen Humanexistenz kritisiert und bei Eckhart mit nahezu lapidarer Selbstverständlichkeit im Vergebungsbegriff aufgehoben. „In jedem Werk, auch im bösen.., offenbart sich und erstrahlt gleichermaßen Gottes Herrlichkeit“.[134] Und: „Gott vergibt lieber große Sünden als kleine, und je größer sie sind, um so lieber und schneller vergibt er sie.“[135] Die libertinistische Entlastung des Gewissens von Pflicht führt Eckhart zu einer alternativen Ethik. Statt Pflichtprinzip taucht bei ihm als Motivations­struktur ethischen Verhaltens das Lustprinzip auf, eine, phylogenetisch betrachtet, späte Folge der zur bürger­lichen Autonomie emanzipierten gesellschaftlichen Natur­beherrschung, die sich in der Feudalherrschaft des MA quasi sublimiert fortsetzt. Ein lebensfähiges Lustprin­zip ist nur dem autonomen Individuum möglich und ge­schieht bis heute noch auf Kosten anderer. „Was im ei­gentlichen Sinne in Wort geäußert werden kann, das muß von innen heraus kommen und sich durch die innere Form bewegen, nicht dagegen von außen hereinkommen“.[136] „Man soll sie ebensosehr lieben (= die Mitchristen; M.L.) wie sich selbst, und das ist nicht schwer. Wollt ihrs recht bedenken, so ist Liebe mehr Belohnung als ein Gebot. Das Gebot scheint schwer, der Lohn aber ist be­gehrenswert. Wer Gott liebt, wie er ihn lieben soll und auch lieben muß, ob er wolle oder nicht, und wie ihn alle Kreaturen lieben, der muß seinen Mitmenschen lieben wie sich selbst und sich seiner Freuden freuen wie sei­ner eigenen... Und wisse fürwahr: Ist dir deine eigene Ehre beglückender als die eines andern, so ist das unrecht“.[137] Liebe selbst ist bei Eckhart Lust, Ichdiffusion.

Wo die Grenzlinie zwischen mir und meinem Nächsten so stark verschwindet, daß mir seine Lust meine Lust ist, seine Ehre meine, sein Glück meins, da herrscht Sozia­lismus, denn Sozialismus ist nichts anderes. „Wenn du hundert Mark bei dir mehr liebst als bei einem andern, so ist das Unrecht. Hast du einen Menschen lieber als einen andern, so ist das unrecht. ... Und hast du die Seligkeit in dir lieber als in einem andern, so ist das unrecht. ... Es gibt viele gelehrte Leute, die das nicht begreifen, und es dünkt sie gar schwer. Es ist aber nicht schwer, es ist ganz leicht. ... Einem Menschen, der Gott liebt, dem wäre es ebenso leicht, diese ganze Welt hin­zugeben wie ein Ei.“[138] Die Entgrenzung Gott/Mensch bildet sich aus, überformt die Mensch/Mensch Beziehung. Basis solchen durch Ichentgrenzung geschaffenen Sozialis­mus wäre für Eckhart die unio selbst, die zunächst ja von Mitmenschen, von sich selbst und dann von allem Kreatürlichen absieht nur noch auf Gott, bis sie im Blick auf Gott so gesammelt ist, daß sie selbst von allem Denken und den Bildern des gedachten Gottes[139] ledig wird und zum reinen Nichts entwerdet wird, darin eben gerade gottgleich und höchst empfänglich für die Befruchtung und Geburt Gottes im Selbst, aus der heraus von da an alles überformt wird und im Lichte einer neuen Lebensqualität erscheint, die den inneren Gott projizierend wiedererkennt in allem. Es ist eine ‘Wiedergeburt, die aus der Gottesgeburt in der Seele hervorgeht. Der abgeschiedene Mystiker ist neuer Mensch. Der sieht die Dinge im Lichte Gottes. „Gott ist in allen Dingen. Je mehr er in den Dingen ist, um so mehr ist er draußen.“[140] Verschmelzung von Innen und Außen als neue Per­spektive des mystischen Bewußtseins, dem unio geglückt widerfahren ist, kennzeichnet hinfort Theo-Logie, Anthro-pologie und Kosmologie (Emanation), wobei in der Anthro­pologie die Konsequenz des Sozialismus nur ein Nebenpro­dukt ist, nicht mehr. Mehr verdient sie nicht zu sein, aber das ist schon viel. Zur Kosmologie: „Gott erschaff (t) diese ganze Welt voll und ganz in diesem Nun. Alles, was Gott je vor sechstausend und mehr Jahren erschuf, als er die Welt machte, das erschafft Gott jetzt allzumal. Gott ist in allen Dingen; aber so­weit Gott göttlich und soweit Gott vernünftig ist, ist Gott nirgends so eigentlich wie in der Seele und in den Engeln, wenn du willst: im Innersten der Seele und im Höchsten der Seele.“[141] Seelenprimat auch hier also.

Der Pantheismus Eckharts sollte differenziert betrachtet werden. Er ist ein weiterer der Gründe seiner Verketzerung, weil er die klerikale Heilsmonopolisierung relativierte. Alle Aussagen über Gott in Allem gelten nur als Wahr­heit des von der unio durchdrungenen Bewußtseins und nicht als kosmologische Behauptung. Im Grunde ist die ganze Kosmologie Eckharts nur ein Denkmittel für die unio. Die spätere Textanalyse wird zeigen, daß gerade durch das neoplatonische Emanationspostulat die Entäußerung und Spaltung der Alleinheit Gottes einen Begriff des Kreatürlichen hervorbringt, der identisch ist mit dem Sündenbegriff der kirchlichen Tradition.

Man kann als pantheistisch nur die post- und präteruniale Erfahrungsweise des Mystikers mit seiner Welt ansehen. Ontologisch herrscht selbst bei Eckhart eher ein abwertender, gegengöttlicher Eindruck des Kosmos vor.

Der Gleichzeitigkeitslehre von vita contemplativa und activa mit dem Kerngedanken des Bei-der-Welt-Seins als Lebenshaltung innerer, nicht äußerer Einsamkeit des in-der-Welt-seienden Mystikers geht voraus die Lehre von der Einübung ins Mystikerbewußtsein als notwendiger Schritt zur Abgeschiedenheit. Eckhart weiß sich als Volkspädagoge gegenüber einem von mystischer Erfahrung nahezu unbefleckten Volkes (einmal abgesehen von Nonnen und Beginen) zur Mystagogie verpflichtet, will er die These von der Allgemeinzugänglichkeit mystischer Erfah­rung halten.[142]

Die nun folgenden Textbesprechungen konzentrieren sich um die Mystagogie (Vom edelen Menschen) und die unio (Von Abgeschiedenheit) als Modus mystischen In-der-Welt-Seins. An einer näher differenzierten Entwicklungsge­schichte des unio-Gedankens in den Schriften Eckharts kann im vorliegenden Kontext nicht gelegen sein, zumal mir die Ergebnisse der neueren Eckhart-Forschung noch nicht vorgelegen haben.


4. Meister Eckharts Werke

Methode der folgenden Ausführungen ist die Paraphrase und Problemreflexion verschiedener Schriften Meister Eckharts.

4.1. Vom edlen Menschen

Die Datierung der Schrift ist vage, fällt aber in etwa in die Zeit des Tröstungsbuches, also um 1308 herum. Absicht der kleinen Schrift ist eine kurze Mystagogie, Einleitung und Anleitung zur Praxis mystischen Bewußt­seins und dessen Weltvermittlung. Eckhart schrieb es vermutlich als Ordensprior in Erfurt, damit war auch der Gebrauch der Schrift primär auf die Weitergabe unter seinen Mitmönchen eingegrenzt, ähnlich wie schon die Reden der Unterweisung Tischlesungen für seine Mit­mönche waren.

Eckhart geht aus von Luk 19,12: „Ein edler Mensch zog aus in ein fernes Land, sich ein Reich zu gewinnen, und kehrte zurück.“ Er interpre­tiert diesen Satz kontextlos auf rein motivische Struktur hin zur Meditationshilfe. Eckhart focussiert auf das Thema der Hin- und Rückreise. Er beginnt mit Entfaltung eines dualistischen Anthropologiemodells: Der Mensch besteht aus zwei Naturen, Leib und Geist. Er übernimmt darin die paulinische Differenzierung von Rm 7, polarisiert die Begriffspaare

 

Leib/Fleisch                                       Geist

äußerer Mensch                                  innerer Mensch

alter Mensch                                       neuer Mensch

irdischer Mensch                                himmlischer Mensch

feindlicher Mensch                             Freund

knechtischer Mensch                          edeler Mensch

böser Geist/Teufel                              guter Geist/Engel

 

Von der Erfahrung dieser inneren Zerrissenheit geht Eckhart aus und betont, daß der Fleischpol des Menschen Hindernis auf dem Weg zu Gott ist. „Ich finde in mir etwas, was mich hindert und wider das ist, was Gott gebietet und was Gott rät und was Gott gesprochen hat und noch spricht im Höchsten, im Grunde meiner Seele“.[143] Doch wird diese Zerrissenheit mit einer gewissen Frei­heit erfahren: man kann sich entscheiden, welchem Pol man nachgeben will, der Stimme des Teufels oder den Engelgeistern.

Die heidnischen Meister Tullius und Seneca und der christliche Meister Origenes finden nach Paulus Aufnahme in den Gedankengang. „Keine vernunftbegabte Seele ist ohne Gott; der Same Gottes ist in uns.“ Und Origenes: „Da Gott selbst diesen Samen eingesät und einge­drückt und eingeboren hat, so kann er wohl bedeckt und verborgen und doch niemals vertilgt noch in sich aus­gelöscht werden“. Hier sehen wir ein Stück Traditionsgeschichte durchleuchten; Eckhart versteht sich in einer Tradition von Wahrheitsfindung und nimmt sowohl die heidnische als auch die frühchristliche Tradition auf. Er verschmilzt diese Tradition mit seinen eigenen Ge­danken ohne merkliche Trennung. Der innere, edele und geistliche Mensch hat also 1) als Vernunftwesen, dh. im Medium seiner Vernunft, Samen Gottes in sich, wobei Same als Potenzmetapher die Möglichkeit eines Wachsens zur Göttlichkeit beinhaltet (Seneca),und 2) eben diesen Gottessamen ontologisch in sich, sodaß dieser nur ver­schüttet sein kann und dem Bewußtsein verborgen bleibt, nichtsdestoweniger aber zu Gott drängt (Origenes). Damit sind die Thesen von der Göttlichkeit des inneren Mensch und der Allgemeinheit dieser Göttlichkeit in allen Menschen aufgestellt. Als Probleme sind die Verborgenheit des Göttlichen im inneren Menschen und die Kleinheit jenes Strebens zu Gott formuliert. Jegliche Erwählungsideologie entfällt, da mystisches Erleben Gottes einer anthropologischen Konstitution entspricht. Hieraus ist übrigens erklärlich, wieso Eckhart in unbedenklicher Parataxe sowohl christliche wie ‘heidnische’ Tradition rezipiert ohne Angst vor Verlusten des ‘spezifischen Christlichen’ , welches es ohnehin nur durch Ignoranz der entsprechenden ‘Spezifika’ anderer Traditionen gibt. Eckhart nähert sich einer natürlichen Theologie an und profanisiert den Begriff des himmlischen und heiligen Geistes, in dessen Besitz sich in früherer Tradition nur Erwählte sahen, auf Allgemeinheit in jedem Menschen. Eine Entsprechung liegt in der thomistischen Seelen­metaphysik, die gleichfalls anthropologisiert und für alle Menschen geltend macht, daß ihre sunth/rhsij als scintilla conscientiae und bewahrendes Gewissens-Fünklein einem ins Herz geschriebenen lex naturalis gehorcht, welches vernünftig ist und mittels menschlicher Vernunft erkannt wird. Eckhart steht also - wenn hier auch nicht nament­lich erwähnt - in scholastischer Tradition einer Seelenmetaphysik, was aus seinen Pariser Studienjahren allzu nahe liegt.

 

Von hier aus beginnt die eigentliche Mystagogie in Form eines Sechsstufenschemas, augenscheinlich von Augustin inspiriert. Ich reduziere sie hier zu Stichworten:

1)     Nach dem Vorbild guter und heiliger Leute leben. Diese Stufe ist noch autoritätsgeleitet, bedarf mensch­licher Leitbilder, Geschichtlich knüpft diese Empfehlung an die erwähnte Heiligenverehrung und an die Ordensväter, bes. Franz v.Assisi, an, die selbst für einfache Menschen wie Bauern, eine praktikable Mög­lichkeit war. Auch hier wieder der Volkspädagoge.

2)     Der Menschheit den Rücken kehren und Gott das Gesicht zukehren. Menschliche Vorbilder verblassen vor der Lehre und dem Rat Gottes. Was damit gemeint ist, erscheint etwas schleierhaft, es ist wahrscheinlich nicht als Evangelienlektüre zu verstehen. Orientierung vermitteln auf dieser Stufe nicht mehr Menschen, son­dern eine innere .Leitvorstellung, der Gottes Weisheit zugeordnet ist.

3)     Innere Freiheit, Sorglosigkeit, Angstlosigkeit. Es besteht die Möglichkeit abweichenden Verhaltens als Zeichen für die innere Unabhängigkeit vom Kollektiv; sie zu nutzen wäre allerdings nicht sinnvoll, da keine innere Nötigung, kein Bedürfnis dazu besteht. Auf die­ ser Stufe entsteht also soziale Autonomie, ein Gefühl der Freiheit, selbst Böses tun zu können, wenn auch der Wille als Form der Bedürfnisgestaltung fehlt. Er ist „in Liebe so mit Gott verbunden“, daß alles, was nicht Gott ist, ihm widerwärtig ist. Auf dieser Stufe sind in der Erfahrungsstruktur Gott und die Menschen stark dissoziiert und das Selbst fühlt sich auf der Seite Gottes, während es sich vom sozialen Eingebettetsein emanzipiert. Gott wird einziges Leit­bild.

4)     Leid-Erduldung. Erfahrungsgemäß ist das Bewältigen von Leid das schwerste, willig und gern leiden heißt aber schon: nicht mehr leiden am Leiden. Das innere Bewußtsein muß sich also so stark von allem normalen Leben und Erfahren verselbständigt haben, daß unter Leid nicht mehr gelitten wird, dh man ist quasi immun geworden gegen jede Bedrohung von außen, so tief ist man in der Liebe und in Gott verwurzelt.

5)     In-sich-Ruhen. Getriebensein von Bedürfnissen ist in Selbstbeherrschung aufgehoben und Befriedigung ist eingetreten. Die Teilhabe am Bedürfniskatalog des normalen Lebens muß auf ein Minimum gesunken sein. Das Bewußtsein ist so sehr in sich gekehrt, daß Triebunruhe und äußere Unruhe gar nicht mehr hineindringt in diesen verselbstständigten Bereich.

6)     Entbildung und Überbildung von Gottes Ewigkeit. Das zeitliche Leben und seine zur Selbsterhaltung nötig gewordenen Bewußtseinskorrelate, seine ‘Bilder’, wer­den Vergessen, sinken also aus dem Bewußtsein ab. Der Mensch wird ‘überbildet’ vom Bild Gottes, überformt von dem Nichts Gottes. Diese Erfahrung ist radikal: selbst der Traum lebt aus Bildern des zeitlichen Lebens und für uns ist schlechthin kein Bewußtseins­stand denkbar, der völlig frei ist von den Bildern, den Eindrücken der Sinne von der Welt. Nur die kantsche Hilfsgröße einer „tabula rasa’, die es selbst im pränatalen Entwicklungsgang des Embryos nicht gibt, wäre geeignet, Eckharts Negation aller Sinneseindrücke zu stützen. Die Bildelosigkeit bedeutet Endstation eines langen Bewußtseinsprozesses der Entwerdung zum Bewußtsein des reinen Nichts. Dieser Stand ist nicht aussprechbar und mitteilbar, selbst nicht denkbar, da Sprechen Bildersetzen bedeutet und Bilder fürs Bildelose machen unmöglich ist, obwohl es dazu den Mystiker immer wieder zu drängen scheint. Die Ver­einigungserfahrung ist also vom Paradox gekennzeich­net: Schon das Wort Nichts ist Etwas.

 

Diese Mystagogie ist als Reisebericht formuliert, ist indikativisch, nicht Imperativisch strukturiert. Eckhart will nicht befehlen, wie es gemacht wird, sondern einige Stadien auf dem Weg andeuten, den er erfahren hat. Eckhart kommentiert diese Mystagogie mit Gleichnissen, die wieder jeder verstehen kann, weil sie einfach sind. Der Mensch „muß aus allen Bildern und aus sich selbst ausgehen und allem dem gar fern und ungleich werden, wenn anders er den Sohn nehmen und Sohn werden will und soll in des Vaters Schoß und Herzen.“[144] Innere Distanz zur Welt und zum Ich und Negation aller Kreaturgebundenheit schaffen eine ataraktische Ruhe, heben auch die zuerst beschriebene Spaltung in Geist und Fleisch derart auf, daß die Kategorie Fleich ver­gessen wird, dem mystischen Bewußtsein also entfällt. Darum ist auf dieser Ebene der anthropologische Dualismus durch Elimination der Triebschicht aufgehoben und die verbleibende Bewußtseinsgestalt ist die von Einheit, wie sie in der Präexistenz vermutet wird. „Die göttliche Natur ist Eins, und jede Person ist auch Eins und ist dasselbe Eine, das die Natur ist. Der Unterschied zwi­schen Sein und Wesenheit wird als Eins gefaßt und ist Eins. Da, wo es nicht in sich verhält, da empfängt, be­sitzt und ergibt es Unterschied.“[145] Mensch und Natur werden als Einheit behauptet und als in sich identisch. Eckhart hat darin selbst kosmo- und phylogenetisch die Wahrheit getroffen. Neuplatonisches Erbe ist seine Unter­scheidung von Sein und Wesenheit, die wir auch als einen Kerngedanken im ‘Buch der göttlichen Tröstung’ finden. „Die Gutheit ist weder geschaffen noch gemacht noch ge­boren; jedoch ist sie gebärend und gebiert den Guten, und der Gute, insoweit er gut ist, ist ungemacht und ungeschaffen und doch geborenes Kind und Sohn der Gutheit.“[146] Nach Platon gibt es eine präexistenten Ideenhim­mel, in dem alle Gestalten versammelt sind im Status von Wesenheiten, Ideen. Diese göttliche Kategorie ist allen unseren Lebeniskategorien enthoben und existiert zeitlos-ewig ohne Raumbegrenzung noch irgend andere Grenzen. Diesem allgemeinen Prinzip von etwas steht die emanatorisch gedachte entäußerte Besonderung zum konkret vorliegenden Fall, in dem das allgemeine Prinzip für uns Gestalt gewinnt, gegenüber. Die Wesenheit gestaltet sich nur in der konkreten Ausformung des Seins, sie gebiert sich quasi ins Sein hinein. Eckhart spricht der Wesen­heit also Subjektivität zu. Das Allgemeine kann aus sich heraus besondere Gestalten seiner selbst freisetzen. Gott kann als ewiger und unbegrenzter den Menschen und die Natur aus sich heraus freisetzen, worin er sich selbst verdoppelt und zugleich entäußert, da der Teil seiner selbst, der hinfort Natur und Mensch ist, von Nichtidentität mit dem Identitätsprinzip Gott gekenn­zeichnet ist. Eckhart denkt hier mit Oben-Unten und Gut-Schlecht-Wertungen, was wohl wieder im Bestreben nach pädagogischer Simplifikation des Darzustellenden fundiert ist. Der Mensch muß als Sein Gottes zur Wesen­heit zurückkehren. Darum muß er den Seinsteil modifizieren und alle Verunreinigungen seines oberen, göttlichen Wesensgrundes durch Vergessen negieren. Das entäußerte Sein der Wesenheit muß sich der Wesenheit wieder gleichgestalten, um in sie wieder einzukehren und mit ihr identisch zu werden. Wenn der Mensch nach Purgation von Trieb und Umwelt mit sich im Nichts völlig identisch, einig, geworden ist, ist er als Sein der Wesenheit Gott dieser Wesenheit gleichgestaltet, da Gott wesenhaft für Eckhart Einheit bedeutet. Durch die Gleichgestaltung von Sein und Wesenheit ist die Entäußerung aufhebbar. Weil sowohl Sein in sich Einheit geworden ist wie auch Wesenheit immer schon Einheit war, können nun Sein und Wesenheit selbst zur Einheit werden, das ist die Einheit von Gott und Mensch. Auf der Suche nach seiner Wesenheit muß der Mensch sein Sein zur Einheit bringen, um die Wesenheit aufgrund des analogen Erkenntnisprinzips er­kennen können. Die Tradition des Analogieempirismus reicht von Empedokles über Parmenides, Aristoteles, Platon in den von der Scholastik aufgenommenen Neuplatonismus. Die theoretische Unterscheidung von Sein und Wesen, Ontik und Ontologie, macht es möglich, das jeweilige Seiende als unwesentlich zu bezeichnen und vermöge der Differenz von Sein und Wesen Innovationsprozesee einzuleiten und deren Notwendigkeit als evi­dent zu legitimieren. Damit also das Sein sein Wesen erkennen kann, muß es ihm gleich sein, denn Gleiches kann nur von gleichem erkannt werden.[147] Eckhart überbietet jedoch sprachlich das Gleichheitsprinzip durchs Einheits­prinzip. Gleiches ist noch nicht zwingend identisch, das aber sagt Eckhart von Gott und Mensch aus: Identität. „Alle gleichen Dinge lieben sich gegenseitig und ver­einigen sich miteinander“.[148] „Geh völlig aus dir selbst heraus um Gottes willen, so geht Gott völlig aus sich selbst heraus um deinetwillen. Wenn diese Beiden heraus­gehen, so ist das, was da bleibt, ein einfaltiges Eins. In diesem Einen gebiert der Vater seinen Sohn im inner­sten Quell. Dort blüht auch der Heilige Geist, und dort entspringt in Gott ein Wille, der gehört der Seele zu.“[149] Zur Vereinigung gehört also beidseitige Selbst­entäußerung, sodaß sich als Medium der unio das Nichts erweisen wird, Im Nichts sind Wesen und Sein, Gott und Mensch, Gutheit und das Gute identisch. Eine weitere Aussage wäre die: Gott ist das Wesen des Menschen.


