Predigt zu Lk 17,11-19

gehalten am16.09.1979 in Bielefeld Bodelschwingh

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Erste Kurzfassung (endgültige folgt unten)
Liebe Gemeinde!
„Stehe auf und gehe hin! Dein Glaube hat dich gerettet.“ Sind nicht auch die anderen gerettet? Gerade der freche Samariter ist dankbar, trägt seine Freude zurück zu Gott, indem er zu Jesus geht. Ist Jesus identisch mit Gott? Die Heilung wird mehr vorausgesetzt als beschrieben, steht nicht im Zentrum. Die Tendenz ist eher, Glauben bei denen zu zeigen, die im Judentum für Ungläubige gehalten werden. Der Glaube der Heiden ist für die Christen beschämend. Glaube rettet. Von Aussatz. Beziehungshaftigkeit des Glaubens: Der Samariter kehrt zurück zu Jesus. Beziehungslosigkeit des Aussatzes: soziale Isolation. In dem der Samariter Gott dankt, stellt er die Beziehung her, die seine soziale Isolation überwindet. Das ist das Rettende, welches aus der Angst seiner Not, eben dieser Krankheit, geboren wurde.
Aktualisierung: Aussatz ist die erste Krankheit, zweitens die Folge, daß Aussetzen aus der Gesellschaft. Unsere Aussätzigen leben mitten unter uns. Türkenviertel, Studentenviertel, Behindertenheime. Unsere ganze Gesellschaft zersplittert sich immer mehr in Aussätzige aller Art. Die Isolation schreitet fort. Die Krankheit ist unmittelbar das, was damals die Folge der Krankheit war. Die Wunderheilung hier bestand in der Ermutigung, ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, ins Zentrum der Öffentlichkeit zu gehen. Raus aus der Bergeinsamkeit auf den Tempelplatz. Das wirkte heilsam. Die heutigen einsamen Herzen brauchen heilsame Öffentlichkeit, und das Rettende ist, sich den Mut des Vertrauens, des Glaubens, machen zu lassen, sich die Ermutigung gefallen zu lassen. Wir sind der Tempel, im Zentrum der Öffentlichkeit Kirche. Gerade die Fremden, Ausländer, Außerkirchlichen können wunderbares Ziel der Beziehungsfülle Gottes sein.