Identität von Identität und Nichtidentität wird für Eckhart Ziel der unio. Nach der knappsten Formel, die je ein Mystagoge finden konnte („Sei Eins, auf daß du Gott finden könnest!“), beschreibt er auf einer sehr abstrakten Ebene das Verhältnis von vita contemplativa und activa, wenn dies an dieser Stelle auch noch nicht namentlich thematisiert ist: „Und wahrlich, wärest du recht Eins, so bliebest du auch Eins im Unterschied­lichen, und das Unterschiedliche würde dir Eins und vermöchte dich nun ganz und gar nicht zu hindern. Das Eine bleibt gleichmäßig Eins in tausendmal tausend Steinen“.[150] Eins im Unterschied heißt nichts anderes als Identität in Nichtidentität.

Rekapitulierend läßt sich nun verkürzen: Aus der Wesen­heit Gott ist die Kreatur Mensch und Natur als entäu­ßerte und verfremdete Dimension des Göttlichen selbst hervorgegangen. Ungöttlich an und in ihr ist die ver­lorene Einheit, also die Zerrissenheit und Unterschiedenheit. Um zum göttlichen Ursprung zurückzugelangen, muß im Sein durch Elimination aller Bilder und Gegen­ständlichkeit aus der Seele eine Einheit geschaffen werden; dies ist die machbare Anstrengung des Mystikers in der Entbildung. Ziel der Entbildung ist das Nichts als völlige Ledigkeit des Bewußtseins (dh der Seele). Nichts und Identität werden hierin identisch. Damit ist das Sein in die Gleichgestaltung mit dem Wesen gekommen. Nun kann sich die göttliche Einheit des Wesens in den Menschen ergießen, das ist die Gottesgeburt in der Seele.

Die Subjektsdiffusion von Mensch und Gott geht in der seelischen Erfahrung Eckharts so weit, daß er mensch­liches Erkennen mit dem Erkennen Gottes identifiziert.[151] „Gott erkennt im Erkennen seiner selbst sich selbst in sich selbst.“[152] In Hegel kulminiert schließlich dieser Vernunft- und Erkenntnis­begriff zu dem der Selbsterkenntnis Gottes im Menschen. „Daß der Mensch von Gott weiß, ist nach der wesentlichen Gemeinschaft ein gemeinschaftliches Wissen, insofern Gott im Menschen von sich selber weiß.“[153] Der Rück­gang in den Seelengrund als tiefster Tiefe des Subjekts dient „einzig (der) Aufhebung jener Gegenständlichkeit, mit der der Mensch behaftet ist als mit einer fremden.“[154] Natur, Zeit, Raum und Körperlichkeit stellen bei Eckhart dieses Fremde im Menschen dar. Der Mensch ist sich in Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Körperlichkeit selbst entfremdet, sofern er von diesen Dimensionen aufgesogen wird, also - nach der Zweinaturenlehre - sich im Fleisch, im äußeren Menschen beheimatet glaubt. Eckhart arbeitet die Doppelbedeutung von Mensch heraus und fügt der ebengenannten des äußeren Menschen die schon bekannte des inneren Menschen hinzu, die auf eine durch Negation allen Positiven, äußerlich Gegenständ­lichen des Selbstes zu erreichende transzendentale Egoität hinausläuft, bestimmt als ein Selbst ohne Ego. Die Aufhebung der Kreatürlichkeit geschieht in den Intellekt hinein. Schon als Bedürfnis liegt das nach Erkenntnis vor, wie die Sündenfallgeschichte Gen 3,22 dies illustriert. Eckhart „steht auf der Schlangenseite“[155] und betont den Pri­mat von Erkenntnis, „denn die Erkenntnis ist ein Licht der Seele, und alle Menschen begehren von Natur nach Erkenntnis, denn selbst böser Dinge Erkenntnis ist gut.“[156]

Der neuzeitlich-positivistische Erkenntnisbegriff, der etwa in Husserls Parole „Zu den Sachen“, die vom eigenen Sachkontext bei Husserl schon Lügen gestraft wird[157], einen Antreiber findet, findet im Eckhartschen Erkennt­nisbegriff seinen Gegenspieler. „Wenn man die Kreatur in ihrem eigenen Wesen erkennt (also ‘Zu den Sachen’; M.L so heißt das eine ‘Abenderkenntnis’, und da sieht man die Kreaturen in Bildern mannigfaltiger Unterschiedenheit; wenn man aber die Kreaturen in Gott erkennt, so heißt und ist das eine ‘Morgenerkenntnis’, und auf diese Weise schaut man die Kreaturen ohne alle Unter­schiede und aller Bilder entbildet und aller Gleichheit entkleidet in dem Einen, das Gott selbst ist.“[158] Aus der unio heraus wird eine neue Erkenntnisart möglich. Daß sie letztlich keine neue ist, wäre andererseits das verblüffende Ergebnis eine radikalen Erkenntniskritik selbst, in der sich der Positivismus als verdrängter Platonismus entpuppt. „Wiederum trägt eine Art von Dia­lektik wider Willen sich zu: die Maxime, nach den Tat­sachen sich zu richten, unterhöhlt den Begriff des Tatsächlichen selber, den nominalistischen Vorrang des Da­tums vorm Begriff, und der letztere reklamiert die positivistische Gediegenheit des Sachverhalts.“[159] Erkenntnis in Gott sieht in allem die Einheit, das Wesen. Erkenntnis im eigenen Wesen der Natur sieht, phänomenologischer, in allem Unterschiede. In der Er­kenntniskritik koinzidieren Projektion und Erkenntnis. „In gewissem Sinn ist alles Wahrnehmen Projizieren ... Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurückläßt.“[160] Erkenntnis als Rückspiegelung der Sinneseindrückungen wäre der Zentralbegriff, unter den beide Erkenntnis­begriffe zu fallen hätten: Die Erkenntnis in Gott wäre Rückspiegelung der in der unio erfahrenen Einheit auf alles Kreatürliche. Die Erkenntnis aus der Kreatur her könnte nur die Erfahrung des Unterscheidung der ver­schiedenen Gegenstände zurückspiegeln. Weil Eckhart sagt, daß die Natur aus Gott kommt und also ihr Wesen in Gott, dh. der Einheit hat, ist es folgerichtig, wenn er sagt, daß wesensmäßig die Natur nur aus ihrem Wesen Gott her erkannt werden kann, somit als Einheit, die sie wesentlich ist. Dieser Wesensschau steht eben die differenzierende analytische Erkenntnis gegenüber, die sich rein am Vorfindlichen, am Sein und nicht am Wesen, orientiert und dessen Sinneseindrücke spiegelt. Die Erkenntnis aus Gott projiziert ihre Einheitserfahrung auf die unterschiedenen Kreaturen und verblendet sich gegen deren Differenz. Den metakritischen Verdacht der verblendeten Projektion muß sich der Echhartsche Erkenntnisbegriff allerdings nur gefallen lassen um den Preis der Positivismus-Kritik, der dasselbe vorzuwerfen ist, mit dem Unterschied, daß der Positivismus sich geschickter vorm Projektionsverdacht getarnt hat.

Aber auch die einzige Waffe gegen Projektion, die Re­flexion, scheitert im Eckhartschen Erkenntnisbegriff. Die Aufhellung der unio als vermittelter Unmittelbarkeit wäre immer noch Reflexionsbestimmung, wäre immer noch im Reich der Unterscheidung und wäre immer noch kreatürliche Erkenntnis. Die Spitze der Aussagen Eckharts greift immer wieder zur Tautologie und wird so nichts­sagend wie gerade es das Nichts ist, von dessen unsag­barer Erfahrung er künden muß, und wäre es einem Opferstock. Darum kommt Eckhart zu einer solch unreflektier­ten Aussage wie der der reinen Gottesunmittelbarkeit ohne jegliche Vermittlung und ohne eben die Vorprägung seiner mystischen Erfahrung durch die Tradition der Mystagogie, in der er sich bewußt eingebettet sieht. Notwendig sogar muß die Aussage „Jederart Vermittlung ist Gott fremd.“[161] ohne die Einschaltung von Reflexion getroffen werden, sofern sie die unio-Erfahrung be­schreiben will, wobei die Beschreibung der Erfahrung gerade der Schritt ist, in dem sie aufgehoben wird und Hinreise in Rückkehr überführt. Zur Autentizität der Berichterstattung über die unio gehört die Aussage von der Unmittelbarkeit; die Aussage selbst aber ist ihrem Wesen gemäß ein Reden über die unio, also Reflexion und damit auch Vermittlung. Darin kulminiert das ganze Paradox mystischer Texte: im Bild fürs Bildelose, im Künden des Unsagbaren, in der sprachlichen Vermittlung des Unmittelbaren. Das einzig folgerichtige Verhalten des mystischen Menschen wäre Wittgensteinsches Schwei­gen. Ansonsten zerstört gerade die Aussage des Unsagbaren dessen Wahrheit. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“[162]

Um dem Anschein zu knapper Textbasis zu entgehen, mag ein letzter Befund dem Leser Gewähr geben, daß hier die Probleme des Textes verhandelt werden. Zur Frage der Reflexion grenzt sich Eckhart ab von solchen, die meinen, „daß Blume und Kern der Seligkeit in jener Erkenntnis liegen, bei der der Geist erkennt, daß er Gott erkennt“.[163] Er betont den Primat der Gotteser­kenntnis vor der Reflexion, dh der Erkenntnis der Gottes­erkenntnis. „Das erste, worin die Seligkeit besteht, ist dies, daß die Seele Gott unverhüllt schaut. Darin empfängt sie ihr ganzes Sein und ihr Leben und schöpft alles, was sie ist, aus dem Grunde Gottes und weiß nichts von Wissen noch von Liebe noch von irgend etwas überhaupt. Sie wird ganz still und ausschließlich im Sein Gottes. Sie weiß dort nichts als das Sein und Gott. Wenn sie aber weiß und erkennt, daß sie Gott schaut, erkennt und liebt, so ist das der natürlichen Ordnung nach ein Ausschlag aus dem und ein und ein Rückschlag in das Erste“.[164] Die Metareflexion über die unio wird also der unio subordiniert und trägt nur den Status eines „Ausschlages“. Noch schärfer entwertet Eckhart die Reflexion weiter unten.

„Ewiges Leben sei dies: Gott allein als den einen, wahren Gott zu erkennen, nicht: zu erkennen, daß man Gott erkennt.“[165] Zuordnungen von erkennen zum erkennen, daß man erkennt, durchlaufen den letzten Passus. Für die Seligkeit ist nur die Gotteserkenntnis konstitutiv, nicht deren Metaerkenntnis. „Wenn aber die Seele erkennt, daß sie Gott erkennt, so gewinnt sie zugleich. Erkenntnis von Gott und von sich selbst.“[166] Selbsterkenntnis ist demnach die Auswirkung der unio-Erfahrung, wenn sie reflektiert wird. Es wäre eben die Dimension, deren Produkt der vor uns liegende Eckhart-Text ist. Dieser Text ist Resultat des Vollzuges einer Selbstschau, also praktische Theorie und theoretische Praxis, zu Text geronnen. Eckhart hebt also zwei Dimensionen des mystischen Bewußtseins voneinander ab: die unio von der Selbsterkenntnis.

Zwar sei hienieden, in uns jene Kraft, durch die wir wissen.und erkennen, daß wir sehen, edler und höher ... als die Kraft, vermöge deren wir sehen“[167], das irdische Erkenntnisprinzip sei also das von Reflexion, aber Gott habe in seiner transtemporalen Ewigkeit die Dinge wesenhaft als einfaches Sein ohne Unterscheidung geschaffen, woraus für das göttliche Erkenntnisprinzip der Wegfall jeder Metareflexion folgt, die nämlich schon Entzweiung ist. Reflexion gehört dem Menschen also als irdische Bestimmung an. Die Erfahrung und das Verweilen in der schönen vereinigten Seele ist dagegen die allein entscheidende, seligmachende göttliche Bestimmung des Menschen. Das gleiche Problem verhandelt der späte Schelling: „Das unbefangene Sein ist überall nur das, was sich selbst nicht weiß; sowie es sich selbst Gegenstand wird, ist es auch schon ein befangenes. Wenden Sie diese Bemerkung auf des vorliegende an, so ist das Subjekt in seiner reinen Wesentlichkeit als nichts - eine völlige Bloßheit aller Eigenschaften - es ist bis jetzt nur Es selbst und soweit eine völlige Bloßheit von allem Sein und gegen alles sein; aber es ist ihm unvermeidlich, sich selbst anzuziehen, denn nur dazu ist es Subjekt, daß es selbst Objekt werde, da vorausgesetzt wird, daß nichts außer ihm sei, das ihm Objekt werden könne; indem es sich aber sich selbst anzieht, ist es nicht mehr als nichts, sondern als Etwas“.[168] Die Gefahr des Erkennens des Erkennens Gottes ist also die der Selbstobjektivation und damit die der Zerstörung der unio und ihrer Seligkeit.

Anscheinend war aber Eckhart gegen diese Gefahr ge­wappnet, denn er thematisiert sie nicht ausdrücklich. Die Gründe seiner Abgeschirmtheit gegen den Rückfall ins vergewaltigende, objektivierende, analysierende Unterscheiden wird die Besprechung des zweiten Testes zeigen.

Obwohl Eckhart denken kann - ja: weil er denken kann! - weiß er, wie wenig Denken ist. Und an dieser Stelle werden alle zu schnellen Beifallklatscher der vielge­rühmten Spekulationsmystik, die sich gegen der Frauen unheimlich anmutendes Gefühl so auffallend heftig ab­gegrenzt haben[169], zum Stillsein gebracht. „Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur.“[170]

Der Schlußsatz der Schrift ist ein Unikum. „Eines mit Einem, Eines von Einem, Eines in Einem und in Einem Eines ewiglich. Amen.“[171] Die scheinbaren Tautologien entpuppen sich als äußerst aussagehaltige Quintessenzen:

 

-         Eines mit Einem - Gott mit Mensch - ewiges Nun.

-         Eines von Einem - Mensch aus Gott - Emanation

-         Eines in Einem - Gottgeburt im Seelengrund

-         in Einem Eines - In Gott lebt der einige Mensch

 

Ähnliches Deutungsmöglichkeiten ergeben sich bei der Einsetzung der Begriffe Mensch-Natur oder Gott-Natur. Gegenüber allen Begriffseinsetzungen hat Eckharts Ver­sion den absoluten Vorzug: sie ist endlich zu dem vor­gestoßen, was propagiert wurde. In der völligen Aussagelosigkeit des Wortes Eins ist der Grad von Bildelosigkeit antezipiert, in den Eckhart nach diesen Worten zurückgekehrt sein mag.

4.2. Von Abgeschiedenheit

Bei meiner textübergreifenden, kontextorientierten Verhandlung der Textprobleme sind Überschneidungen zwischen beiden Texten unvermeidlich, zumal im Problem­feld, da für Eckhart charakteristisch ist, daß er im Grunde nur einen Gedanken hat, den er beständig vari­iert. Ich werde bemüht sein, Problemwiederholungen in Form verknappender Rekapitulationen darzustellen.

Ausgehend von der Frage, welche Tugend den Menschen Gott am nächsten bringe, vergleicht Eckhart die Ab­geschiedenheit nacheinander mit den drei Tugenden Liebe, Demut und Barmherzigkeit. Unter der Annahme, daß dieser Text wiederum bestimmt ist für Mitmönche, ist damit ein generatives Thema[172] gewählt, worin sich zum wiederholten Male Eckharts Pädagogennatur manifestiert .

Gleich zu Anfang führt Eckhart die Lehre von der Prä­existenz der Seele ein. Verhelfe einer noch zu findenden Tugend solle der Mensch ‘von Gnaden’ werden, „Was Gott von Natur ist, und durch die der Mensch in der größten Übereinstimmung mit dem Bilde stände, das er in Gott war, in dem zwischen ihm und Gott kein Unterschied war, ehe Gott die Kreaturen erschuf.“[173] Darin ist implizit die Urbild-Abbild-Theorie des Neuplatonismus. Der kreatürliche Mensch ist nur Abbild seines urbildlichen Wesens, welches er in der präexistenten Einheit mit Gott hatte und aus dem er mit der gesamten Schöpfung der Kreatärlichkeit quasi herausgefallen ist. Es geht also um Wiederherstellung eines Urstandes, um Affinität zum eigenen Urbild, welches eins mit Gott ist. Da dieser Urstand durch die Kategorie der Kreatürlichkeit in der Schöpfung zerstört wurde, muß Primärinteresse des auf Urstandswiederherstellung bedachten Mystikers die Los­lösung von seiner Kreatürlichkeit sein. Unter allen Tugenden ist Abgeschiedenheit die einzige, die diesem Anspruch genügt. Aber der Mensch kann solche Einheit mit seinem Wesen nur ‘von Gnaden’ haben, also als ein Geschenk, während Gott mit sich wesenseins ist ‘von Na­tur’.

In der Liebe zwingt sich der Mensch zu Gott, in der Abgeschiedenheit zwingt umgekehrt der Mensch Gott zu sich. Liebe erträgt alle Dinge, Abgeschiedenheit erträgt nichts als Gott allein. In diesen beiden Thesen konfrontiert Eckhart ein radikal ungewöhnliches Verhalten zu Gott mit christlicher Durchschnittsethik. Fast ist es schon Blasphemie, Gott zwingen zu wollen, daß er mich liebt. Aus der anarchistisch bis aufrührerisch klingenden Formulierung wird eins deutlich: Gott wird bei Eckhart nicht in die Zwangsjacke eines Personalismus gesteckt, der in der Christentumsgeschichte ohnehin jeweils nur eine anthropomorphistische Projektion des internalisierten Vaterimago auf ein ins Überirdische verlegtes Omnipotenzresiduum war. Eine weitere Implikation des Zwanges ist die Aktivität. In der Liebe ist der mensch aktiv, um zu seinem Nicht-Ich zu gelangen, in der Ab­geschiedenheit läßt sich der Mensch passiv, um ganz die Aktivität der Vereinigung Gott zu überlassen, dem dies besser gelingt, weil er die Kunst der Vereinigung als sein Wesen betreibt. Eckhart nimmt die Metapher der Räumlichkeit, um zu verdeutlichen, wieso der Abgeschie­dene Gott zur Präsenz zwingen kann. „Gottes naturge­mäße eigene Stätte ist nun Einheit und Lauterkeit: das aber kommt von Abgeschiedenheit. Deshalb muß Gott not­wendig sich selbst einem abgeschiedenen Herzen geben.“[174] In der Abgeschiedenheit wird der Mensch Gott gleich­gestaltet, wird Identität und Reinheit, als die sich Gottes Wesen bestimmen lassen.

Die Argumentation der zweiten These über Liebe läßt sich auf die Formel von Liebe als Zerstreuung des Ich an alles und Abgeschieden­heit als Konzentration des Ich auf Eines, auf Gott, brin­gen. Wir sahen oben, daß Vielheit und Unterscheidung Charakteristika der Kreatürlichkeit waren, Einheit aber Wesensmerkmal Gottes.

Die Kategorie des Nichts wird eingebracht. „Was immer aufgenommen werden soll, das muß in etwas hinein aufgenommen werden. Nun ist die Abgeschiedenheit dem Nichts so nahe, daß nichts so fein ist, daß es sich in der Abgeschiedenheit halten könnte, als Gott allein.“ Aussagelogisch wird die Räumlichkeits­metapher beibehalten, Abgeschiedenheit ist wie ein Behälter, dessen Rauminhalt Null ist und der also nur Dinge aufnehmen kann, die nicht größer als Null sind. Inhaltlich heißt das aber, daß Seele und Gott im Nichts koinzidieren, dessen reine Einheit oben schon betont war.

Der Gedanke der Nichts-Werdung wird im Vergleich von Abgeschiedenheit mit Demut wiederaufgenommen und ent­faltet. Demut ist Vernichten des eigenen Selbst. Ab­geschiedenheit ist im Nichts, also kein Prozeß mehr wie die Demut. Demut ist Zu-Nichte-Werden, ist Entwerdung und damit notwendige Voraussetzung von Abgeschie­denheit, die in Im-Nichts-Sein ist und darin unwandel­bar, wie unten gesagt wird. Eckhart leistet sich hier logische Bocksprünge ohnegleichen, wird absurd, um sich der Wahrheit von Abgeschiedenheit zu approximieren. Seine Paradoxe stoßen an die Grenzen unserer aristote­lesgeschulten Logik der Widerspruchslosigkeit. Dabei wird sowohl die Grenze der Mitteilbarkeit von Mystik wie die der Systemtreue zu Semantik und Grammatik durch­stoßen. „Nun rührt Abgeschiedenheit so nahe an das Nichts, daß zwischen vollkommener Abgeschiedenheit und dem Nichts nichts sein kann.“[175] Damit ist gesagt, daß Abge­schiedenheit und Nichts identisch sein müssen, wenn man es nicht mengenalgebraisch als Angrenzung zweier Mengen auffaßt. Es wäre aber allzu sophistisch, auf einer solchen formallogischen Ausdeutung zu beharren, zumal ja alle Begriffe Eckharts stark metaphorisiert sind und sich gerade gegen peinliches Differenzieren sträuben.

Die zweite These über Demut ist, daß sie ein Aussich­gehen unter alle Kreaturen ist, wohingegen Abgeschieden­heit ein Insichbleiben in sich selbst ist, sie „will nichts anderes als sein. Daß sie aber dies oder das sein möchte, das will sie nicht; denn wer dies oder das sein will, der will etwas sein, Abgeschiedenheit hingegen will nichts sein.“[176] Was nun, einmal will sie sein, dann wieder nichts sein - Widerspruch? Die Logikgrenze wäre bei solche billigem Verständnis erreicht, ich sagte, sie wird überschritten von Eckhart und deshalb ist hier ein korrektes Verstehen mehr als Mathematik und ein wort­lautorientierter Streit um die rechte Bedeutung sowohl in Eckharts Ketzerprozeß wie in dieser Arbeit unmöglich. Nichtsseinwollen heißt Ledigseinwollen von Kreatürlichkeit und deren wesentlicher Bestimmung des immer als ein Etwas, als ein beeigenschaftetes Sein existieren zu müssen. Das kreatürliche Sein, einschließlich Demut, hat Gestalt, hat Bestimmungen, ist immer ein So-Sein. Es ist kein reines Sein, kein einfaches, unbestimmbares, uneigen-schaftliches Sein. Das reinste Sein ist das Nichts.

Jetzt folgt ein Abschnitt Gotteslehre, die mit der schon behandelten Binaturenanthropologie und der später folgenden Binaturenchristologie strukturell übereinstimmt! Gott hat sowohl Abgeschiedenheit als auch Demut in sich. „Nun sollst du wissen, daß die liebeträchtige Demut Gott dazu brachte, daß er sich in menschliche Natur herabneigte, während Abgeschie­denheit unbeweglich in sich selbst verharrte, als er Mensch ward, wie sie es tat, als er Himmel und Erde erschuf, wie ich“.[177] Zugleich entäußert sich Gott in der Schöpfung und Neuschöpfung und nimmt Knechts­gestalt an, während er in sich innebleibt, unbeweglich in sich selbst verharrt, quasi kataton reagiert. Beide Bewegungen sind extrem gegenläufig und schließen sich für die normale menschliche Evidenz gegenseitig aus, sofern Gott Einheit ist und nicht aus verschiedenen Wesenheiten besteht, die getrennt voneinander verschie­dene Dinge betreiben können. Festzuhalten wäre aus der Stelle noch der Schluß, daß Kreatürlichkeit in der Weltschöpfung Gottes aus seiner Demut, also aus seiner Selbstentäußerung geworden ist und ihr von daher auch das Prinzip der Entäußerung wesenhaft mitgegeben ist. Beinahe könnte man sagen, daß Gott sich in Demut ent­äußert hat zur Schöpfung, war eine Untugend um den Aufpreis des Zerfalls seiner Wesenseinheit.

Hier wird in der Gotteslehre erstmalig im bisherigen Textverlauf meiner These von der Gleichzeitigkeit der Abgeschieden­heit und den kreatürlichen Tugenden der vita activa Material gegeben, festzumachen am ‘während’ im Zitat. Weitergenährt wird auch der Hinweis auf Reflexion als objektivierende Aufhebung der Subjekt-Objekt-unio. „Kein Herausgehen aber kann so geringfügig sein, daß die Abgeschiedenheit dabei ohne Makel bleiben könnte.“[178] Kontext und Bedeutung von ‘heraustreten’ ist, daß Maria wohl über ihre Demut reflektierend spricht, aber nicht über ihre Abgeschiedenheit, denn hätte sie „mit einem Wort ihrer Abgeschiedenheit gedacht, ... so wäre damit die Abgeschiedenheit getrübt worden“.[179]

Barmherzigkeit treibt raus aus dem Ich hin zum Leiden der Mitmenschen und läßt solidarisch leiden. Abgeschie­denheit bleibt frei vom Mitleiden, denn das ist Entäu­ßerung, sie läßt sich „von nichts betrüben“ und verharrt in sich selbst. Wir finden hier - mit nicht wenig Erstaunen - das Modell perfekter Ataraxie.

„Wann immer der freie Geist in rechter Abgeschiedenheit steht, so zwingt er Gott zu seinem Sein; und könnte er ohne jede Form und ohne alle Akzidentien dastehen, so nähme er Gottes eigenes Sein an. Das aber kann Gott niemand geben als sich selbst; daher kann Gott dem abgeschiedenen Geist nicht mehr tun, als daß er ihm sich selbst gibt.“[180] Nur Form und Akzidentien, also die kreatürlichen Bestimmungen und Unterscheidungen, bilden den Unterschied von Mensch und Gott. Der Mensch ist quasi der in die Form verschlagene Gott. Der Mensch kann Gott nicht nehmen, Gott kann sich aber geben, Aktivrolle hat also, wie gehabt, Gott allein. Das schließt nicht aus, daß der Mensch Gott zwingen kann in aktiver Weise, meint aber: daß die unio nicht allein im Willen des Menschen steht und fällt. Gott kann sich nur an sich selbst geben. Wenn Eckhart danach sagt, daß Gottes größte Gabe die Selbstgabe an den abgeschiedenen Men­schen ist, dann muß der abgeschiedene Mensch selbst Gott sein, wenn immer noch gelten soll, daß sich Gott nur sich selbst geben kann. Hier wird der Mensch um Gott vermehrt. Der Abgeschiedene wird in „die Ewigkeit entrückt“. Ewigkeit ist Aufhebung von Zeit. Was ewig ist, ist immer, zu jeder Zeit und kann nicht Werden und nicht vergehen, da solches Zeitattribute sind. Es ist jeder Zeitlichkeit enthoben. In Ewigkeit gibt es kein früher, kein tyi$"r:b, keine Zukunft, keine Ge­schichte und erst recht keine Heilsgeschichte. Eschatologie trifft man deshalb bei Eckhart nicht an. Der an Ewigkeit partizipierende Abgeschiedene ist daher den Kreatürlichkeitsgrenzen von Vergänglichkeit, Leiblich­keit, Irdischsein und Weltlichkeit enthoben. Er ist transzendent gegenüber diesem unteren Sein, bis unter die Gürtellinie. Alles ist in Ewigkeit zeitlos und zugleich zu jeder Zeit. Damit ist die religionsphänomenologische These von der Unendlichkeits­partizipation endlicher Wesen im Kultspiel auch für die Mystik gültig. Zur Argumentationstechnik Eckharts wäre zu vermuten, daß er sofort der Inquisition anheimge­fallen wäre, hätte er auch nur einmal offen von der Identität des Abgeschiedenen als Abgeschiedenem mit Gott gesprochen. Er scheint aber durch logische Zuspitzung den Empfänger seiner Lehre zu solchen Schlüssen zu zwingen, ohne selbst dafür autorisierbar gemacht werden zu können. Dabei muß allerdings sogleich einge­wendet werden, daß Eckhart gar kein Interesse daran hatte, gegen kirchliche Tradition zu verstoßen, sodaß ihm vielleicht sogar das Paradox eher als Stilmittel gedient hat, um den Schluß der Gottesidentität mit dem Menschen zu evozieren.

Ich muß an dieser Stelle meinen eigenen Begriff der Identität anfechten. Er ist ungeeignet, den Vereinigungsgedanken Eckharts zu übermitteln, zudem anachronistisch, da die Idee abstrakter Identität erst auf dem Boden des bürgerlichen Individualismus sich hat ausbilden können. Gegen den naturwissenschaftlichen Identitäts­begriff muß ich mich im Kontext geisteswissenschaft­licher Arbeit gar nicht erst verwahren. Es wäre dem Verständnis des Begriffs Identität zuträglich, ihn nicht zu streng gefaßt zu wissen.

Das Ataraxiebedürfnis Eckharts könnte genau wie das Trostbedürfnis Ausdruck der Zeitnot sein. Rechte Ab­geschiedenheit ist nichts anderes, „als daß der Geist so unbeweglich stehe gegenüber allem anfallenden Lieb und Leid, Ehren, Schaden und Schmähungen, wie ein bleierner Berg unbeweglich ist gegenüber einem schwachen Winde. Diese unbewegliche Abgeschiedenheit bringt den Menschen in die größte Gleichheit mit Gott.“[181] Der Begriff größter Gleichheit ist noch nicht der von Einheit, er wäre aber an dieser Stelle noch nicht angebracht, da der Gedankengang sich mit den notwendigen Bedingungen des Menschen zur unio befaßt und bisher noch nicht mit der unio selbst. Es werden jeweils die Wesensstrukturen von Menschenheit und Gottheit herausgearbeitet und mit­einander konfrontiert. Hieraus ergab sich die Fest­stellung von Übereinstimmungen. Eine solcher Übereinstimmungen, ausgedrückt als größte Gleichheit, ist die Ataraxie.

„Denn daß Gott Gott ist, das hat er von seiner unbeweg­lichen Abgeschiedenheit und von der Abgeschiedenheit hat er seine Lauterkeit und seine Einfaltigkeit und seine Unwandelbarkeit. Und daher, soll der Mensch Gott gleich werden, soweit eine Kreatur Gleichheit mit Gott haben kann, so muß das geschehen dureh Abgeschiedenheit.“[182] Erst die Abgeschiedenheit qualifiziert Gott als Gott. Abgeschiedenheit ist also das gemeinsame von Gott und Mensch, beider Göttlichkeit wird durch sie konstituiert. Ihre Gemeinsamkeit wird zum Medium ihrer Vereinigung. Die Abfolge

Abgeschiedenheit/  Lauterkeit/ Einfaltigkeit/    Unwandelbarkeit

stellt wieder ein mystagogisches Schema dar. Es folgen auf die Einsamkeit oder Loslösung von der Welt in Stufungen die Erfahrung des Nichts (Lauterkeit), der Identität (Einfaltigkeit) und die bis zur Ataraxie gesteigerte innere Ruhe. Aus solcher ‘Unwandelbarkeit’ entsteht Gleichheit mit Gott, „diese Gleichheit aber muß in Gnade erstehen“.[183] Der Unterschied göttlicher Abgeschiedenheit von mensch­licher Abgeschiedenheit ist, wie schon besprochen: Gott ist von Natur in sich eins, der Mensch nur durch die Gnade, da er ja von Natur her zwischen Kreatur und Gott zerspalten lebt und sich erst durch seinen Willen zur Einheit mit Gott entschließen muß, zu der Gottes Liebe hinzukommt und ihm in den Seelengrund steigt, das ist Gnade. Will sagen: von sich aus kann der Mensch nicht eins mit Gott sein, sondern bedarf Gottes Gnade; doch Gott ist eins mit sich von Natur, bedarf seiner nicht, weil er sich hat, er bedarf allerdings in gewisser Weise, nämlich in der Weise seiner Demut, der Kreatur und des Menschen, in dessen Erkenntnis er sich erkennt, insofern er erkannt wird.

Die Raummetapher bleibt: „Leer sein aller Kreatur ist Gottes voll sein, und voll sein aller Kreatur ist Gottes leer sein.“[184] Dieser Kernsatz polarisiert Gott und Kreatur, stellt vor die Alternative, mit was man sich füllen will. Dabei knüpft ‘leer-sein-aller-Kreatur’ an den Demutspassus an, in dem Selbstvernichtung als Auf­hebung internalisierter Kreatürlichkeit und deren Bildern zur Vorbedingung für Abgeschiedenheit erklärt wurde, der Entbildungsprozeß oder Entwerdungsprozeß ist gemeint. Selbstvernichtung ist keinesfalls als Selbstzerstörung zu verstehen, ersichtlich an Eckharts Schriften, die Dokument seines Weiterlebens auch noch nach dem Tode sind, den die unio bedeuten kann.[185] Selbst Vernichtung heißt nur Vergessen aller Kreatürlichkeitsprobleme, Liebe und Haß, Triebhaushalt und Sozialkontext, sowie Vergessen aller Ästhetik, die ja Inbegriff des Bildes ist. Die Wahrnehmung von Außenwelt und Triebwelt soll aufhören und die Einprägung derer Sinneseindrücke ins Bewußtsein soll aufgehoben werden, das meint Entbildung. Daraus folgt ein Bewußtseinszustand, dem buddhistischen Nir­wana gleich, als nichts denkend, nicht einmal Nichtig denkend, da schon ‘Nichts’ wieder Etwas im Denken ist. „Soll daher das Herz Bereitschaft haben zum Allerhöch­sten, so muß es auf einem reinen Nichts stehen, und darin liegt auch die größte Möglichkeit, die sein kann.“[186] Wo nichts ist, kann noch alles werden, darum ist völlige Nichtigkeit oder Ledigkeit gleich größter Offen­heit und Empfänglichkeit. Eine leicht ins sexistische abgleitende Variante des Ledigkeitsbegriffes ist das beliebte Fruchtbarkeitsbild Eckharts in seiner Deutung von Luk 10,38, wo Martha, noch unberührt, Jesus in sich aufnimmt. Reines Nichts, Jungfräulichkeit, „von allen fremden Bildern ledig“[187]-Sein, frei von „Ichgebun­denheit“[188], Fruchtbarkeit, Empfänglichkeit - dies sind Metaphern für den mit gelungener Entwerdung er­reichten Stand. Keinesfalls wäre die Jungfraumetapher derart mißzuverstehen wie heute sich eine Jungfrau fühlt, also im Sinne pubertierender Sehnsucht nach Erfüllung gleich welcher Art. Eckhart unterscheidet darum das ‘Nicht’ vom ‘Nichts’. ‘Nicht’ ist für ihn Mangel, erzeugt darum Bedürfen und Sehnsucht, fällt wieder in Triebschichten zurück, die der Abgeschiedene überwunden hat. „Hierum, wollt ihr vollkommen sein, so müßt ihr frei sein vom ‘Nicht’.“[189] ‘Nichts’ ist frei vom ‘Nicht’, hat keinen Mangel, da es in sich selbst verharren kann. Noch ein Hinweis zur Kategorie Nichts als größter Möglichkeitsschicht: Eckhart greift die creatio ex nihilo auf. „Alle Dinge sind geschaffen aus nichts; darum ist ihr wahrer Ursprung das Nichts, und soweit sich dieser edle Wille den Kreaturen zuneigt, verfließt er mit den Kreaturen in ihr Nichts.“[190] Aus Nichts ist zumindest alles Geschaffene geworden, soweit kann Eckhart nicht um die Wahrheit des Nichts als Möglichkeit des Alles herum, wenn er dann auch mit aller Deutlichkeit die Nichtigkeit alles Geschaffenen betont. „Alle Kreaturen sind ein reines Nichts... Alle Kreaturen haben kein Sein, denn ihr Sein hängt an der Gegenwart Gottes.“[191] Eine weitere Bildelosigkeitsmetapher ist die tabula rasa.[192]. Wo noch nichts geschrieben ist, kann viel notiert werden.

Im Sinne der am Text entlanggleitenden Paraphrase muß nun der Problemstand zurückgeschraubt werden in die Theo- und Kosmologie. Die Reflexion der Katagorie des Nichts war dem Eckhartschen Gedankenduktus vorweggeeilt. Leider bietet die Paraphrase wenig Möglichkeiten zur Systematisierung des gedanklichen Gehalts. Das muß nicht unbedingt ein Mangel sein, trotzdem bitte ich um Nach­sicht und Geduld.

Nach abermaliger Unterscheidung von Ewigkeit und Zeit entwickelt Eckhart den Prädestinationsgedanken. Gott steht ataraktisch in seiner Ewigkeit und man soll wissen, „daß, als Gott Himmel und Erde erschuf, das seine unbeweg­liche Abgeschiedenheit so wenig anging, als ob nie eine Kreatur geschaffen worden wäre.“[193] Dabei leistet sich Eckhart allerdings ein Unding: ‘von Ewigkeit her’ ist grammatikalisch eine zeitliche Formulierung, ebenso wie ‘noch’ im selben Satz. Etwas Zeitloses in Zeitkategorien ausgedruckt straft sich selbst Lügen. Schon der Begriff einer Präexistenz und Prädestination ist darum falsch, weil Ewigkeit nicht ‘vor’ aller Zeit ist, sondern wenn überhaupt, dann während aller Zeit. „In der Ewigkeit gibt es kein Vor und Nach. Darum, was vor tausend Jahren ge­schehen ist und nach tausend Jahren und jetzt geschieht, das ist eins in der Ewigkeit.“[194] In der Abgeschie­denheit wird man aus der Zeit in die Ewigkeit entrückt, in der man auch vor der Zeit schon war und nicht aufge­hört hat, während der Zeit zu sein. „So geschieht Ein­kehr in die Unmittelbarkeit des Augenblicks, als eine ebenso ungeteilte wie vollkommen esoterische; es geschieht Einkehr in einen Augenblick, der sich für die mystische Erfahrung nicht mehr in der Zeit befindet. Zeit und Augenblick waren sich nie so nahe, gar so ineinander wie Ewigkeit und dieser Augenblick. Nunc stans oder Nunc aeternum wird also sein Name, ein Name, worin die scheinbar gespanntesten Gegensätze: Augenblick und Ewigkeit wiederum sich vertauschen, in vollkommener dialektischer Einheit. Der Gott der Mystik war der Gott dieses Nunc aeternum, folglich der höchste Augenblick­gott; Jetzt ist darin Immer, Hier ist darin Überall.“[195] Die Unmöglichkeit, Ewigkeit zu denken, verflacht den Begriff zur pfadfinderischen Parole eines ‘Allzeit’, das wird immer wieder in Eckhart s Grammatik deutlich.

Ich gebe eine Predigtstelle, die die präexistente unio von Gott und Mensch im Ungeschaffenen, in der ersten Ursache, derart klar zeigt, daß der .Begriff des Wesens wegfallen kann, ebenso dessen Synonym Gott. „Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst. Ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein lediges Sein und ein Erkenner meiner selbst im Genuß der Wahr­heit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. Als ich aber aus freiem Willensentschluß ausging und mein geschaffenes Sein empfing, da hatte ich einen Gott; denn ehe die Kreaturen waren, war Gott nicht ‘Gott’: er war vielmehr, was er war. Als die Kreaturen wurden und sie ihr geschaffenes Sein empfingen, da war Gott nicht in sich selbst Gott, sondern in den Kreaturen war er Gott.“[196] Das erste Sein ist ungeschaffen, Einheit von Allem, von Gott, Natur und Mensch, von Wesen und Sache. Es ist Ursache, Ur-Sache, Ursache seiner selbst. Darin wird die Bestimmung Gottes als des Wesens fest­gehalten, das grundlos ist, weil es keine Ursache hat in etwas anderem als es selbst, diese Bestimmung der ersten Ursache als von nichts als sich selbst begründeter stammt von Thomas. Gerade dies erste Sein meinte auch Schelling im obigen Zitat. Selbstrückbezüglichkeit ist hier im Willensbegriff formuliert: Nichtswollen, Nichts­begehren, Ledigsein, Selbsterkennung, Wahrheit - diese Abgeschiedenheitstermini kulminieren in der Koinzidenz von Wille und Sein; sein, was man will und wollen, was man ist bedeutet: Einheit von Wille und Sein, Bedürnislosigkeit, die ja aus einem Zuwenig an Sein gegenüber dem Willen resultiert (im Hunger will ein Mensch mehr sein, als er gegenwärtig ist, er will ein Mensch mit vollem Bauch sein). Die Einheit von Sein und Wille ist also etwas gelungenes, ist Vollkommenheit und völlig autark-ataraktisch, ist ein In-Sich-Ruhen. Solcherart bestimmt Eckhart das erste Sein in der Ungeschaffenheit, in Ewigkeit, im Ideenhim­mel Plotins, in der Abgeschiedenheit. Begriff und Sache sind eins, res significans ist die res significata selbst. Dabei ist weder Ausdruck, Zeichen noch Begriff nötig, da es nicht zu vermitteln gilt, weil das einzige All­subjekt sich selbst als seinen eigenen Begriff hat.

Wesen und Sein stimmen überein, das Sein ist wesentlich, das Wesen ist. Darum kann jeder Begriff vom Wesen weg­fallen, weil er im Sein selbst-verständlich enthalten ist. Alle Zeichen werden überflüssig, sobald oder so­lange das Bezeichnete selbstbezeichnend ist, also sein eigenes Zeichen ist. Der Name Gott, das Symbol Gott, der Begriff Gott ist da überflüssig, wo sein Sein ist, wo es ein Sein gibt, welches identisch ist mit dem Wesen, welches wir mit Gott bezeichnen. Für Gott ist überflüssig, sich selbst zu sagen, daß er Gott sei. Gott kann seinen Namen vergessen, er braucht ihn erst gar nicht. Wenn er wesentlich bestimmt ist durch Abgeschiedenheit, also durch ein In-sich-Ruhen, so könnte man diese seine Wesenheit als seinen Begriff auffassen: Gott kennzeich­net sich durch seine Abgeschiedenheit. Das Wesen Gottes ist Abgeschiedenheit. Wenn es irgendein Seiendes gibt, für das als Wesensbestimmung die der Abgeschiedenheit geltend gemacht werden kann, so ist dieses Seiende Gott. Denn in diesem Seienden fallen Wesenheit und Sein zu­sammen und werden identisch: beide sind abgeschieden. Zur Abgeschiedenheit gehört aber wesentlich die Nicht­notwendigkeit der Entäußerung und Mitteilung, dh die Überflüssigkeit jeglicher Bezeichnung, die mehr wäre als das Bezeichnete selbst, das heißt Überflüssigkeit von Begriff, Name und Symbol. Sodaß ein wesenhaft ab­geschieden Seiendes wesenhaft auch keinen Namen haben kann, ergo: wenn Gott ist, kann sein Name nicht sein, wenn der Name Gott ist, mangelt es am Sein Gottes, so aber auch am Wesenhaften Gottes, also an Abgeschiedenheit. Hier strahlt ein Stück Atheismus im Christentum auf, als dessen eigene Tendenz. Ehe die Kreaturen waren, war Gott noch nicht ‘Gott’, sagt Eckhart und meint damit, es gab noch kein Wort ‘Gott’, um das Sein Gottes zu be­stimmen als die Wesenheit Abgeschiedenheit. Das Wort oder die mitgeteilte Idee ‘Gott’ wird sinnvoll erst da, wo seine Selbstverständlichkeit verloren ging, wo sein Wesen nicht mehr eins war mit seinem Sein, wo die Einheit zerstört war. Streng genommen hat das Wort ‘Gott’ nur missionarischen Sinn und Nutzen: als pädagogische Formel, um die Kreaturen aus ihrer Kreatürlichkeit in die ursprüngliche Einheit, in Abgeschiedenheit, in ihre verlorene Wesensbestimmung zurückzuführen.

Die Einheit Gottes ist zerfallen in seiner schöpferi­schen Entäußerung hinein in die Kreatur zum Wesen Gott als Begriff und zum Sein Gott als in mystischer unio wiederhergestelltes, unsagbares Sein. Für alle Kreatur besteht Gott darum nur noch in zwei Polen: im Namen und in der Erfahrung unio. Solange die Erfahrung fehlt, redet man von Gott, sobald die Erfahrung kommt, ver­stummt der Mund, schließen sich die Augen (mu=ein) und wird der Name Gottes vergessen, weil er gedacht ist und noch zum Bereich der ‘Bilder’ gehört, deren Entbildung Voraussetzung für das Nichts ist, dessen andere Seite das Alles Gottes heißt. Jetzt verstehen wir den Atheis­mus Eckharts ein wenig, den Bloch auf die Formel zu­spitzt: Gott kommt, wenn er geht.“[197] Christliche Mystik ist durchaus Hingebung an Gott, Gelöstsein in Gott, doch so, daß in dieser Passivität zugleich die Aggression eines ganz anderen Gelöstseins arbeitet: nämlich der Erlösung von Gott. ... So, daß auch die Gegensätze Gott und Nicht-Gott sich aufheben; sie gehören gleichfalls zu den Objektivitäten außerhalb der Burg. Gott stirbt, in­dem er im Nunc aeternum geboren ist; für Eckart ist Gott daher das lautere Nichts, nämlich das prädikatlos ge­wordene Alles.“[198] Befreiung Gottes von dem Prädikat ‘Gott’ erbittet Eckhart, der selbst sagt, daß Bitten etwas unabgeschiedenes ist, also Vorstufe der Abgeschie­denheit. „Darum bitten wir Gott, daß wir ‘Gottes’ ledig werden und daß wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglich genießen, wo die obersten Engel und die Fliege und die Seele gleich sind, dort, wo ich stand und wollte, was ich war, und wir, was ich wollte.“[199] Wer nichts ist, will auch nichts. Der Abgeschiedene ist nichts und will nichts. Für Eckhart bleibt als einzige Theologie die Negative, als Bilderverbot. „Darin, daß ich Gott etwas abspreche, ... erfasse ich etwas, was er nicht ist; eben das nun muß hinweg. Gott ist Eins, er ist ein Verneinen des Verneinens.“[200] Er verneint die gegenseitige Ver­neinung der Kreaturen, thematisch im Hegelschen Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie, Gott verneint, daß ein Tier dem anderen das Existenzrecht abspricht und es frißt, er verneint, daß ein Mensch die Seinsmöglichkeiten auch nur irgendeiner anderen Kreatur, nicht nur seiner Brüder, die er knechtet, antastet. Hier waltet Pazifis­mus höchster Radikalität, nur: wie ist er zu leben?

Hier führt Eckhart auch seine geliebte Stelle Exodus 3,l3f an, in der der Jahwename etymologisch erklärt werden sollte, wobei Eckhart den atlichen Vorschlag der Iden­tifikation von Gott mit sich selbst als seinem Sein bereichert um die Präzisierung des Seins Gottes als einem abgeschiedenen, „unwandelbar an sich selbst“.

Hierauf folgt die schon im ‘edlen Menschen“ traktierte Zweinaturen-Anthropologie. Hier wird sie allerdings leicht variiert durch ein Kräftebild. Der äußere Mensch sei Sinnlichkeit, der innere Innerlichkeit, der äußere wirke nur durch den inneren: „doch wirkt der äußere Mensch kraft der Seele“.[201] Psychologisch stimmt das, wird jedoch umso wahrer, je höher der Spiritualitätsgrad. Das Kräftemodell illustriert den Sachverhalt: Bei gleichbleibender Ausgangsenergie hat der Mensch zwei Möglichkeiten der Verteilung, zwischen denen er wählen sowie pendeln kann. A) Die Kräfteökonömie kann sich auf sinnliche Existenz konzentrieren: „Nun gibt es etliche Menschen, die verbrauchen die Kräfte der Seele ganz und gar im äußern Menschen. Das sind jene Leute, die alle ihre Sinne und ihre Vernunft vergänglichem Gut zukehren; die wissen nichts von dem innern Menschen.“[202] Die sind also eindimensionale Menschen.[203] B) Zweidimensional wird es in Abgeschiedenheit, für die der äußere Mensch zwar tot ist, aber noch da. „Nun sollst du wissen, daß der äußere Mensch sich in Betä­tigung befinden kann und doch der innere Mensch davon gcänzlich frei und unbewegt bleibt.“[204] Wieder ist die Gleichzeitigkeitslehre aufgefahren. Als Beispiel für Gleichzeitigkeit von In-Sich-Ruhen und Be(s)tätigung nennt Eckhart die Tür: während sich das äußere Brett der Tür dreht (Betätigung), bleibt die Angel ruhig in sich, bewegt sich nicht. Innen Ruhe und Außen Bewegung ist damit als Ziel der Abgeschiedenheit formuliert.

Die individuelle Ein- und Auswirkung Gottes in die Kreatur bringt Liberalismus mit sich, widerstrebt jeder christlichen Zwangsbeglückung. Gott will die Freiheit des Menschen, nicht seine Unterwürfigkeit unter das Geschenk seiner Gnade, die eine falsche wäre, zwänge sie. „Nun kann Gott nicht in allen Herzen nach seinem ganzen Willen wirken, denn obgleich Gott allmächtig ist, so kann er doch nur soweit wirken, wie er Bereitschaft findet oder schafft.“[205] Mit scholastischer Raffinesse ist ‘oder schafft’ noch schnell angehängt, womit die Aussage schon wieder allen anfangs verheißenen Libera­lismus Gottes verliert. Hier findet das Proselyten-problem Aufnahme. Welche Qualifikationen sind zur Gotteskindschaft oder engsten Gemeinschaft mit Gott Grunder­fordernis? Die Erwählungslehre des traditionsorientierten und nationalistischen Judentums stellte als Bedingungen Nationalzugehörigkeit (Symbol: Beschneidung) und Frömmigkeitspraxis (Gesetzestreue), also eine objektive und eine subjektive Bedingung. Oberbegriff beider ist ihre Sozialisationsgebundenheit, die mit Ausschließ­lichkeit verbunden ist. Das Urchristentum öffnete in der Mission den Ausschließlichkeitscharakter und li­quidierte nach dem Sieg über die judenchristliche Auf­fassung jeglichen objektiven Faktor des Gotteszugangs. An dessen Stelle trat kirchliche Lehre und Sakramentsvermittlung, angewiesen bleibend auf personale Frömmig­keit. Die Angewiesenheit des Heils auf seine Aufnahme hat darin seine Verankerung.

Eckhart bestreitet das Monopol kirchlicher Heilsver­mittlung, selbst sola scriptura: „Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennen würde, der brauchte an keine Predigt zu denken, denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch.“[206] Damit reduziert er die Zugangs­bedingungen zur unio auf rein persönliche Frömmigkeit, also auf die Bereitschaft des Einzelnen, Gott in sich zu empfangen. Wir sahen bereits, wie falsch darin die Allgemeinzugänglichkeit[207] behauptet wird, weil ja Mystik selbst eine Tradition hat, in der zu stehen eine ihrer Voraussetzungen ist und zu der sogar soziale Schicht als Sensibilisierungsfaktor gehört. Doch zeigen diese Faktoren nur an, wie viel Nicht-Ich schon immer im Ich ist, wie Subjektivität schon immer Abbild ihres Objekts ist und selbst Objekt der Subjektivität ihres Objekts. So wäre den die Zugänglichkeit zur unio nicht allgemein, jedoch frei von kirchlicher Mittlung. Gebun­den bleibt sie damals immer noch an gesellschaftliche Freistellung von Handarbeit und Bildung als objektiven Faktoren, Bereitschaft zur Mußenutzung im mystagogischen Feld, also innere Versenkung, als subjektiver Faktor. Allgemeinzugänglich wäre lediglich eine von Eckhart angenommene präkosmische Einheitserfahrung. Ihre psy­chologische Wahrheit hätte nämlich diese in der fötalen Einheit von Mutter und Kind, die jedem Menschen apriori zugänglich ist. Sie ist in weit höherem Maße apriorisch als jede andere jemals philosophisch beschworene Apriorizität. Die Mutter-Kind-unio pränatal entspricht erfahrungsanalogisch der Gott-Mensch-Natur-unio präkosmisch im übernommenen Neuplatonismus Eckharts. Die von Otto Rank als ‚Trauma’ signifizierte Geburtstrennung von Mutter und Kind entspricht erfahrungsanalogisch der Schöpfung von Welt und Ich in der Dimension von Sein als zeitlich und kreatürlich zur Geschichtlichkeit bestimmtem, in dem der göttliche Charakter, dh die Einheit des Ursprungs, verborgen ist. Schließlich wäre eine dritte Erfahrungs­analogie in der Urstandsregression zum Zwecke einer Urstandsrekonstitution zu sehen; darin enspräche dem menschlichen Drang zum Menschen, angefangen beim Rock­zipfelmitlaufen über Spiel, Erotik und Zärtlichkeit bis hin zum Sexualspiel als tiefenpsychologisch gesehen andeutungshaftem Versuch des Rückschlupfs in die ver­lorene Dimension der innermütterlichen Einwohnung vor der Geburt, bei Eckhart die Versenkung in Abgeschiedenheit, Widervereinigung mit dem verborgenen Gott, der nur durch Versinken des Ich zu finden ist. Wie nun das psychologische Wahrheitsmoment in diesen Stufen von Ureinheit, Entäußerung und Rekonstitution der Einheit ausgedeutet werden mag, sei offen gelassen. Die Frage nach der Bewertung jener Analogien der Erfahrungsstruktur bietet zwei Antworten. Zum einen könnte Mystik spiritualisierte Reaktualisierung pränataler Muttereinheit sein. Zum anderen aber könnte die Muttereinheit selbst nur als eine Entäußerungsstufe in der Kreatürlichkeit verstanden werden, in welcher keine Gotteseinung ist, ja die Mutter kann als Symbolisation des Kreatürlichkeitsverfalles schlechthin gesehen werden, und nur vermittels des In­tellekts ist eine Lösung davon möglich, wie Eckhart es behauptete.[208] Mit der Bestreitung fötaler Einheit als analoger Erfahrung zu der des Urstandes wäre aber Eckhart auch der letzte Halt seiner These von der Allgemeinzugänglichkeit genommen, sodaß die Wirkung Gottes auf die Seele abhängig ist von deren Bereitschaft, spricht Ver­senkungsfähigkeit, die abhängig ist von Mußemöglichkeit.

Mystisch Beten heißt ‚einförmig zu sein mit Gott’[209]. Der zunichte (zu Nichts) gewordene, abgeschiedene Geist des mystischen Mensch will nichts[210], was er nicht schon wäre. „Abgeschiedene Lauterkeit kann nicht beten, denn wer betet, der begehrt etwas von Gott, das ihm zuteil werden solle, oder aber begehrt, daß ihm Gott etwas abnähme. Nun begehrt das abgeschiedene Herz gar nichts, es hat auch gar nichts, dessen es gerne ledig wäre. Deshalb steht es ledig allen Gebets, und sein Gebet ist nichts anderes als einförmig zu sein mit Gott.“[211] Von hier bezieht die oben zur Behauptung von der Heilswidrigkeit geschaffte These der Nichtheilsnotwendigkeit des Gebets sachlichen Anhalt. Statt des Gebets stellt Eckhart den Gang in die Abgeschiedenheit als heilsnotwenig hin. Abgeschiedenheit vermag die Not der Kreatur[212] zu wenden. Im Sich-Ab-Wenden von der Kreatur wird es dem Mystiker möglich, sich dem Heil zu­zuwenden, welches ihm die unio ist, sich damit der Rot zu ent-wenden. In diesem Sinne ist Mystik heilsnotwen­dig. „Der Lauf ist nichts anderes als eine Abkehr von allen Kreaturen und ein Sich-Vereinigen in die Unge­schaffenheit. Und wenn die Seele dazu kommt, so verliert sie ihren Namen, und Gott zieht sie in sich, so daß sie an sich selbst zunichte wird.“[213] Hier hat die These vom Namensverlust ein fundamentum in rem. Kreaturabkehr und Einung im Ungeschaffenen, zu dem das Seelenfünklein auch gehört, quasi als Relikt des Göttlichen im Kreatürlichen, sind uns bereits vertraut. Interessant ist die Variante der Richtung in die Ungeschaffenheit, die aus dem Kontext der Mystagogie entspringt, während Eckhart sonst meist von der Ungeschaffenheit als Zustand redet; hier eben eher als Werden, aber nur Werden des Menschen, soweit er noch im Kreatürlichen verhaftet ist. Negative Theologie ist bestes Gut echter unio. „Wenn die Abgeschiedenheit zum Höchsten gelangt, so wird sie von Erkennen erkenntnislos und von Liebe liebelos und von Licht finster.“[214] Alle inhaltlichen Bestimmungen heben sich auf, wo der Inhalt das Nichts ist. Wahre Erkenntnis des Nichts wird erkenntnislos. So auch eine Predigtstelle: „Daher soll deine Seele bar allen Geistes sein, soll geistlos dastehen. Denn, liebst du Gott, wie er Gott, wie er Geist, wie er Person und wie er Bild ist, - das alles muß, weg. ... Du sollst ihn lieben, wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts. Dazu helfe uns Gott. Amen.“[215] Jede positive Aussage über Gott ist bildehaft, weil Sprache immer geronnenes Bildgut ist, ersichtlich schon an Buchstaben der Schrift, die ehemals Tierbilder usw. waren. Weil das positive Sein selbst schon durch Nega­tion bestimmt ist, weil jede Form von Sein schon die Verneinung jeder anderen Form impliziert, muß Gott als formloses Sein Verneinung des Verneinens werden. Das Positive selbst ist schon das Negative, ich bin nicht du, Pferd ist nicht Stein; darum kann Gott positiv nur sein, indem er die Negativität des Positiven aufhebt, also Negation der Negation leistet. Im Modus des In-der-Welt-Seins ist daher Gott das schlechthinnig Negative, solange die Welt ihre eigene Negativität nicht erkennt. Erst dem, der der Negativität jeglicher Positivität des In-der-Welt-Seins eingedenk ist in der Weise, daß er ihrer nicht mehr gedenkt, sie vergißt, bildelos wird, erst dem zieht sich die vollkommene Negativität Gottes, „einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils“[216] zusammen. Seltsam taucht diese Erfah­rung im Materialismus wieder auf: „Die materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen, will das Gegenteil: nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bil­derverbot. ... Fluchtpunkt des historischen Materialis­mus wäre seine eigene Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse“.[217]

Binaturenchristologie schließlich rundet den Traktat. Als Mittler zwischen Gott und Mensch hat Christus eine pädagogische Funktion: ihm gleichgestaltet wäre der Christ selbst Gott gleichgestaltet. In Christus kommen menschlich individuiertes und menschlich allgemeines Sein zusammen, Christus ging in der Hülle eines Menschen als Verkörperung der menschlichen Natur. Wieder begegnet uns die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem. Allgemein ist dem Menschen seine Menschheit; als seine Wesenheit haben wir Gott bestimmt. Besonders ist ihm seine Kreatürlichkeit, die ihn in einen einzelnen, iso­lierten, gesonderten Körper gepreßt hat, materiellen Bedürfnisse unterworfen, deren Stillung sein ganzes Leben beansprucht. Eckhart trennt leibliche, vergäng­liche Erscheinung Christi, sein Bild also, von seiner Wesenheit, dem formlosen Sein. Analog verfährt er in der Sotereologie: nicht leiblicher Trost sei göttlich, da er vergänglich ist wie der Leib, dem er angetan wird, einzig geistiger Trost sei göttlich, darum verweise der leibliche Christus bei seiner Himmelfahrt auf den Geist, als welcher er göttlicher bei seinen Jüngern sei, denn als Leibwesen. Christus entzieht seinen Leib, seine vergängliche Erscheinung, damit sein Geist bleibt. Er verläßt seine Kreatürlichkeit und geht ein in die Abgeschiedenheit, in welcher er schon immer ist, um besser mit uns eins sein zu können.

Das am schwersten Verständliche kommt zuletzt, weil es so erst den notwendigen Kontext hat: Leiden führe zum Vollkommensein in der Abgeschiedenheit. „Es ist nichts galliger als Leiden, und es gibt nichts Honigsüßeres als Gelitten-Haben.“[218] Leiden ist ein Ereignis der Kreatürlichkeit. Es betrifft den ganzen Menschen, soweit der kreatürlich ist. Den inneren Menschen aber kann es nicht mehr angehen, weil er in seiner Abgeschiedenheit ataraktisch geworden ist. Leiden kann der Hinführung in diese Ataraxie nur nützlich sein, da es intensivste Erfahrung der Negativität von Kreatürlichkeit ist und darum am meisten zur Aufhebung des Negativen drängt. Die für Eckhart einzig denkbare Aufhebung des Negativen war der Geist, der Rückgang des Menschen durch den Tunnel des Geistes in die völlige Dunkelheit und Negativität, jenseits aller Positivität, der Kreatürlichkeit, wo sich im Innersten des Inneren, im Allerheiligsten des Seelen­tempels, der Geist in Geistlosigkeit löste und das vollkommen Negative zusammenschoß zur Alleinheit eines Positiven, dessen Erfahrung so zart war, daß jedes Wort es vergewaltigen würde.

Vita activa ist noch ganz ungenügend erfaßt. Ist die unio schon Einheit, um wieviel mehr dann erst die ge­sellschaftliche Synthese der Arbeit, die Menschen ver­eint, die bei der Reise ins göttliche Nichts noch auf der Einzelgängermethode fußten. Eckhart empfiehlt zu­nächst jedem die Weltabkehr als Pädagogikum der Mystik. „Entweder muß er (der unio-Lehrling; M.L.) Gott in den Werken zu ergreifen und zu halten lernen, oder er muß alle Werke lassen. ... Wenn der anhebende Mensch unter den Leuten etwas wirken soll, so soll er sich zuvor kräftig mit Gott versehen und ihn fest in sein Herz setzen und all sein Trachten, Denken, Wollen und seine Kräfte mit ihm vereinen, auf daß sich nichts anderes in dem Menschen erbilden könne.“[219] Unio ist also Prämisse rechter Werktätigkeit, wie es bei Luther später die Rechtfertigung wird. Erst wer Gott derart in sich hat, daß er selbst ‘Gottes ledig’ ist, wer also quasi Gott in sich bis zum Vergessen internal präsentisch hat, der ist auch fähig, Gott in den Dingen zu finden. Wer Gott in sich vergessen hat vor lauter/lauterer Einheit, der findet Gott überall. Erst wer ein Selbst ist, kann sich vergessen, der Pubertierende kämpft noch um Iden­tität. So auch mit Gott: Erst wer Gott so hat, daß er ihm gleicht, gottförmig und desverhelfe Gott selbst ist, erst der kann Gott vergessen. Die Vergessenheit Gottes ist damit seine stärkste Form der Erinnerung (Walter Bernet). Der Gottsuchende muß in Einsamkeit, um ihn zu finden. Erst der mit Gott Einige muß Gott nicht mehr suchen. Er findet darum Gott. Gerade weil er Gott nicht mehr sucht, findet er ihn in allen Dingen. Abgeschieden­heit will gelernt sein wie Schreiben. Gottsuche im See­lenfunken, in stiller Wüste und Einöde ist die Übung, deren rechte Anwendung erst das vita activa ist. Unio im contemplativen Sinn ist darum nichts weiter als nur Einübung. Sie wird vollständig erst im Praxiskontext. „So auch soll der Mensch von göttlicher Gegenwart durch­drungen und mit der Form seines geliebten Gottes durch­formt sein, so daß ihm sein Gegenwärtigsein ohne alle Anstrengung leuchte, daß er überdies in allen Dingen Bindungslosigkeit gewinne und gegenüber den Dingen völlig frei bleibe. Dazu gehört zu Beginn notwendig Überlegung und ein aufmerksames Einprägen wie beim Schüler zu seiner Kunst.“[220]

Eckhart macht nur wenig Vorschriften über Lebenswandel. Er gibt Grundvoraussetzungen zum mystischen Bewußtsein an, überläßt aber in vertrauter Liberalität jedem die Ausgestaltung. Auch dies Fehlen des repressiven Elements muß notwendig den Katholizismus provozieren, der doch seine Pflicht in der Vermittlung einer repressiven Vatergottheit sah, die bis in die intimsten menschlichen Zellen ihre Gebote und Kontrollmaßnahmen ausbreitete (Beichte und Buße). Wie Luther befreit auch Eckhart vom Leistungs­druck und theistischer Kontroll- und Schuldreligion. Für die angesagte Komplementarität alternativer Lebensent­würfe eine Stelle: „Nicht kann ein jeglicher nur eine Weise haben, und nicht können alle Menschen nur eine Weise haben, noch kann ein Mensch alle Weisen noch eines jeden Weise haben. Ein jeder behalte seine gute Weise und beziehe alle Weisen darin ein und ergreife in seiner Weise alles Gut und alle Weisen. ... Wir sollen ihm (Christus; M.L.) je auf eigene Weise nachfolgen.“[221]

Zur inneren Einsamkeit, nicht zu verwechseln mit Eremitentum, sei eine Stelle zitiert: „Dazu gehört Eifer und Hingabe und ein genaues Achten auf des Menschen Inneres und ein waches, wahres, beson­nenes, wirkliches ‘Wissen darum, worauf das Gemüt gestellt ist mitten in den Dingen und unter den Leuten. Dies kann der Mensch nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet und sich äußerlich in die Einsamkeit kehrt; er muß vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muß lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und den kraftvoll in einer wesenhaften Weise in sich hinein­bilden zu können.“[222] Der Spitzensatz solcher Praxisbezüglichkeit bringt ein Primat aller Liebe vor der unio-Einsamkeit zustande. Wie sehr Eckhart auch durch­gehend den Vorrang der Abgeschiedenheit vor allem Werk betont, im Besitz der unio ändert sich diese Wertung und weicht dem Praxisprimat. „Wäre der Mensch so in Ver­zückung, wies Sankt Paulus war, und wüßte einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete es für weit besser, du ließest ab von der Verzückung und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe.“[223]

Quintessenz: Der erweiterte unio-Begriff Eckharts kommt keinesfalls ohne Einbezug des vita activa aus. Erst darin vollendet sich völlige unio: in Theorie und Praxis Gottes.

4.3. Zum Verstehen der Unio-Erfahrung

Oben war gesagt: Mystische Rede verstehen sei der Schritt von Textdeutung und Erhebung ihres Problem­gehalts als Voraussetzung zum Verstehen mystischer Erfahrung. Zu dieser vorzudringen sei der immanente Anspruch in mystischer Rede, die sich immer als Mysta-gogie versteht. Um also dem Textbestand gerecht zu werden, ist subjektiver, subjektgebundener und sich vom Subjekt ins Nichts hinein entledigender Nachvollzug mystischer Erfahrung notwendig. Ich habe über­legt, wie ich das machen kann. Ich habe sehr lange dagesessen und bin zu einer Idee ge­kommen. Ihre Verwirklichung sprengt den Rahmen dieser Arbeit und das will auch Mystik, die dem formlosen Sein zustrebt. Ich habe überlegt, ob meine Idee albern ist. Das ist sie.

Ich habe versucht, alle Erkenntnisse über Eckhart zu­sammenzuziehen auf einen einzigen Satz. In ihm soll digitale Kommunikation unserer Wissenschaftspraxis übergehen in analoge, dabei habe ich auch ästhetische Kategorien in Erwägung gezogen und weiß, daß die ge­wählte Formulierung nicht neu ist, sowenig sie veraltet ist. Ich wollte konsequent sein und der Logik Genugtuung leisten. Ich wollte auf meine Art das versuchen, was Eckhart mit Mitteln der Scholastik versucht und was ihm so wenig wie mir gelingt, weil das Sein des Menschen nicht Abgeschiedenheit ohne Kreatürlichkeit kennt, sondern immer nur Abgeschieden­heit in Kreatürlichkeit. Mystische Rede ist Ausdruck von Sprachnot. Man muß etwas sagen, was man nicht sagen kann. Man versucht darum Metaphern für das Nichts zu erfinden. Auf der nächsten Seite habe ich eine, die vielleicht wahrste, Metapher für Abgeschiedenheit, für die unio, für Gott, notiert.

(Es folgt ein pechschwarzes Blatt.)

 

 


5. Luthers 'fröhlicher Wechsel' in der Freiheitsschrift

5.1. Luthertum als strenge Glaubensweise

Die von Ebeling als 'beschämend' beklagte 'Luthervergessenheit'[224] eines Luther, der 1522 in der „treuen Vermahnung zu allen Christen sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“ bittet, „man, wollt meines Namens geschweigen und sich nicht lutherisch sondern Christen heißen.“[225], mag hier vergessen werden, um in der Lutherforschung zu baden, die der Bibelforschung kaum noch nachsteht, wenngleich Luther es ablehnte, zum Fetisch einer neuen Religionsgemeinschaft zu werden, die ebenso schnell durch Dogmatisierung, Verrechtlichung und Institutionalisierung veraltete wie andere Religionsgemeinschaften auch.

Die deutsche und lateinische Version des 12. Kapitels der Freiheitsschrift von l520f ist die zentrale Textstelle für Luthers Rede vom „fröhlichen Wechsel“ zwischen gläubiger Seele mit ihrem Sündenpäcklein und Bräutigam Christus mit seinem Vergebungsreichtum.

Vorweg jedoch ist eine Analyse mystischer Traditionsvorlagen bei Luther sinnvoll, um traditionsgeschichtliche Modifikationen als bewußte oder nur zufällige zu begreifen.

5.2. Luther und die Meistermystik

1516 gibt Luther eine unvollständige Ausgabe der „Theologia Teutsch“ heraus und schreibt in der Vorrede: „ja, es schwebt nit oben, wie schawm auff dem wasser, Sunder es ist auß dem grund des Jordans von einem warhafftigen Israeliten erleßen, wilchs namen gott weyß unnd wen er eß wissen will. Dan dißmall ist das buchleyn an titelt unnd namen funden. Aber nach mueglichem gedencken zu schetzen ist die matery faßt nach der Art des erleuchten doctors Tauleri, prediger ordens.“[226] 1518 gibt Luther die vollständige Ausgabe heraus und schreibt im Vorwort zu dem seinerzeit neben der Bibel meistgelesensten Werk der Mystik: „...ist myr nehst der Biblien und S. Augustino nit vorkummen eyn buch, dar auß ich mehr erlernet hab und will, was got, Christus, mensch und alle ding seyn.“[227]

In der Tat hatte Luther Tauler gelesen, wovon uns noch Randbemerkungen zu einem taulerschen Predigtband von Luther überliefert sind. Die Lektüre mag auch in das Jahr 1516 fallen.[228] Luther nannte Tauler einen „homo dei“[229] und zeigt sich beeindruckt von Taulers Freizügigkeit im Denken: „ut libere pronunciem, talis, qualem ego a saeculo Apostolorum vix natum esse scriptorum arbitror“[230], seit der Apostelzeit habe kaum jemand so frei seine Meinung vertreten wie Tauler.

Vor näherer Betrachtung der lutherschen Taulerrezeption sei noch der Hinweis auf drei weitere mystische Stränge erlaubt, in denen Luther gebildet war: Bernhard, Pseudo-Dionisios Areopagita und Gerson.

Luther hielt den heiligen Bernhard von Clairvaux für einen 'fürstmündigen Lehrer'[231], also einen Radfahrer, der nach oben buckelt und nach unten tritt, der dazu noch zwiespältig ist und neben erbaulichen Predigten recht aggressiv disputiert, wörtlich, er sei „gülden, quando docet et praedicat;... sed in disputationibus wirds gar ein anderer mann.“[232] - Gerson, der einen affektivistischen Mystiktypus vertrat, nannte Luther den besten und erklärte sich mit vielem von ihm einverstanden.[233] Gegen Areopagita und seinen Neuplatonismus aber konnte sich Luther nicht genug entladen. „Speculativa scientia theologorum est simpliciter vana. Bonaventuram ea de re legi, aber er hett mich schir toll gemacht, quod cupiebam sentire unionem Dei cum anima mea (de qua nugatur) unione intellectus et voluntatis. Sunt mere fanatici Spiritus. Hoc autem est vera speculativa. quae plus est practica: Crede in Christum et fac, quod debes. Sic mystica theologia Dionisii sunt merissimae nugae; sicut enim Plato nugatur: Omnia sunt non ens et omnia sunt ens, und laßts so hangen, sie illa mystica theologia est: Relinque sensum et intellectum et ascenda super ens et non ens.“[234] Luther wehrt sich gegen die fernöstliche Logik der Identität des Widersprüchlichen, die in Areopagita Einzug fand und aristotelischer Widerspruchslosigkeit widerspricht. Er ettikettiert die Rede von der Unio Gottes mit der Seele als nuga, als Geschwätz und scheint vor ihr eine nicht geringe Angst zu haben, da er an anderer Stelle wenn auch nicht Bücherverbrennung empfiehlt, so doch strengstes Meiden areopagitanischer Literatur: „Admoneo vos, ut istam Dionysii mysticam theologiam et similes lobros, in quibus tales nugae continentur, detestemini tanquam pestem aliquam.“[235] Lange zuvor schon hat sich Luther in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 gegen die areopatitische Mystik klar abgegrenzt. „Hinc enim tanguntur ii, Qui secundam mysticam theologiam in tenebras interiores nituntur. omissis imaginibus passionis Christi, Ipsum verbum increatum audire et contemplari volentes, sed nondum prius Iustificatis et purgatis oculis cordis per verbum incarnatum. Verbum enim incarnatum ad puritatem primo cordis est necessarium, quae habita tuus demum per ipsum rapi in verbum increatum per Anagogen.“[236] Luther bezeichnet Mystik hier als Stützung auf innere Trübheiten und begegnet dieser Unklarheit und Dunkelheit mit der Klarheit des Bildes vom gekreuzigten Christus. Er wirft den Areopagiten vor, sie wollen das ungeschaffene Wort, also Gott selbst hören und betont den absoluten Primat der Rechtfertigung vor der Mystik: oberste und allererste Notwendigkeit ist die Rechtfertigung und Reinigung von Augen und Herzen, ehe - da wird Luther liberal,- zusätzlich dann auch noch durch Anagogie (Hinaufführung des Geistes zum apex) das ungeschaffene Wort erfahrbar wird, der Gerechtfertigte wird in es hineingerissen.

Erikson weist in seiner Lutherbiographie darauf hin, daß Luther beim Eintritt ins Erfurter Augustiner-Eremiten Kloster mit den 'Brüdern vom gemeinsamen Leben' in Kontakt kam und dort auch Mystik studierte und diskutierte, wobei er dem Occamismus noch solange treu blieb, wie es seine Religiosität ertrug.[237] „Martin bemühte sich auch um seine zeitlebens unglückliche Liebe, die Mystik. Der ganze Aberglaube in ihm und seine deutsche Einfalt wollten in der Vereinigung mit Gott Zuflucht finden, jene Unio mystica, die keiner Rechtfertigung bedurfte und tatsächlich alles Denken beiseite ließ. Er sehnte sich danach, daß Gottes ewiges Wort in seiner Seele geboren werde.... Aber ach, Martin mußte gestehen, daß er niemals die Früchte solchen Mühens 'schmecken' dürfte ('nullum unquam gustum... sensi' [238], so innig er sich auch darum bemüht hatte. Er konnte seinen Weg zu Gott nicht erfühlen. Tatsächlich mußte dieser so leidenschaftlich veranlagte Mensch entdecken, daß er überhaupt nicht fühlen konnte - entscheidendes Dilemma der zwangsgesteuerten Persönlichkeit.“[239] Trotz mißdeuteter Zitation, die hier nicht einmalig ist im Eriksontext, läßt sich gegen die Gesamteinschätzung Luthers durch Erikson hier wenig einwenden. Fühlenkönnen ist im Kontext nicht zu verwechseln mit Emotionalität, von der Luther ja weit mehr hatte, als es Ebeling ertragen kann.[240]

Es legt sich hier eine Vermutung nahe, die allerdings unausgewiesen bleibt: Besteht nicht ein innerer Zusammenhang zwischen Luthers niedriger sozialer Herkunft aus einer Bergmannsfamilie, die gerade genug Geld hatte, damit der Vater seinen Sohn auf den Bildungsweg schickte, der ihm selbst noch versagt geblieben war? Könnte nicht die zum sozialen Aufstieg erforderliche Strenge, die Martins Vater und später der Lehrer entwickelte[241], und die schließlich Martin selbst in masochistischer Reproduktion des Vaterichs sich aneignete, eine psychische Deprivation hervorgerufen haben, aus der heraus noch einmal individualhistorisch das Leistungsprinzip der guten Werke als Mittel des Anerkanntwerdens verständlich wird und ebenso dessen spätere totale Bekämpfung durch Luther? Wäre dann nicht jene psychische Deprivation, verursacht durch übersteigerte Anforderungen von Vater, Kirche und Selbst, in weiten Teilen als eine Auswirkung eines Sozialaufstiegs zu verstehen?

Die Möglichkeit eines Sozialaufstiegs ergibt sich dort, wo verschiedene sozialen Schichten existieren. Wir sahen, daß Mystik eine Sensibilisierung erfordert, die speziell durch die gehobenen Sozialschichtungen, also den Adel und das obere Bürgertum, gewährleistet waren. Luther hatte diese Sensibilisierung nicht aus seiner familiären Sozialisation mitbringen können, ja im Gegenteil war sein Leben immer Streß, dem gar keine Möglichkeit und späterhin selbst keine Fähigkeit mehr zur Muße als Grunderfordernis mystischer Praxis blieb. Es wäre demnach zu vermuten, daß Luther aufgrund seiner leistungsorientierten zwangsgesteuerten Sozialisation an der zum Verständnis der Mystik erforderlichen Selbstentfaltung gehindert war. Diese Leistungsüberforderung war zumindestens wesentlich mitbedingt durch die niedere soziale Herkunft Luthers. An Bildungsmöglichkeiten freilich fehlte es Luther später nicht, um Mystik zu rezipieren. Doch geht ihm der Sinn für die Muße und die Sensibilität für ein gelassenes, nicht unter verdrängten Zwängen in Anfechtung begriffenes Selbst und Inneres verloren. Für Eckhart war sein Innen Ruhepol im Treiben von Welt und Körper, für Luther dagegen ist sein Inneres genauso verworren, zerrissen von Zweifel und Höllenangst wie es sein äußeres Leben unter der klösterlichen Heuchelei auch war. Darum gab es innen für Luther keine Gotteserfahrung; Gott mußte geglaubt werden.

In unserer Suche nach bejahend rezipierten Mystiksträngen werden wir uns also auf Tauler beschränken müssen; eine Nebenlinie desselben führt über Cusanus, der Eckharts Predigten gesammelt und verarbeitet hat, und den wiederum Luther gelesen hat. Es existiert keine direkte Verbindung zwischen Eckhart und Luther. Jedoch bietet auch Luthers Taulerlektüre eine Gewähr, daß Eckharts Gedanken auf Umwegen zu Luthers Denken beitrugen.

Luther bewundert Taulers Erfahrung, setzt aber, wie im obigen Zitat gegen Dionysios, die Christologie über die Mystik, das fleischgewordene Wort über das ungeschaffene. Zu Taulers Predigt über Mt 2,14, die Reise Josephs, Marias und Jesu nach Ägypten, schrieb Luther an den Seitenrand: „Unde totus iste sermo procedit ex theologia mystica, quae est sapientia experimentalis et non doctrinalis. Quia nemo novit nisi qui accipit hoc negotium absconditum.“[242] Darin kommt schon etwas Protest Luthers gegen die Scholastik zum Ausdruck, die bar jeglicher Erfahrung schöne Lehren über die Seele aufstellte, die wegen ihrer aristotelisch-metaphysischen Grundlage gegen empirische Veri- und Falsifikation und schon gar gegen persönliche Evidenz und Plausibilität immunisiert war, während Luther Theologie als subjektgebundene, ja situationsgebundene Lehre verstand, die evident sein sollte. „Sola ... experientia facit theologum“[243], oder mit Ebeling: „Theologie erfordert also nicht die möglichst weitgehende Ausschaltung der Person, sondern deren möglichst intensiven, recht verstandenen Einsatz.“[244] „Und endlich: Luthers Werk ist...in außerordentlichem Maße situations-bezogen.“[245] Erfahrung bildet also auch für Luther Grundlage der Theologie und selbst die Unerfahrbarkeit Gottes wird ihm als Erfahrung der Anfechtung konkret. Von hier aus könnte in der heutigen Diskussion gegen die Erfahrungstheologie dieselbe in ihrer Angefochtenheit Bestärkung erhalten.

Niemand wird um die mystische Erfahrung wissen als der, der die verborgenen Anstrengungen auf sich genommen hat, schreibt Luther. Er ist sich der Schwierigkeiten beim „Egressus de mundo, te ipso, de terra tua (und schließlich) de cognatione tua“[246] wohl bewußt. Die vita contemplativa nennt er „difficile“ und „rarum“[247] und vita activa konträr „facile“ und „saepius“.[248] Es hat danach den Anschein, daß Luther durchaus die Mystik verehrte und sie ihm nachahmenswert erschien. Ganz offensichtlich aber war Luther kein Mystiker sondern ein ungeheurer Aktivist.[249] Über die Gottesgeburt schreibt Luther zur selben Taulerpredigt: „Verum est sie nasci deum in nobis secundum statum vitae contemplativae et spirituali anagogia. Sed moraliter nascitur non in quiete, sed in operatione virtutum secundum statum vitae activae.“[250] Er konzediert die Wahrheit der Gottesgeburt in uns: in der kontemplativen „spirituali anagogia“, also der Hinaufführung des Geistes zu Gott durch Kontemplation. Aber er weiß um das Fehlen des sozialen Elements in der Mystagogie - ein Vorwurf, die heute genauso gegen die Rauschmittelkonsumenten zu machen wäre. Darum sagt er, daß Gott „moraliter“, also auf der Ebene menschlichen Zusammenlebens, erst im vita activa, erst in der Ausübung der Tugenden Liebe, Demut und Barmherzigkeit geboren werde. Luther konstruiert eine doppelte Gottesgeburt: Individuell in mystischer Erfahrung, sozial im Liebesdienst. Hier zeigt sich schon der Kern seiner späteren Unterscheidung von Glaube und Liebe.

Noch weiter zur aufschlußreichen Randbemerkung Luthers zu Tauler. „Loquitur enim de nativitate spirituali verbi increati. Theologia autem propria de spirituali nativitate verbi incarnati habet unum necessarium et optimam partem.“[251] Hier trennt sich Luther von Tauler, trennt ihn von der „Theologia“, die er natürlich für sich selbst beansprucht in der allgemeinen Wähnung jedes Einzelindividuums, im Besitz der Wahrheit zu sein. Gegen die Geburt des ungeschaffenen geistlichen Worts stellt Luther die Geburt Jesu Christi als des geschaffenen fleischlichen Wortes Gottes. Damit ist endgültiger Primat der Christologie über jede Spiritualität gesetzt. Die Realität des Menschen Jesus ist für Luther göttlicher als die Spiritualität eines auch noch so entrückten Geistlichen. Wenn er von einem göttlichen Wort redet, welches sich ins Fleisch senkt[252], so meint er nicht mystisches Erleben, sondern die historisch reale Gestalt Jesu Christi, durch deren Existenz die Rechtfertigung aller menschlichen Existenz, Essenz und Effizienz, ja selbst noch die der Mystik selbst, geschieht.

Als Lebensflucht kritisiert Luther den mystischen Quietismus: „Ut Isa 1. 'quiescite agere perverse' ait illi qui prius ad quietem contemplationis festinat, quam multum passionum, victorum et malorum operum in activa vita compescuerit. Hie cum Lucifero ascendit in caelum casurus cum eodem.“[253] Der von Jesaja als Dienst am Menschen verifizierte korrekte Gottesdienst muß auch Maßstab für den sein, der zuerst zur contemplativen Ruhe eilt, um hierin möglichst vielem Leiden, Schicksalsschlägen und bösen Taten zu entgehen. Ihm sagt Luther, er steige mit dem Teufel gen Himmel und werde deshalb fallen mit ihm. Das böse Erwachen eines Mystikers, der endlich wieder die geschlossenen Augen aufmacht, ist hinlänglich geschildert worden: Nach dem mystischen Akt erscheint die Welt umso schlechter. Wofern Mystik also nur ein Ausweichen vor den Problemen der Welt ist, sagt ihr Luther jede göttliche Bestimmtheit ab. Diese Kritik an der Mystik finden wir ja schon bei Meister Eckhart, der der Visionssucht seiner Beginen und Dominikanerinnen das Konzept einer Integration des tätigen Lebens in das mystische Erleben hinein entgegenstellt. Hier erkennen wir eine Übereinstimmung zwischen Meistermystik und Luthers Denken.

Erfahrung Gottes - sagten wir oben - bildet für Luther einen Grundstein der Theologie. Einschränkend wäre aber gerade hier Luthers Aburteilung der Vernunft zu nennen, die doch für Meister Eckhart Medium der Gotteserkenntnis und unio-Erfahrung ist. Die Vernunft führt die menschliche Erkenntnis zum Hiobproblem: Gott gegen Gott anklagen zu müssen, da Allmacht dort im Widerspruch zur Liebe steht, wo Leiden ist, so daß die gleichzeitige Geltung des Allmachtsdogmas und der Liebesbestimmung Gottes einen logischen Widerspruch bilden, behavioristisch ausgedrückt: eine double bind.[254] „Der Eindruck der Bosheit Gottes, meint Luther, hat die Macht des so ungeheuer Einleuchtenden, es gibt so viele Beweise dafür, daß keine Vernunft, kein Licht der Natur dem widerstehen kann.“[255] Mit der Bestreitung der Vernunft als Mittlerin zu Gott hat Luther allerdings - ihm noch nicht bewußt - etwas ganz wichtiges getroffen, daß nämlich die Vernunft der Mystik Produktion hochschichtiger (oft adeliger) Sozialisation gewesen ist und dadurch deren Allgemeinzugänglichkeit notwendig eingeschränkt war; diese stellt eine zentrale Bedingung heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis dar. Luther war es in der Tat um einen für alle Menschen wirklichen, dh wirksam erfahrbaren Zugang zu Gott zu tun.

Gerade weil die mittelalterliche Gesellschaft aber weitgehend auch eine leidende war, wäre ihre erste direkte Erfahrung Gottes durch die Vernunft die Erfahrung der Bosheit Gottes gewesen. Da aber der christliche Gottesbegriff in Anlehnung an 1. Joh 4 auf der Einschränkung der Doppelgesichtigkeit Gottes auf nur noch das eine Gesicht der Liebe basiert, ist im Christentum die Aussage der Bosheit über Gott keine Aussage über Gott. Man vertritt nicht mehr eine Furchtreligion oder Schuldreligion, sondern eine Freiheitsreligion, die den neuzeitlichen Autonomiebegriff entwickelt half. Selbst der von allen kirchlichen Repressionsorganen geliebte Begriff des Zornes Gottes ist theologisch nichts anderes als eine Ausprägung der Liebe Gottes.

So masochistisch aber empfindet nicht jeder. Darum kam die Erfahrung des Leidens mit der Lehre von der Liebe Gottes für die meisten mittelalterlichen Menschen in Widerspruch und dem gesunden Menschenverstand war nicht evident, daß Gottes Liebe für ihn da war. Das Heilsmonopol der Kirche mit Gnadenschatz, Ablaßhandel und repressiver Indikation religiöser Pflichtleistungen (gute Werke) hat jedem direkten Heilszugang zudem einen weiteren Riegel vorgeschoben. Zugespitzt kann man sagen, daß der Weg zu Gott recht teuer war und recht mühselig, er verlangte Geld und Zeit. Luther mußte darum im Bestreben nach einem bedingungslosen Allgemeinzugang zu Gott für jeden Menschen sowohl die aristokratische Mystik wie die volkskirchliche Restriktion des persönlichen Lebens verwerfen.

Als weitere Parallele zu Eckhart sei Luthers Häretikertum, sein kirchenkritisches und damit aus römischer Sicht auch kirchenfeindliches Engagement vermerkt, wenn man die notwendige und hinreichende Bedingung für das Bestehen einer Häresie ausschließlich in der kirchlichen Reaktion sehen will, die sich Luther in Papst Leos Bannandrohungsbulle 1520 darbot. Der grundsätzliche Verzicht auf inhaltliche Kriterien und Argumentenstränge bei der Bestimmung von Häresie erscheint angemessen in einer konfessionellen Tradition, deren Gründer mit guten Gründen Häretiker war.[256] Es wäre schön, wäre er der letzte. Neben der Häresie gibt es noch einige eher symptomatisch als wesentlich anmutende Analogien zwischen Eckhart und Luther.

Der Begriff der Gottförmigkeit erscheint auch bei Luther, meint aber etwas anderes als bei Eckhart. „Sihe, das sind denn recht gottformige menschen, wilche von gott empfahen allis, was er hat, ynn Christo, und widderumb sich auch, alß weren sie der anderen gotte, mit wolthathen beweißen...“[257] Empfangen und weitergeben kennzeichnet Gottförmigkeit. In solcher Vermittlung von Gottesliebe an die Mitmenschen wird der gottförmige Mensch dem anderen selbst zu Gott, wofern sich Gott durch Liebe bestimmt wissen will. Dem anderen ein Gott sein heißt: ihn lieben. Luther geht hier soweit, daß er im Modus des als ob dem Menschen in Bezug auf die Liebestätigkeit formale Gleichheit mit Gott zuspricht, allerdings steht hiergegen seine grundsätzliche Betonung der Andersheit Gottes, die am deutlichsten in der Sündenlehre hervortritt. Als „mittell, das da von oben empfehet und unter widder außgibt“[258] ist der Mensch zudem immer auf das Zuerst der Liebe Gottes angewiesen und ist je nur ein Vermittler derselben. Wollte man hier eine Analogie zur mystischen Erfahrung von Kontemplation und Aktion herstellen, so wäre der Empfang der Liebe Gottes der Akt der Kontemplation, die Weiterleitung wäre Aktion. Luther bestimmt die Pole der Liebesvermittlung als Glaube und Liebe.

Auch die Binaturenanthropologie Eckharts hat bei Luther eine - allerdings wesentlich durch die paulinische Tradition eingebrachte - Ähnlichkeit. Doch hat der obere, geistliche Teil des Menschen - bei Eckhart göttlich - bei Luther keineswegs die Qualität eines Göttlichen, lediglich der Erfahrungsgrund der Zerrissenheit ist bei beiden gleich.[259] Mit dem Geist in ungeschaffener Abgeschiedenheit, mit dem Körper noch in Kreatürlichkeit, zielt die Kraft des Geistes auf die Zähmung des Fleisches, so sieht es Eckhart. Bei Luther ist der Glaubende immer totus homo: er ist schon gerechtfertigt, erfährt aber noch immer seine Sünde. „Er befindet sich und ist bereits im Himmel,... aber während wir hier im Schoß des Vaters getragen sind, bekleidet mit dem schönsten Gewand, reichen unsere Füße unten aus dem Mantel heraus, und die beißt der Satan, wie er nur kann.“[260] Eckharts Kreatürlichkeit taucht bei Luther als Sünde, Welt, Tod und Teufel in weitaus krasserer Form wieder auf.

Auch der Begriff der Unwandelbarkeit ist beiden gemein. „Durch den Glauben aber ist der Mensch Gott, welcher nicht leiden darf. Gott ist unwandelbar und so auch der Glaube.“[261] Hier tritt eine wörtliche Übereinstimmung mit Eckhart zutage. Wir werden immer mehr bestärkt in der Annahme, daß Eckharts Abgeschiedenheit bei Luther als Glaube wiederzufinden ist. Eckharts Primat der Abgeschiedenheit vor der Liebe entspricht bei Luther dem Glaubensprimat vor der Liebe: „In Sachen der Liebe muß man nachgeben, denn sie erträgt alles; in Sachen des Glaubens aber nichts... Er darf nichts dulden, nicht weichen. Er muß in äußerstem Maß stolz und hartnäckig sein.“[262] Dieser Stolz schlägt sich in Luthers Haltung insgesamt nieder, wenn es um Verfechtung reiner Lehre geht; aber ebenso war präzis an dieser Stelle Eckhart von dem gleichen Stolz. Die Geburtsmetapher findet sich bei Luther ebenso wie bei Eckhart. „ Aber Glaube ist ein Göttlich werck in vns / das vns wandelt vnd new gebirt aus Gott“.[263]

Verschmelzung von Christus und Ego im Glauben ist der Gipfel lutherscher Paulusrezeption, „sed fides facit ex te et Christo quasi unam personam, ut non segregeris a Christo.“[264]

Voraussetzung dessen ist die Selbstvernichtung in ähnlichem Sinne wie bei Eckhart, allerdings bei Luther keineswegs mystagogisch kanalisiert, es geht darum, „personam abiicere“[265]. Damit entsteht Bereitschaft zu sekundärer Ich-Diffusion.

Eckharts mystagogische Kanalisation des unio-Geschehens findet bei Luther entschiedenen Widerspruch, wenn auch nicht direkt, so doch über den Begriff der Tugend. Eckhart lobt Abgeschiedenheit als Tugend, das sagt, daß man mystische Erfahrung von sich aus provozieren kann durch Versenkung ins Innen“ Gegen Tugend aber protestiert Luther ganz und gar, wo es um die Medien des Gotteszugangs geht, der Mensch kann von sich aus überhaupt nix tun, um zu Gott zu kommen- Von scholastischen Habitus-Theorie als Gnadenträger und zweiter Natur setzt Luther sich ab. Gottes Gnade kommt nicht von Innen, vom Seelengrund, sondern von außen, von Gott, der äußerlich ist.[266]

Eine grundsätzliche Bemerkung zur Lutherinterpretation könnte nicht völlig fehl am Platz sein. Nicht nur Ebeling fällt die antithetische Spannung im Denken Luthers auf, der, noch ganz in der Tradition des Jargons der Eigentlichkeit steckend, aus der die an Heidegger geschulten Theologen der Hermeneutik erst mühsam sich freizureden hätten, Luther als Sprachereignis mystifiziert und höchst lapidar im Resultat eines ganzen Abschnitts feststellt, was ohnehin selbstverständlich ist: „Die Frage nach seinem Denken ist nicht formal zu beantworten durch Hinweis auf allgemeine Denkformen oder Denkstrukturen. Das Denken und das Gedachte können nur miteinander als Einheit erfaßt wenden.“[267] Luthers „Lust am Paradox“[268] sei nicht allein durch die „Todfeindschaft zwischen Glauben , und Vernunft“[269] zu erklären, sondern habe seinen inneren Sachgrund im „Zwischensein“[270] des Menschen. Zwischen den Zeiten lebt der Mensch. Ebeling wehrt sich, ganz im Stil des Formalisten Heideggers, gegen ein 'formalisiertes' und 'neutralisiertes' Zeitverständnis und hebt gegenüber der mathematischen Uhrzeit die theologisch qualifizierte Zeit hervor, postuliert, daß man „jene Gegensätze also selbst geschichtlich denkt“[271] und die Gesetzeszeit von der Gnadenzeit unterscheide. Diese aber seien „freilich nicht (die) historischen Zeitabläufe und aufeinanderfolgende Perioden, sondern (die) Strittigkeit dessen, was wahrhaft Zeit gewährt.“[272] Ebeling nimmt selbst seinen in der Zeit nach Heidegger zeitgemäßen Zeitbegriff zurück und schützt ihn vor einem falschen Verständnis der Geschichtlichkeit als Historizität; zwar sei der Begriff „Zeit“ und „Geschichte“ unserer allgemeinen Sprache entliehen, doch nicht so jene Vulgärsemantik, die meint, Zeit sei mehr als eine individualgeschichtliche Dimension des Welterlebens.

Trotz des heideggerhörigen Zeitbegriffs hermeneutischer Theologie besteht, solange es Individuen geben wird, deren Recht auf individuelle Zeiterfahrung, deren Wesen aber gerade darin läge, daß sie mit den Zeiterfahrungen anderer und einer gemeinsam geteilten Zeiterfahrung kosmopolitischer Ausmaße in jedem Atom verschmolzen ist. Leben hat darum Spannung, die neue Spannung auf der Suche nach Lösung freisetzt, woraus Leben in Bewegung gerät, Prozeßcharakter annimmt und Kirche als ecclesia viatorum semper reformanda est. „Semper enim sumus in via. Et relinquenda quia novemus et habemus, querenda que nondum novimus et non habemus.“[273] Wanderung aus dieser Welt in die erhoffte und verheißene Welt des Reiches Gottes, in dem die gesellschaftlich gewordenen Widersprüche des Lebens endlich ihre Erlösung finden und die Menschen Erlösung von den Widersprüchen, solche Wanderung ist vita-activa. Theologie setzt auf dem Weg Markierungen ein, umreißt grob hinten und vorn, damit Regressionen wenigstens als solche erkenntlich werden. Hinten und vorn, Vergangenheit und Zukunft, bilden dann Orientierungshilfen im Weg. So versteht Ebeling die luthersche Antithetik, die nicht die Luthers ist, sondern mindestens auf Paulus zurückgeht. In diesem Weg zur künftigen Welt ist die Buße das treibende Element. metano/hsij korrigiert Kursabweichung und kurbelt an zur Kreuzesnachfolge. Der Zirkulationsprozeß christlicher Liebe käme dabei ins Rotieren.

Eine Analogie zu Eckharts Unterscheidung des Wesens vom Sein findet sich bei Luther in der Glaubenslehre. Dort allerdings bei der Qualifikation der Werke. Gut sind Werke nicht an sich, also vom formalen Sein her (also etwa ein korrekt ausgeführtes Gebet), sondern von der Funktion her, die sie für den Glaubenden haben, ob sie Selbstrechtfertigungen sind oder ans der Freiheit der Rechtfertigung von Gott her motiviert sind und damit frei sind von heilsegoistisehen Hintergedanken. Je nach der Glaubenshaltung dient der Liebesdienst am Nächsten dann entweder dem eigenen Interesse oder dem Nächsten, und Nächstenliebe aus Sucht nach Selbstbestätigung ist Vergewaltigung des Nächsten für eigene Zwecke und entstellt den Grundcharakter der Liebe, die einen Menschen um seiner selbst willen liebt. Man könnte auch unterscheiden zwischen Liebe aus Angst (vor der Hölle im MA - vorm Alleinsein heute) und Liebe aus Lust (an sich und am anderen). Das Lustprinzip ist keineswegs Erfindung bürgerlicher Psychoanalyse, sondern von ihr nur als solches formuliert. Bei Luther finden wir es auch. „Wenn aber die person angenehm und gerecht worden ist, so wird yhr der heylige geyst und die liebe geben, das sie guts tut mit lust.“[274] Nur der Glaubende, als der er zugleich Gerechtfertigter ist, ist frei zur Liebe aus Lust. Ähnlich kann Eckhart sagen, der Lediggewordene sei offen für die ganze Welt, sie in Gott zu erleben.

 Der Glaube qualifiziert das Werk als gutes, nicht das gute Werk qualifiziert den Glauben. Das Wesen der Werke könnte man sagen, ist ihre Gutheit, ihr Sein besteht darin, daß sie getan werden. Erklärt man sich mit einer solchen Scheidung einverstanden, liegt die Parallele zu Eckhart auf der Hand. Erst die Gutheit qualifiziert das Gute als Gutes. Kriterium der Gutheit von Werken ist der Glaube. Wie bei Eckhart[275] die Gutheit ungeschaffen das Gute aus sich heraus freisetzt und sich selbst darein gebiert, so ist auch Luthers Gutheit Glauben nicht menschlich machbar, setzt mit Lust gute Werke als Sein des Guten aus sich heraus frei und manifestiert sich doch zumindest so sehr in Werke, daß Luther nach Ebeling Glauben ohne Liebe als toten Glauben bezeichnet. „Denn der bloße Glaube sei eben toter Glaube, er werde erst lebendiger, wirklicher Glaube in der Tätigkeit der Liebe, als durch die Liebe geformter Glaube. ... Die Gegensätze explizieren sich am Verständnis von Gal 5,6, wo vom Glauben gesagt wird, er sei durch Liebe wirksam. Luther bestreitet, daß dies heiße: Der Glaube rechtfertigt durch die Liebe; es besage vielmehr: Der Glaube wirkt durch die Liebe, so daß die Liebe zum Instrument des Glaubens wird und nicht einmal die Liebe selbstständig als Ursache der Werke auftritt.“[276] Das Verhältnis von Gutheit und Gutem wäre aber schon innerhalb des Glaubensgeschehens anzusiedeln, dergestalt, daß die Gutheit Christi, manifest in Kreuz und Auferstehung, im Akt der Buße und Rechtfertigung das Sein der Christperson derart affiziert, daß aus ihm eine neue Qualität wächst. Durch die nach Joh 1,1 ungeschaffene, aber inkarnierte Gutheit des göttlichen Worts Christus qualifiziert sich im Rechtfertigungsakt der Sünder als gut. Es geht hier um völlig paradoxe Qualitäten, um Heil und Unheil. Darum bedeutet die Neuqualifikation des Sünders zum Gerechten (Guten) – bewirkt durch die Gutheit Christi - eine völlige Umwandlung, die als Wiedergeburt metaphorisierbar wäre. Die Gutheit ist für uns nur in Christus zugänglich, eine weitere Gotteserfahrung schließt Luther aus. Luther schließt keineswegs die Existenz Gottes außerhalb Jesus Christi aus, doch ist sie uns verborgen und nur in Christus zugänglich; selbst in ihm aber ist sie noch unter dem Gegenteil verborgen: Nur in Jesu Ohnmacht will Gott seine Allmacht zeigen.[277] Gott ist also niemals in der reinen Unmittelbarkeit des Nichts erfahrbar, in dem die unio mystica ihren Ort hat, sagt Luther. „Den gott muß man haben, Ne sit nudus deus da cum nudo homine“.[278] Erfahrung des nackten Gottes durch den nackten Menschen aber wird zur Hölle, zur Erfahrung äußerster Anfechtung, wo die Seele mit Christus gekreuzigt wird, „Hic est anima expansa cum christo“.[279] So wird Christus zum Fluchtpunkt jeglicher Gotteserfahrung und nur Christus kann Gott vermitteln. „Iam extra Iesum quaerere deum est diabolus“[280] Die Grundlage der Erfahrung von Luthers Theologie ist christozentrisch, hier steht sie in völligem Gegensatz zu Eckharts Mystik, der jede Mittlung zwischen Gott und Mensch als bildehaft ablehnt.

Innerhalb der Christologie, deren anthropologisches Korrelat der Glaube ist, bestehen allerdings starke Strukturparallelen zwischen Eckhart und Luther. Eckharts neuplatonischer Emanationsgedankende vom Ausfließen des Wesens ins Sein, von der Eingießung göttlicher Gnade in den Menschen, haben wir wiederentdeckt in Luthers Lehre von der Einswerdung der Person mit Christus und der aus ihr geschehenden Rechtfertigung, die als Neugeburt erlebt wird. „ Czum andern, Das erste und hochste, aller edlist gut werck ist der glaube in Christum, wie er saget Johan. vi. da die Juden ihn fragten 'was sollen wir thun, das wir gut gotlich werck thun?' antwortet er 'das ist das gotlich gut werck, das yr in den glaubt, den er gesandt hat'. Nu wen wir das horen odder predigen, szo lauffen wir uberhyn unnd achtens gar gering und leicht zuthun, szo doch wir hie solten lange stan und ym wol nachtrachten. Dan in diesem werck mussen alle werck gan und yrer gutheit einflusz gleich wie ein lehen von ym empfangen.“[281] Ganz ähnlich lobt Eckhart Abgeschiedenheit als höchste Tugend.

Ich wage aufgrund der vorausgegangenen Überlegungen die These, daß die unio Eckharts bei Luther über Tauler vermittelt und wahrscheinlich auch von bernhardinischer Christus-Devotion mitbeeinflußt ihren Eingang gefunden hat in das Verhältnis der Seele zu Christus daß ferner der Ort der Einheit bei Eckhart Abgeschiedenheit heißt und mystagogisch zugänglich wird, bei Luther hingegen im Gewissen zu finden ist, aus dessen Buße als Negation zwar nicht aller Bilder, so aber doch aller Werke und selbst der eigenen Person, dem Glaubenden der Zugang zu Christus eröffnet ist.

Luther hätte damit die Denkstruktur der Mystik aufgenommen und als Metapher christozentrischer Befreiungserfahrung des Gewissens verwendet. Damit hätte sich der eigentliche mystische Erfahrungsgehalt modifiziert.

Diese These soll am Arbeitstext überprüft werden, der wegen seiner Kürze hier ganz wiedergegeben wird. Eine ausführliche Zitation scheint gerade deshalb auch nicht mehr angebracht und ich beschränke mich auf Zeilen- und Seitenangabe. Der lateinische Text wird gleichberechtigt mitverarbeitet.

5.3. Von der Freiheit eines Christenmenschen, Kap 12

5.3.1. Deutsche Fassung

„Czum zwolften. Nit allein gibt der Glaube ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam. Auß wilcher ehe folget, wie S. Paulus sagt, das Christus und die seel eyn leyb werden ßo werden auch beyder gutter fall, unfall und alle ding gemeyn, das was Christus hatt, das ist eygen der glaubigen seele, was die seele hat, wirt eygen Christi. So hatt Christus alle gütter und seligkeit, die seyn der seelen eygen. So hatt die seel alle untugent und sund auff yhr, die werden Christi eygen. Hie hebt such nu der frölich wechßel und streytt. Die weyl Christus ist gott und mensch, wilcher noch nie gesundigt hatt, und seyne frumkeyt unübirwindlich, ewig und almechtig ist, ßo er denn der glaubigen seelen sund durch yhren braudtring, das ist der glaub, ym selbs eygen macht und nit anders thut, denn als hett er sie gethan, ßo mussen die sund ynn yhm vorschlundenn und erseufft werden, Denn sein unübirwindlich gerechtigkeyt ist allenn sunden zustarck, also wirt die seele von allen yhren sunden, lauterlich durch yhren malschatzts, das ist des glaubens halben, ledig und frey, und begabt mit der ewigen gerechtickeit yhrs breüdgamß Christi. Ist nu das nit ein fröliche wirtschafft, da der reyche, edle, frummer breüdgam Christus das arm vorachte bößes hürlein zur ehe nympt, und sie entledigt von allem übell, zieret mit allen gütern? So ists nit muglich, das die sund sie vordampne, denn sie liegen nu auff Christo, und sein ynn yhm vorschluden, so hat sie ßo ein reyche gerechtickeyt ynn yhrem breütgam, das sie abermals wider alle sundbestahn mag, ob sie schon auff yhr legen. Davon sagt Paulus 1. Cor. 15. 'Gott sey lob und danck, der uns hatt gegeben ein solch übirwindung ynn Christo Jhesu, ynn wilcher vorschlunden ist der todt mit der sund'.“[282]

5.3.2. Lateinische Fassung

„Tertia fidei gratia incomparabilis est haec, Quod animam copulat cum Christo, sicut sponsam cum sponso. Quo sacramento (ut Apostolus docet) Christus et anima efficiuntur una caro. Quod si una caro sunt verumque inter eos matrimonium, immo omnium longe perfectissimum consumatur, cum humana matrimonia huius unici figurae siut tenues, Sequitur, et omnia eoruni communia fieri tam bona quam mala, ut, quaecunque Christus habet, de iis tanquam suis praesumere et gloriari possit fidelis anima. Et quaecunque animae sunt, ea sibi arroget Christus tanquam sua. Conferamus ista, et videbimus inaestimabilia. Christus plenus est gratia, vita et salute, Anima plena est peccatis, morte et dammatione. Intercedat iam fides, et fiet, ut Christi sint peccata, mors et infernus, Animae vero gratia, vita et salus: oportet enim eum, si sponsus est, ea simul quae sponsa habet acceptare et ea quae sua sunt sponsae impartire. Qui enim corpus suum et se ipsum illi donat, quomodo non omnia sua donat? Et qui corpus sponsae accipit, quomodo non omnia quae sponsae sunt accipit?

Hic iam dulcissimum spectaculum prodit non solum communionis sed salutaris belli et victoriae et salutis et redemptionis. Cum enim Christus sit deus et homo eaque persona, quae nec peccavit nec moritur nec damnatur, sed nec peccare, mori, damnari potest, Eiusque iustitia, vita, salus insuperabilis, aeterna, omnipotens est. Cum, inquam, talis persona peccata, mortem, infernim sponsae et propter annulum fidei sibi communia, immo propria faeit et iu iis non aliter se habet quam si sua essent ipseque peccasset, laborans, moriens et ad infernum descendens, ut omnia superaret, peccatumque, mors et infernus eum absorbere non possent, necessario in ipso absorpta sunt stupendo duello. Nam iustitia sua omnium peccatis superior, vita sua omni morte potentior, salus sua omni Inferno invictior. Ita fit anima fidelis per arram fidei suae in Christo, sponso suo, omnibus peccatis libera, a morte secura et ab inferno tuta, donata aeterna iustitia, vita, salute sponsi sui Christi. Sic exhibet sibi sponsam sine macula et ruga gloriosam, mundans eam lavacro in verbo vitae, id est per fidem verbi, vitae, iustitiae et salutis. Sic sponsat eam sibi in fide, in misericordia et miserationibus, in iustitia et iuditio, ut Oseae 2. dicit.

Quis ergo has nuptias regales satis aestimet? Quis divitias gloriae gratiae huius comprehendat? Ubi dives et pius hic sponsus Christus ducit uxorem hanc pauperculam, impiam meretriculam, redimens eam ab omnibus illius malis et ornaus omnibus suis bonis. lam enim impossibile est, ut peccata sua eam perdant, cum super Christum posita sint et in ipso absorpta, habeatque ipsa eam iustitiam in Christo, sponso suo, de qua ut sua propria praesumat et adversus omnia peccata sua contra mortem et infernum possit cum fidutia illam opponere et dicere 'Si ego peccavi, at Christus mens non peccavit, in quem credo, cuius omnia mea sunt et omnia mea illius', sicut in Canticis 'Dilectus mens mihi et ego illi'. Hoc est, quod Paulus dicit 1. Cor. 15. 'Deo gratias, qui dedit nobis victoriam per Ihesum Christim dominum nostrum,' Victoriam autem peccati et mortis, sicut illic inducit 'peccatum Stimulus mortis est, virtus vero peccati lex'.“[283]

 

5.3.3. Auslegung

Eine unvergleichliche Gnade des Glaubens ist, daß die Seele mit Christus verbunden wird wie Braut und Bräutigam.[284] Grundmodell dieser Aussage ist Eph. 5,30, wo Paulus das Verhältnis Christi zur Kirche als Ehe meta-phorisiert und somatische Einheit als Ausdruck der engen Verbundenheit anwendet. Da Leib Christi fester Terminus für den Sozialverband Kirche ist, handelt es sich bei Übernahme dieser paulinischen Wendung durch Luther um ein geläufiges und keineswegs primär mystisch gemeintes Bild ekklesiologischer Dimension. Daß Paulus selbst und der frühchristliche Sprachgebrauch, angeregt etwa durch die Gnosis, zu einem gewissen Mystizismus tendieren, kann nicht abgestritten werden. Christus und die Seele werden „una caro“.[285] Dies hält sich streng an die Epheservorlage. Ein Fleisch werden ist Ausdruck für die Ehe. Daß Sexualität Modus und sakramentaler Ausdruck der Ehe ist, hat Luther nicht bestritten, ist doch heute noch in evangelischen Familien eine genaue Zahlenangabe über den zuträglichen ehelichen Sexualverkehr sprichwörtlich geronnen im Umlauf.[286] Der Kontext unserer Stelle zeigt aber, daß hier sexuelle Deutung fehlerhaft ist. Es geht um den eher religiös-institutionellen Sinn der Ehe, die als „sacramentum“[287] und „matrimonium“[288] gekennzeichnet wird. Die deutsche Version hat darüber hinaus eine kleine Analogie zu mystischer Sprache: „ das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig“[289], erinnert fern an die Gottförmigkeit, deren Folge die Eingeburt des göttlichen Wortes ist. Über eine flüchtige Sprachanalogie jedoch scheint mir diese Formulierung nicht hinauszugehen. Denn sowohl deutsche wie lateinische Fassung präzisieren das Eheverständnis im folgenden als eine Lebens-, Schicksals- und Gütergemeinschaft [290], in welche Christus Gnade, Leben und Seligkeit hat[291], die Seele hingegen nur Sünde, Tod und Verdammung.[292]Der Eheverband ist nun allerdings kommunistisch organisiert, es gibt keinen Privatbesitz, nicht einmal den des Körpers.[293]

In recht eigenartiger Logik leitet Luther aus der körperlichen Hingabe den Rechtstitel der Gütergemeinschaft ab.[294] Wer schon seinen Leib gibt, könne auch ruhig sein Habe geben. Diesmal kann man wohl kaum umhin, den Begriff „corpus“ sexuell zu verstehen, als Dienst des männlichen Körpers zur Lust der Geliebten und umgekehrt. Ökonomisch könnte die Hingabe des Leibes zwar auch zu interpretieren sein, der Mann gibt sich, seine Arbeitskraft und den Schutz, der durch die Manneskraft für die Familie gegenüber Außenstehenden gegeben ist, für die Frau hin - doch daran wäre mindestens zu fragen, ob es da Hingabe gibt, die nicht mindestens auch dem eigenen Wohl zugute kommt. Die dritte Ausdeutung der Leibeshingabe ist christliches Martyrium in Kreuzesnachfolge, oder christologisch gewendet: die Selbsthingabe Jesu ans Kreuz für die Vergebung der Sünden seiner Kirche. Sicherlich hätte solche Ausdeutung im Gesamten der Christologie, die hier verhandelt wird, unbedingten Vorrang, doch ist schon die nachfolgende Passage wieder derartig lustbetont, daß der einzige innere Zusammenhang von Jesu Passion und des Christen Freude in einem aufs erste schockierenden Masochismus besteht, „dulcissimum spectaculum“[295] und „frölich wechßel“[296] ruft die Assotiationen von Zärtlichkeit erneut wach und unterstützt darin die obig erste Ausdeutung im sexuellen Sinn, von dem Luther den ökonomischen erst sekundär herleitet.

Binaturenchristologie folgt. Der Gottmensch Christus Jesus ist sündlos, unsterblich und heilig, kann weder sündigen, sterben noch verdammt werden[297] (was eine Einschränkung seiner Allmacht ist, ihr faktisch sogar widerspricht). Seine Gerechtigkeit, sein Leben und Heil sind unübertreffbar, ewig und allmächtig.[298] Alldas hat die Seele nicht, sie ist sterblich, sündlich und verdammt, so daß Christus und die Seele Gegenpole von ihrer qualitativen Struktur her abgeben. Angesichts dieser völligen Gegensätzlichkeit beider Ehepartner Christus und Seele kommt es nicht etwa zur Scheidung, sondern zur Absorption der Braut durch die superlativen Qualitäten Christi. Fleischeseinheit mit Christus absorbiert Sünde, Mühe, Sterben und Verdammnis.[299] Zwar ähneln sich Christi Qualitäten und Eckharts Gottesbegriff, doch wird die fundamentale Differenz im Fehlen jeglicher Göttlichkeit im Seeleninnestern als ontologischer Bestimmung in Luthers Anthropologie deutlich. Der deutsche Text geht inhaltlich nicht weiter als der lateinische auch, bringt jedoch plastischere Begriffe für Absorption: „ßo müssen die sund ynn yhm vorschlunden und erseufft werden!“[300] Die Fleischeinheit gipfelt darin, daß der unsterbliche Christus die sterbliche Qualität der Seele teilt und selbst stirbt am Kreuz, ins Höllenfeuer hinabsteigt[301], damit er alles besiege, woran seine Braut schwach ist.[302] Sein Sieg über Sünde, Tod und Teufel wird kommunistisch geteilt, die Seele partizipiert am Sieg Christi, an seiner Stärke und an seine Göttlichkeit. Sie wird aller Sünden frei, unbesorgt um den Tod und die Hölle, ihr wird ewige Gerechtigkeit, ewiges Leben und ewiges Heil zuteil als Teilhaberin, weil Ehefrau Christi.[303] Der deutsche Text läßt hier stark an ökonomische Einheit denken, bei der Partizipation der Seele an Christi Stärke, der die Partizipation des starken Christus an der menschlichen Schwachheit vorausging, „als wir noch schwach waren“.[304] Er spricht nämlich von der „ fröliche wirtschafft, da der reyche, edle, frummer breüdgam Christus das arm vorachte bößes hürlein zur ehe nympt, und sie entledigt von allem übell, zieret mit allen gütern“.[305] Die Gegensatzqualifikationen von Gott und Mensch, die Luther nicht genug betonen kann, verschmelzen in Jesu Gottmenschlichkeit zur ersten Einheit, der als zweite und Folge der ersten die Glaubenseinheit von Christus und Seele nachhinkt, in welcher mittels sakramentaler Partizipation[306] die in Christus hergestellte Einheit von Gott und Mensch durch Absorption der negativen menschlichen Qualitäten dergestalt auf den Menschen überfließen, daß dieser frei und ledig von Sünden ist. Bei Eckhart wird man ganz desselben ledig, aber aus eigener Tugend der Versenkung, der Luther diese Fähigkeit nicht einräumen kann; etwa deshalb, weil er sie nicht kannte?

Zusammenfassend wird man mit Ruhland sagen können: Die Vereinigung von Christus und Seele „ist nicht im Bereich des Göttlichen. Sie ist eine Gütergemeinschaft, an der der Gläubige Anteil hat.“[307] Aus anderen Stellen erhellen sich die die Christusvereinigung vermittelnden Organe: „Denn der entscheidenste Faktor in Luthers Verhältnis zur Brautmystik ist die heilige Schrift. ... Luther hat im Sakrament das Geheimnis der Lebensgemeinschaft mit Christus gesehen und erkennt, daß diese Lebensgemeinschaft der Ursprung aller Nachfolge werden muß...“[308]

Grundsätzlich rekapituliert Ruhland Luthers Verhältnis zur Mystik so: „Ekstasis ist bei ihm 'der Sinn des Glaubens', ist ein Hineingerissen-werden in 'die klare Erkenntnis'. Dieses vollzieht sich aber nicht jenseits, sondern innerhalb des Glaubens.“[309] „Stufen auf dem Heilsweg gibt es bei Luther weder im Bereich des Glaubens noch in dem der Liebe.“[310]

Zum Beleg der Behauptung, der Ort der Vereinigung mit Gott in Christus sei für Luther das Gewissen, also das Gewissen sei der Wohnsitz des Glaubens, sei nur ein Zitat angeführt, um es auch schon damit bewenden zu lassen, da Ortsbestimmungen religiös-psychischer Lebensprozesse allemale relativ große semantische Schwierigkeiten machen, wenn sie auch so groß nicht sind, daß schon der Versuch einer Lokalisation sinnlos wäre. „ ut locus noster, in quo nos cum deo, sponsus cum sponsa, habitare debet (id est conscientia), ustus sit et absumptus per iugem iram compunctionis, secundum illud ps. 4. 'Irascimini et nolite peccare'.“[311]

Psychologisch interessant wird es, wenn man versucht, Luthers Schwierigkeiten mit der Mystik, seine Angst vor dem 'nackten Gott' und dem Erfahrungsbericht eines Menschen, dessen Gotteserfahrung ihm zur Hölle wurde, zu verstehen. Luthers Binnenerfahrung war überbildet von dem überwältigenden Eindruck seines Vaters als repressiver Gestalt, was sich nach dem feuerbachschen Gesetz des religiösen Anthropomorphismus in der Vorstellung und Erfahrung Gottes reproduziert. Sein Gewissen war von Angst gezeichnet, woraus der Primat seiner Hamartanologie in der Anthropologie eben hervorsticht, der bei Eckhart überhaupt nicht aufweisbar ist.

Die Erfahrung eigener sozialer Unangepaßtheit als Sünde pflegt in der Regel Resultat einer allzu repressiven Sozialisation zu sein, deren bedingtes historisches Recht für das Mittelalter nicht abzustreiten ist, die darum aber keinen Ewigkeitsanspruch hat. Während für Eckhart das Zentralproblem die größtmögliche Gottesnähe ist, modifiziert es sich bei Luther in die Frage nach einem gerechten Gott, nach der Rechtfertigung. Das eigene negative Selbstbild war keineswegs nur ein Spezificum Luthers. Es war historisches Problem seiner Zeitgenossen, die unter der Vergesetzlichung des allgemeinen religiösen Bewußtseins durch kirchliche Organe, die sich dran reichmachten, im Gewissen Qualen erlitten. Erikson spricht von der „Hypertrophie des negativen Gewissens..., die unser ganzes jüdisch-christliches Erbe durchzieht. ... Aber das negative Gewissen kann sich nur dann übermäßig entwickeln, wenn der Mensch nach seiner Identität hungert.“[312]

Die Rechtfertigung aus Glauben allein ermöglicht ein positives Gewissen, das durch Christi Erlösungstod frei von Schuldqualen und der Sorge um Tod und Hölle geworden ist, das also über die menschlichen Grundängste keine Besorgung kennt und darum von ihnen so frei wird, daß sie potentiell vergessen werden können.

Aus solcher christlicher Freiheit heraus würde dann um der Liebe willen geliebt und nicht mehr aus Heilsnotwendigkeit, dem Wunsch, durch gute Taten in den Himmel zu kommen, wenn das momentan noch andauernde Erdendasein beendet ist. Glaube macht frei zur Liebe. Er entbindet vom alltäglichen Geschäftsdenken des religiösen Utilitarismus, der das „do ut des“ des Sorgens um eine möglichst effiziente Heilsaneignung überbietet und verdrängt. Wie bei Eckhart die vollständige unio erst da erschien, wo die ganze Welt in neuem Lichte aufstrahlte, weil die Augen, die man schloß, das Innere öffneten für die Welt, so entspricht bei Luther der Erfahrung von Befreiung des Gewissen und Ledigwerden aller Schuld im Verhalten ein Freisein für alle Welt, der Gottes erfahrene Liebe weiterzuvermitteln ist aus der Freiheit des Glaubens.

Luther propagiert in seiner Freiheitsschrift, daß die Seele, der innere Mensch, nicht einmal durch Foltern und Qualen der körperlichen Hülle affiziert werden könne. Dies mag eine Lernerfahrung während der wöchentlichen Prügel durch den Vater gewesen sind, die vielleicht einzige Möglichkeit für den jungen Martin, mit dieser ständig wiederholten Tortur zu überleben.

Die gesamte Dichotomie der Welt und des Einzelnen lebt von dieser Spaltung, einer Abspaltung der leidenden Seele von der feindlichen Welt. Christus ist das große Symbol dieses Rückzugs von dem Reich dieser Welt, von der Körperlichkeit und Sinnenfreude. Die Entsagung des Gekreuzigten, schon im Urchristentum gedeutet und stipuliert zum Sühneopfer für die Sünden der Welt die vorzugsweise gerne auch die Sünden der Sinnlichkeit des eigenen Ichs sind, wir Vorbild der Abspaltung und Ausgrenzung der Lust und Lebensfreude. Theologia crucis ist die Möglichkeit der verletzten Seelen, ihren Schmerz in der Verschmelzung mit dem Schmerz Christi als Erfahrung der Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes zu erleben. Dies wird mit Phil 3,1-12 als Gleichgestaltung bezeichnet. Der Blick auf eine Lebensmöglichkeit, die Raum gibt für Freude ohne Schmerz, in der das Leiden aufhört, wo Gott die Tränen abwischt und der Mund voll Lachens ist – das war für Luther kaum vorstellbar. Seine Theologie ist die des geprügelten Knaben, aus dem dann sehr schnell auch ein prügelnder Knabe wird, wo er sich voller Zorn gegen die räuberischen Rotten der Bauern stellt und dazu aufruft, diese aufs brutalste zu bekämpfen. Gehorsam nach Oben hin ist Christenpflicht und getreten wird nur nach unten. Die Welt ist klar gegliedert in Oben und Unten, Reich Gottes und Reich der Welt. Das gibt Orientierung und einen festen Halt in der festen Burg Gottes. Die Begriffe sind klar und einfach. Jeder findet sich in Luthers Raster schnell zurecht. Das mag die Stärke von Luthers Denken ausgemacht haben und war ein Grund, weshalb sich seine Lehre so rasant verbreiten konnte. Der zoroastrische Dualismus von Licht – Finsternis, Gut – Böse, Gott – Welt, usw. setzt sich über das johanneische Schrifttum bei Luther fort in das simul justus et peccator, die Spaltung des Selbst in den Sünder und den Gerechtfertigten, Begnadigten. Die Vision des Prügelknaben ist eine Welt ohne Prügel, die Begnadigung, der Strafverzicht. Daß Sünde notwendig zu bestrafen ist, steht völlig außer Frage. Darum ist die Sühnopfer-Idee die Lösung des Problems. Der gekreuzigte Gottessohn nimmt die Strafe auf sich und läßt das Sündersein fortan straflos geschehen. Dafür darf man ihm danken und ihn lieben. Man ist künftig fundamental in seiner Schuld, wäre man doch ohne seinen Tod selbst aufgrund des eigenen Sünderseins des Todes schuldig, den man als Sterblicher ja ohnehin zu sterben hat. Aber man erwirbt sich – und das macht den Unterschied – einen Platz im Himmel durch den Glauben an die Erlösungswirkung des Todes Jesu. Darum ist der Glaube fortan das Himmelsticket. Zugleich antezipiert der Glaube diese himmlische Gottesnähe in persönlicher gebetshaft praktizierter Nähe zu Jesus und Gott im stillen Kämmerlein.

Diese persönliche Beziehung im Gebet entspricht der Versenkungsekstase der Mystiker im äußerlichen Rahmen. Es ist aber geprägt vom absoluten Gegensatz von Ich und Du, Mensch und Gott. Dagegen erlebt der Mystiker eine Verschmelzung mit dem Göttlichen. Er kann seine Grenzen öffnen, kann sich infinieren, statt sich als Sünder zu definieren. Er kann auf Halt verzichten, weil er sich gehalten weiß von der alles durchflutenden Wirklichkeit des Göttlichen in uns und in den Dingen.

Während die haltgebende Dichotomie des Luthertums vorzugsweise in sozial verunsicherten und machtorientiert erzogenen unteren Schichten gefragt ist, setzt die Fähigkeit des Mystikers zur Versenkung und Verschmelzung mit dem Göttlichen eine große Angstfreiheit voraus, wie sie am ehesten in gebildeten bürgerlichen oder adeligen Kreisen möglich wurde. Das Luthertum eignet sich für krisengeschüttelte Fundamentalisten, während die Mystik oder Esoterik ein aufgeklärtes religiöses Bewußtsein voraussetzt und fördert. Schleiermachers Ozeanisches Gefühl als Ausdruck des Glaubens markiert diese Aufklärung in der Theologie. Man könnte noch pointierter sagen: der Autoritarismus des Luthertums steht grundsätzlich nicht völlig quer zu totalitären und diktatorischen Staatsformen. So wurde Hitler aufgrund seiner autoritativen Regierungsform von lutherischen Bischöfen 1933 sogar gefeiert.[313] Dem mystischen Bewußtsein wäre eine solche Wende zum deutschen Christentum oder anderen faschistischen Bekenntnisformen prinzipiell unmöglich.



[1] DK 14 B 53 = Euseb, Praeparatio evangelica XI 3.8f

[2] Josephus, Antiquitates judaica XIV,11,7; XIV,13,8f; XIV,14,6; XIV,15,1-4; XV,6,5; De bello judaico I,12,1; I,13,7f; I,15,1-4; I,16,1; II,17,2.8f; II,22,2; IV,7,2f.5.9; VII,8,1-5; 10,1; cf Jacob Neusner, Eliezer ben Hyrcanus. The Tradition and the Man I+II, Leiden (Brill) 1973

[3] Michael Lütge, Der Himmel als Heimat der Seele II. Visionäre Himmelfahrtspraktiken in Henocha, Hermetik, im Mithraskult, bei Täufern und Sethianern, Saarbrücken (Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften) 2010,612,618; Maarten Jozef Vermaseren, in: RGG3 IV,1022. Merkelbach 1984,145 zitiert aus dem Mithräum unter San Prisca: »et nos servasti aeternali sanguine fuso.« Zur Übertragung der Kraft des Stieres durch sein Blut auf die Krieger cf Widengren 1965,60-93; Colpe, Zarathustra und der frühe Zoroastrismus, in: Asmussen/Læssøe/Colpe 1972,319-57,320-24; Eliade 1978,279-306; Herman Lommel, Mithra und das Stieropfer, in: Paideuma 3/1949,207-18; Robert Duthoy, The Taurobolium. Its Evolution and Terminology, EPRO 10, Leiden (Brill) 1969 zum Kybelekult.

[4] Klaus-Peter Jörns, Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München (Beck) 1997,199-220

[5] Erik Homburger Erikson, Der junge Mann Luther, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1975,57;68f;84f. In der Mansfelder Lateinschule notierte der lupus, ein Schülerspitzel, Vergehen wie Fluchen, Witzereißen, Deutschsprechen usw. auf seinem „Wolfzettel“. Am Samstag wurde dieser in Braunschweig „ausgewertet“. Pro Vergehen ein Streich. WATR 3,417 Nr. 3566B: „Die Lupi-Zeddel, item die Examina legor, lereis, legere, legitur, cuius partis orationis, das sind der Kinder Carnificinae gewesen. Ich bin ein Mal fur Mittage in der Schule funfzehen Mal nach einander gestrichen worden. Ouodlibet regimen debet observare discrimen ingeniorum, man muß Kinder stäupen und strafen, aber gleichwol soll man sie auch lieb haben". WATR 2,134 Nr. 1559: "Man soll die kinder nitt zu hart steuppen, den mein vatter steupt mich einmal also sehr, das ich im floh und das im bang was, bis er mich wider zu im gewenet. Ich wolt auch nitt gern mein Hansen seher schlagen, sunst wurd er blöde und mir feind" cf Erlanger Ausgabe 61,213. WATR 3, ,415f Nr. 3566A: "Mein mutter steupet mich umb einer eingen nuß willen usque ad effusionem sanguinis. Et ita stricta disciplina me tandem ad monasterium adegerunt, wiewol sie es hertzlich gut gemeinet haben, sed ego pusillanimus tantum. Ipsi non potuerunt discernere inter ingenia et correctiones, quomodo temperandae essent. Man mus also straffen, das der apffel bei der ruten sei.“ WATR 3,416 Nr. 3566B: „Meine Aeltern haben mich gar hart gehalten, daß ich auch drüber gar schüchtern wurde. Die Mutter stäupte mich einmal um einer geringen Nuß willen, daß das Blut hernach floß, und ihr Ernst und gestreng Leben, das sie mit mir führeten, das verursachte mich, daß ich darnach in ein Kloster lief und ein Mönch wurde; aber sie meintens herzlich gut. Sed non poterant discernere ingenia, secundum quae essent temperandae correctiones. Quia man muß also strafen, daß der Apfel bey der Ruthen sey. Es ist ein böse Ding, wenn um der harten Strafe willen Kinder den Aeltern gram werden, oder Schüler ihren Praeceptoribus feind sind. Denn viel ungeschickter Schulmeister seine ingenia mit ihrem Poltern, Stürmen, Streichen und Schlagen verderben, wenn sie mit Kindern anders nicht denn gleich als ein Henker oder Stockmeister mit einem Diebe umgehen.“ M. Johann Mathesius, Leben Luthers 1565, Predigt Nr. 1 – WATR 1,167 Nr. 387: „Wo Vater und Mutter nicht mehr können, da muß Meister Hans, der Henker, ausrichten und ziehen.“

[6] Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973

[7] Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973,183

[8] Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften V: Die geistige Welt 1: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1924,263

[9] Wolfgang Trillhaas, Einführung in die Predigtlehre, Darmstadt (Westdeutscher Verlag) 1974,94ff

[10] Habermas aaO 201

[11] Der Sachgehalt zB des Begriffes Blut und Boden im 3. Reich ist aufweisbar nur durch Kenntnis seines historischen Hintergrundes und der Funktion, die ihm bei den Volksgenossen zukam.

[12] Gerhard Marcel Martin, „Wir wollen hier auf Erden schon...“. Das Recht auf Glück, Stuttgart (Kohlhammer) 1970,43

[13] Heinrich Kutzner, Erfahrung und Begriff des Spiels |eine religionswissenschaftliche, metapsychologische und gesellschaftskritische Untersuchung, Bonn (Bouvier) 1975,93. Cf zur Aufhebung des Objekts Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1972,98-108 und 317ff

[14] Kutzner aaO 74

[15] Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart (Kohlhammer) 1960,123

[16] Kutzner aaO 77

[17] ebd 78

[18] Fink aaO 46

[19] Kutzner aaO 97

[20] Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit. Einheit und Wandlung ihrer Erscheinungsformen, Berlin3 (de Gruyter) 69,13ff und 67 (Abk.: Wentzlaff)

[21] Wentzlaff aaO 10 cf 8f und 16f. Luther WATR 3,420 Nr. 3574: "Verflucht und vermaledeiet seien alle Prediger, die in Kirchen nach hohen, schweren und subtilen Dingen trachten, und dieselben dem Volk fürbringen und davon predigen, suchen ihre Ehre und Ruhm, wollen einem oder zweien Ehrgeizigen zu Gefallen thun! Wenn ich allhie predige, lasse ich mich aufs Tiefste herunter, sehe nicht an die Doctores und Magistros, der in die 40 drinne sind, sondern auf den Haufen junger Leute, Kinder und Gesinde, der in die hundert oder tausend da sind; denen predige ich, nach denselbigen richte ich mich, die dürfens. Wollens die Andern nicht hören, so stehet die Thür offen! Darum, mein lieber Bernharde, befleißige Dich, daß Du einfältig, vernehmlich, lauter und rein predigest und lehrest!"

[22] ebd

[23] Karl Marx, MEW 7,344

[24] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1959,1538

[25] Carl Andresen, Geschichte des Christentums I, Von den Anfängen bis zur Hochscholastik, Stuttgart (Kohlhammer) 1975,167

[26] Andresen aaO 167

[27] Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen13 (Mohr) 1971,209

[28] Andresen aaO 167

[29] Andresen aaO 167

[30] Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen13 (Mohr) 1971,203

[31] Andresen aaO 168

[32] Andresen aaO 167

[33] Heussi aaO 203

[34] Heussi aaO 207

[35] Heussi aaO 201

[36] Heussi aaO 147

[37] Heussi aaO 204

[38] Andresen aaO 168

[39] Heussi aaO 203

[40] Heussi aaO 204

[41] Heussi aaO 204

[42] Andresen aaO 170; Heussi aaO 217f

[43] Heussi aaO 218f

[44] Heussi aaO 240

[45] Heussi aaO 208

[46] Genau so verfährt die USA: Intranationale Proteste werden durch Integration aufgehoben. Cf Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied (Kiepenheuer) 1964. Wo dies nicht möglich ist, wird der CIA eingesetzt, etwa beim Putsch gegen Salvador Allende durch eine Militärjunta in Chile 1973, der zu verheerender Mordlust der Folterknechte Pinochets geführt hat.

[47] Heussi aaO 220

[48] Andresen aaO 190

[49] Heussi aaO 219

[50] Heussi aaO 241

[51] Heussi aaO 229

[52] Heussi aaO 229f und 449

[53] Heussi aaO 224

[54] Andresen aaO 222

[55] Andresen aaO 222

[56] Wentzlaff aaO 24

[57] Heussi aaO 237

[58] Heussi aaO 238

[59] Heussi aaO 237

[60] Quint, Vorwort in: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrg. und übers. v. Joseph Quint, München3 (Hanser) 1969,9

[61] Südwestfunk II am 25.5. 1976 um 17 Uhr

[62] Heussi aaO 226

[63] Heussi aaO 226

[64] Andresen aaO 223

[65] Heussi aaO 223

[66] Wentzlaff aaO 73 und 76

[67] Wentzlaff aaO 74

[68] Wentzlaff aaO 74

[69] Wentzlaff aaO 72

[70] Wentzlaff aaO 83

[71] Wentzlaff aaO 77 und 79

[72] Wentzlaff aaO 75

[73] Wentzlaff aaO 84

[74] Heussi aaO 227

[75] Heussi aaO 227

[76] Heussi aaO 227

[77] Quint aaO 39; zu Gott in allen Dingen finden aaO 32, 38, 46

[78] Heussi aaO 222 Cf Hans Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1961,527

[79] Quint aaO 11

[80] Heussi aaO 223

[81] Quint aaO 11

[82] Quint aaO 11; Wentzlaff aaO 67; Grundmann aaO 527

[83] Heussi aaO 223

[84] Grundmann aaO 533

[85] Heussi aaO 226

[86] Heussi aaO 226

[87] Grundmann aaO 536

[88] Wentzlaff aaO 24

[89] Wentzlaff aaO 66

[90] Wentzlaff aaO 67

[91] Wentzlaff aaO 69

[92] Wentzlaff aaO 86; Quint aaO 11

[93] Grundmann aaO 527

[94] Quint aaO 87

[95] Grundmann aaO 530f

[96] Heussi aaO 227

[97] Grundmann aaO 536

[98] Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: Jürgen Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie I, Theologische Bücherei 17, München (Kaiser) 1962,3-37,11

[99] Andresen aaO 219

[100] Wentzlaff aaO 67

[101] Wentzlaff aaO 83

[102] Wentzlaff aaO 83

[103] Grundmann aaO 527

[104] Wentzlaff aaO 86

[105] Wentzlaff aaO 86; Andresen aaO 220

[106] Wentzlaff aaO 87

[107] Quint aaO 19

[108] Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung, in: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrg. und übers. v. Joseph Quint, München3 (Hanser) 1969,139. Ich zitiere aus dieser Ausgabe (= Quint 1969) wegen ihres günstigen Preises im Handel. Zugrunde liegt ihr Quints Übersetzung von 1952 im Insel-Verlag Frankfurt. Daneben gibt es textgleich von Quint herausgegeben und übersetzt die vielbändige, bislang unvollständige kritische Gesamt-Edition: Meister Eckehart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrg. Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und übers. v. Joseph Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963-2007. Hier findet sich der vorliegende Traktat in Bd. V.

[109] Quint aaO 19

[110] Eckhart, Predigt 32, in: Quint 1969,309

[111] Georg Klaus / Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Leipzig (VEB Bibliographisches Institut) 1964,752

[112] Wentzlaff aaO 98

[113] Wentzlaff aaO 99

[114] Wentzlaff aaO 100

[115] Zur Spekulationsmystik als Vorläufer bürgerlicher Individualisierung, Autonomiegewinnung und Freiheitsentwicklung cf Wentzlaff aaO 19 und 101f

[116] Wentzlaff aaO 8f und 16

[117] Eckhart, Opus sermonum, Sermo 29,301-304 in: Quint 1969,22

[118] Eckhart, Reden der Unterweisung (= RdU), Rede 6, in: Quint 1969,58f

[119] ebd; cf Wentzlaff aaO 14

[120] Wentzlaff aaO 88

[121] Wentzlaff aaO 100

[122] Zum Verhältnis von vita contemplativa und vita activa sowie zur Übertreibung von Kontemplation und dessen Regelung durch die Ordensregeln cf Wentzlaff aaO 14-19

[123] Zum Problem des Denkens als Angstreaktion und Regression cf Hans Georg Gadamer, Die Unbegreiflichkeit des Todes, in: Evangelische Kommentare 11/1974,660-664, darin 664: „Was für das Denken eine angemessene Weise, über den Tod zu denken, bleibt, scheint nichts anderes, als die Angst selbst zu denken, oder besser, die Angst selbst als Denken zu erkennen.“

[124] Gadamer ebd

[125] Andresen aaO 221

[126] Quint aaO 15

[127] Otto Karrer, Eckhart, in: Die Wahrheit der Ketzer, hrg. von Hans Jürgen Schulz, Stuttgart (Kreuz) 1968,74 Anm. 149. Cf Karrer, Vorrede in: Meister Eckehart. Das System seiner religiösen Lehre und Lebensweisheit. Textbuch aus den gedruckten und ungedruckten Quellen, München (Müller) 1926

[128] Karrer 1968,74

[129] Eckhart, Predigt 7 in: Quint 1969,186, zitiert in “In agro dominico“, Bulle Johannes XXII. vom 27. März 1329 als Satz 10: "Wir werden völlig in Gott umgeformt und in ihn verwandelt; auf gleiche Weise, wie im Sakrament das Brot verwandelt wird in den Leib Christi: so werde ich in ihn verwandelt, daß er selbst mich hervorbringt als sein Sein als eines, nicht (etwa nur) als gleiches; beim lebendigen Gott ist es wahr, daß da kein Unterschied besteht." Vollständiger Text der Bulle in: Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hrg. v. J. Quint, 1979,449ff, darin 451. Cf Karrer 1968,76

[130] Die Hauptlegitimation der Kirche liegt nicht in irgendeinem Dogma, sondern in der Praxis der Kirche: sie ist da, deshalb, ist sie da. Man sollte die Relevanz dieser pragmatischen Legitimation nicht unterschätzen.

[131] Wentzlaff aaO 8-10, 16 und 19f

[132] Eckhart in: Quint 1969,186 und 292

[133] Quint 1969,33 unter Aufnahme von Eckharts Predigt 25 auf Seite 267

[134] Eckhart in: Quint 1969,42

[135] Eckhart, Predigt 4, in: Quint 1969,169

[136] Eckhart, Predigt 4, in: Quint 1969,170

[137] Eckhart, Predigt 4, in: Quint 1969,170

[138] Eckhart, Predigt 43, in: Quint 1969,358f

[139] Eckhart, RdU 6, in: Quint 1969,60

[140] Eckhart, Predigt 43, in: Quint 1969,356

[141] Eckhart, Predigt 43, in: Quint 1969,356

[142] Quint 1969,36ff; Wentzlaff aaO 19f, 91 und 96

[143] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,141

[144] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,145

[145] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,145

[146] Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung, in: Quint 1969,102

[147] Eckhart, Predigt 3, in: Quint 1969,165

[148] Eckhart, Predigt 43, in: Quint 1969,314

[149] Eckhart, Predigt 6, in: Quint 1969,181

[150] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,145

[151] Dieser Satz ist aufgrund der deutschen Grammatik min­destens zwölfdeutig, für den Nachweis einer dreizehnten Deutung wäre ich dankbar.

[152] Eckhart, Predigt 10, in: Quint 1969,197

[153] Georg Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Gesammelte Werke XII, hrsg. von Georg Lasson, Hamburg (Meiner) 1966,253

[154] Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1972,106

[155] ebd 332

[156] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,146

[157] Theodor Wiesengrund Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1972,55

[158] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,146

[159] Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1972,132

[160] Max Horkheimer / Theodor Wiesengrund Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main (Fischer Taschenbuch) 1971,168f

[161] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,145

[162] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/Main9 (Suhrkamp) 1973,115

[163] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,146

[164] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,147

[165] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,147

[166] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,147

[167] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,147

[168] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Münchener Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie, Werke X, Stuttgart/Augsburg (Cotta) 1859f; Nachdruck: Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1981,100

[169] Wentzlaff aaO 88-90 und 98f

[170] Eckhart, RdU, in: Quint 1969,60

[171] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,149

[172] Paolo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek (Rowohlt) 1973,84 Anm. 19

[173] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Meister Eckehart, Die deutschen und lateinischen Werke, hrg. Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft und übers. v. Joseph Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,539

[174] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,539

[175] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,540

[176] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,540

[177] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,540

[178] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,541

[179] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,541

[180] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,541

[181] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,541

[182] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,541f

[183] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,542

[184] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,542

[185] Eckhart, Predigt 9, in: Quint 1969,193; Quint 1969,29 und 32

[186] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,545

[187] Eckhart, Predigt 2, in: Quint 1969,159

[188] Eckhart, Predigt 6, in: Quint 1969,179

[189] Eckhart, Predigt 6, in: Quint 1969,179

[190] Eckhart, Predigt 6, in: Quint 1969,181

[191] Eckhart, Predigt 4, in: Quint 1969,171

[192] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,545

[193] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,542

[194] Eckhart, Predigt 25, in: Quint 1969,269

[195] Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973,1537

[196] Eckhart, Predigt 32, in: Quint 1969,304f

[197] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973,1408: „Gott wird zum Reich Gottes und das Reich Gottes enthält keinen Gott mehr.“

[198] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973,1536f

[199] Eckhart, Predigt 32, in: Quint 1969,305

[200] Eckhart, Predigt 22, in: Quint 1969,253

[201] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,543

[202] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,543

[203] mit Marcuse 1964

[204] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,543

[205] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,544

[206] Eckhart, Predigt 1, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,200

[207] Wentzlaff aaO 19f, 91 und 96

[208] Eckhart, Vom edlen Menschen, in: Quint 1969,142

[209] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,545

[210] Eckhart, Predigt 32, in: Quint 1969,304f

[211] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,545

[212] Quint, Vorwort, in: Quint 1969,9; Südwestfunk II am 25.5. 1976 um 17 Uhr

[213] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,545

[214] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,545

[215] Eckhart, Predigt 42, in: Quint 1969,355

[216] Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1973,334

[217] Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1966,205

[218] Eckhart, Von Abgeschiedenheit. Traktat 3, in: Quint, Stuttgart (Kohlhammer) 1963,547

[219] Eckhart, Reden der Unterweisung, Rede 7, in: Quint 1969,63

[220] Eckhart, Reden der Unterweisung, Rede 6, in: Quint 1969,61f

[221] Eckhart, Reden der Unterweisung, Rede 17, in: Quint 1969,79

[222] Eckhart, Reden der Unterweisung, Rede 6, in: Quint 1969,62

[223] Eckhart, Reden der Unterweisung, Rede 10, in: Quint 1969,67

[224] Gerhard Ebeling, Luther, Einführung in sein Denken, Tübingen (Mohr) 1964,9 und 14

[225] Luther, Weimarer Ausgabe (= WA), Weimar (Verlag Hermann Böhlau) 1883-1929,8,685,4-15; Ebeling aaO 23

[226] WA 1,153,29-34

[227] WA 1,378,21f

[228] WA 9,95

[229] WA 5,165,18

[230] WA 10,II,329,26

[231] Weimarer Ausgabe, Tischreden (=WATR) 4,222,11

[232] WATR 1,272,4 cf WATR 3,295,1 und WATR 5,154,6 und WA 15,755,27

[233] WA 58 I,222

[234] WATR 1,302,33ff

[235] WA 39 I,390,3 (1537)

[236] WA 56,229,27ff (1515f)

[237] Erik Homburger Erikson, Der junge Mann Luther, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1975,140

[238] Otto Scheel (Hg), Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften 2,9, Tübingen (Mohr) 1911 [19292]

[239] Erikson aaO 180

[240] Ebeling aaO 25; cf aaO 50: Grobianismus

[241] WATR 3,415-417 cf oben Anm. 5

[242] WA 9,98,20-22

[243] WATR 1,16,13 Nr. 46 (1531)

[244] Ebeling aaO 24

[245] ebd 44

[246] WA 9,98,6-9

[247] WA 9,98,17f

[248] WA 9,98,17f

[249] Ebeling aaO 38

[250] WA 9,98,14-17

[251] WA 9,98,22-25

[252] WA 27,126,17f „Olim docebant Christi meditari passionem, sed est, zu roh obenhin, oportet es sich ein sencke in das fleisch. Ut deus quando volnit ad nos venire, non mansit in divinitate, sed senckt sich ins fleisch, ut omnia quae facerent in humanitate, propter nos facere.“ Erikson aaO 180 zitiert diese Stelle, sich die Fleischsenke jedoch nicht als christologische Menschwerdung, sondern als mystischen Empfang der Göttlichkeit.

[253] WA 9,98,30-33

[254] Gregory Bateson, Don D. Jackson, Jay Haley, Donald Weakland, Auf dem Weg zu einer Schizophrenie-Theorie, in: Gregory Bateson, Don D. Jackson, Jay Haley, & andere, Schizophrenie und Familie, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1969,16

[255] Ebeling aaO 265

[256] ebd 77

[257] WA 10,I,100,13-16 (Kirchenpostille 1522)

[258] WA 10,I,100,11

[259] Ebeling aaO 183f

[260] WA 39,I,521,5-9: “Homo credens in Christum est reputatione divina iustus et sanctus, versatur estque iam in coelo, circumdatus coelo misericordiae. Sed dum hic ferimur in sinu patris vestiti veste optima, pedes nostri mihi extra pallium descendunt, quos quantum potest mordet sathan, dar zappelt das Kindelein et clamat et sentit”.

[261] WA 40,I,182,4f (Großer Galaterkommentar von 1531)

[262] WA 40,I,182,1ff: In charitate cedendum quae omnia tolerat, in fide nihil. Non patitur ludum fama, fides, oculus. Nihil debet pati, cedere; superbissima, pertinacissima debet esse; sed cum ventum ad charitatem, res alia cum homine; fide est homo deus qui nou debet pati; deus est immutabilis, ergo etiam fides.

[263] WADB 7,6f

[264] WA 40,I,285,5 (Großer Galaterkommentar von 1531)

[265] WA 40,I,282,4 (Großer Galaterkommentar von 1531)

[266] Ebeling aaO 175f

[267] Ebeling aaO 16

[268] Ebeling aaO 160

[269] Ebeling aaO 160

[270] Ebeling aaO 184

[271] Ebeling aaO 165

[272] Ebeling aaO 164

[273] WA 4,342,12f (Psalmenvorlesung von 1513/1515)

[274] WA 17,II,97,10f (Feldpostille 1525)

[275] Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung, in: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hrg. und übers. v. Joseph Quint, München3 (Hanser) 1969,102

[276] Ebeling aaO 195f

[277] Ebeling aaO 272ff, besonders 277

[278] WA 40,II,330,1f (Enarratio Psalmi LI. 1532 [1538]). Cf aaO 329,30f: “Hunc Deum non nudum, sed vestitum et revelatum verbo suo necesse est nos apprehendere, alioqui certa desperatio nos opprimet.”

[279] WA 1,558,5 (Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute 1518)

[280] WA 40,III,337,11

[281] WA 6,204,25-32 (Sermon von den guten Werken 1520)

[282] WA 7,25,26 - 26,15

[283] WA 7,54,21 – 55,36

[284] WA 7,54,31f

[285] WA 7,54,33

[286] WATR 6,247,24 „Die Woche zwier, der Weiber Gebühr, schadet weder mir noch dir, macht's Jahr einhundert- und vier.“

[287] WA 7,54,32

[288] WA 7,54,34

[289] WA 7,25,26f

[290] WA 7,54,35ff; 7,25,30f;

[291] WA 7,54,39; 7,25,32

[292] WA 7,55,1; 7,25,33

[293] WA 7,55,4

[294] WA 7,55,4ff

[295] WA 7,55,7

[296] WA 7,25,34

[297] WA 7,55,10

[298] WA 7,55,10

[299] WA 7,55,13f

[300] WA 7,25,38f

[301] WA 7,55,13f

[302] WA 7,55,14

[303] WA 7,55,18f

[304] Rm 5,6f

[305] WA 7,26,5

[306] WA 7,54,32

[307] Friedrich Theophil Ruhland, Luther und die Brautmystik. Nach Luthers Schrifttum bis 1521, Giessen, Univ., Diss. phil., (Kindt) 1938

[308] Ruhland aaO 139

[309] Ruhland aaO 142

[310] Ruhland aaO 142

[311] WA 3,593,28-31

[312] Erikson aaO 215

[313] Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln2 (Pahl-Rugenstein) 1977,210-26, 307-18, bes. Nr. 119 S.222, die Predigt von Otto Dibelius bei der Reichstagseröffnung am 21.3.1933 in der Garnisionskirche Potsdam: „Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, daß die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet. Wir kennen die furchtbaren Worte, mit denen Luther im Bauernkrieg die Obrigkeit aufgerufen hat, schonungslos vorzugehen, damit wieder Ordnung in Deutschland werde... Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen die, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, gegen die vor allem, die mit ätzendem und gemeinem Wort die Ehe zerstören, den Glauben verächtlich machen, den Tod für das Vaterland begeifern – dann walte er seines Amtes in Gottes Namen!“ Der Jubel über Hitlers Machtergreifung auf katholischer Seite ist flächendeckend, aaO 213f: „Gerade in unserer heiligen, katholischen Kirche kommen Wert und Sinn der Autorität ganz besonders zur Geltung und haben zu jener lückenlosen Geschlossenheit und sieghaften Widerstandskraft geführt, die selbst unsere Gegner bewundern. Es fällt deswegen uns Katholiken auch keineswegs schwer, die neue, starke Betonung der Autorität im deutschen Staatswesen zu würdigen und uns mit jener Bereitschaft ihr zu unterwerfen, die sich nicht nur als eine natürliche Tugend, sondern wiederum als eine übernatürliche kennzeichnet, weil wir in jeder menschlichen Obrigkeit einen Abglanz der göttlichen Herrschaft und eine Teilnahme an der ewigen Autorität Gottes erblicken (Röm. 13, 1 ff.).“ Hirtenbrief vom 8.6.1933