Predigt über Lukas 17,11-19 (Heilung 10 Aussätziger)
gehalten am 16. Sept. 79 in Bielefeld Bodelschwingh
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserm Vater, und dem
Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Geschwister!
Ich will einsetzen beim Sitzen. Weil es naheliegt. Denn bis auf mich hier vorn sitzen wir alle, und ich hoffe, recht bequem. Sitzen sagt man auch bei Strafgefangenen. Sie sitzen. Sie sitzen ein. Wir sitzen auch, aber wir sitzen nicht ein. Sie sitzen ein, weil wir an ihnen etwas auszusetzen haben, nämlich falsches Verhalten. Sie haben geklaut, geprügelt, gemordet oder mit Rauschgift gedealt. Wir haben etwas auszusetzen an solchen Leuten. Und wir haben sie ausgesetzt. Sie sind draußen, draußen aus dem normalen Leben, draußen aus den normalen Beziehungen, die sie hatten. Denn sie sind drin im Gefängnis. Unsere Ausgesetzten sitzen ein. In Gefängnissen, Irrenhäusern, Waisenhäusern, Schwererziehbarenanstalten, in Bethel, im Krankenhaus.
Ja, und zur Zeit Jesu gab es keine Krankenhäuser, kein Bethel, kein Erziehungsheim. Darum saßen die Kranken damals nicht drinnen im Heim, sondern draußen, vor dem Dorf, vor der Stadt. Ich zitiere jetzt eine uralte Verordnung über ansteckende Krankheiten, herausgegeben von den ersten Ärzteverbänden in Israel. Das waren Priester, die sich spezialisiert hatten auf Diagnose von Krankheiten. Sie befehlen: „Es soll aber der Aussätzige (d.h. jemand mit ansteckender Hautkrankheit), zerrissene Kleider tragen, die Haare frei flattern lassen und den Bart verhüllen, und er soll rufen: Unrein, unrein! Solange er die Krankheit an sich hat, bleibt er unrein. Er ist unrein, abgesondert soll er wohnen, seine Wohnstätte soll er außerhalb des Lagers (d.h. des Dorfes) haben.“ - So im 3. Mose 13,45.
Man muß sich vorstellen, die hatten ja nicht solche medizinischen Kenntnisse wie wir, sondern die wußten gerade eben zu unterscheiden, welche Krankheitszeichen auf ansteckende Krankheiten hinwiesen, die die Gefahr einer Seuche heraufbeschwor, und welche Ausschlagsmale ungefährlich für die anderen waren. Und die Kranken mit Seuchengefahr galten verständlicherweise als unrein. Unrein heißt da nicht, dreckig, ungewaschen, sondern ansteckend, allgemeingefährlich. Die Unreinen waren allgemeingefährlich. Darum mußten sie für alle deutlich erkennbar in zerrissenen Kleidern, wie Struwelpeter ungekämmt und mit Bartbinde herumlaufen und von weitem schon anderen zurufen: „Ich bin unrein, ich habe eine ansteckende Krankheit, komm mir nicht zu nahe, sonst kriegst du sie auch noch.“ Und die lebten nicht auf einer Isolierstation im Krankenhaus, sondern in Hütten auf den Bergen
vor der Ortschaft. In diesem Fall vor einem Dorf zwischen Samaria und Galiläa. Die Juden hatten einen ausgeprägten Nationalismus. Nur wer beschnitten war und nach dem Gesetz der Mosebücher lebte, galt als reiner Jude. Die Samariter waren eine Mischung aus Juden und Babyloniern, die vor langer Zeit dort nach der Eroberung Israels angesiedelt waren. Die Samariter waren keine rassereinen Juden. Darum verachtete man sie und setzte sich ab von ihnen. Mir fällt dazu ein, wie wir Deutschen vor vierzig Jahren die Synagogen und Geschäfte der Juden demoliert und geplündert haben, weil sie nicht arische rassereine Volksgenossen waren. Diese Mentalität ist die von Hundebesitzern, die Rassenreinheit lieben und wie Pudelzucht auch am liebsten Menschen gezüchtet und gezüchtigt sehen würden.
Der hautkranke Samariter in der Heilungserzählung von Lukas ist also doppelt unrein. Verseucht und Ausländer. Oder, im kirchlichen Wortschatz: Sünder und Heide. Er hat Aussatz und ist ausgesetzt worden vor das Dorf. Da kommt er nun mit neun jüdischen, rassereinen Leidensgenossen zu Jesus, der auf der Grenze zwischen Samaria und Galiläa, zwischen Unreinheit und Reinheit, gerade ein Dorf betreten will.
Und die zehn schreien von weitem, weil sie nicht nahe herandürfen: „Jesus, Meister, erbarme dich unser.“ Setz dich ein für unseren Aussatz. Setz dich nicht von uns ab, wie die anderen, die uns meiden, die unser geschwürübersätes Aussehen nicht ansehen mögen, die wegsehen. Hab doch Einsicht, daß unsere Aussicht auf ein glückliches Leben kaputt ist. Jesus sieht sie sich an. Er sieht ihre ekelerregende Ansicht und ihre vertrauensvolle, hoffnungsvolle Absicht, von ihm Hilfe zu erbitten und zu empfangen. Jesus löscht ihren Aussatz mit einem Satz aus: „Geht und zeigt euch den Priestern!“ Das war der Ritus, den geheilte Aussätzige machen mußten. Sie ließen sich von den Priestern nachuntersuchen und ihre Gesundung bescheinigen und dann wurden zwei Vögel geopfert, die stellvertretend die Krankheit vom Aussätzigen wegtrugen. Wenn Jesus sagt: „Geht und zeigt euch den Priestern“, so heißt das: Tut so, als ob ihr gesund geworden seid, als ob ihr rein seid. Jesus setzt an mit einem Wort. Mit diesem Wort setzt er eine ganz neue Wirklichkeit in Kraft. Er setzt die Aussätzigen wieder in die Gemeinschaft der reinen, frommen, braven, bürgerlichen Juden ein. Er setzt die strenge Unterscheidung von rein und unrein außer Kraft. Und das hilft den Unreinen, den Ausgestoßenen. Während sie ins Zentrum der Öffentlichkeit, in den Tempel, gehen, werden sie gesund.
Einer kehrt zurück zu Jesus und dankt ihm mit fröhlichen Liedern, er jodelt seine Freude und sein Glück begeistert heraus; es ist gerade der, von dem man es am wenigsten gedacht hätte. Der Ausländer, der Heide, der Kirchenfremde, der Samariter.
Schade, sagt Jesus ein bißchen traurig und resigniert, die anderen neun sind nicht mitgekommen, um Gott ihre Freude mitzuteilen und mit Gott ihre Freude zu teilen. Die waren wohl noch im Tempel dabei, die vorgeschriebenen zwei Vöglein zu opfern, wie es sich gehörte. Hat Jesus kein Verständnis dafür, daß die anderen die vorschriftsmäßigen Formalitäten erledigen mußten? Daß sie die üblichen Gänge zu den Behörden abwickelten? Müßte man nicht umgekehrt sagen: der Samariter ist eine Schlampe, ist außerhalb der religiösen Verfassungsnorm, weil er die Gesetze zur Entsühnung und Wiedereingliederung in die Gemeinde mißachtet? Gesetze, die ja doch auch den Gotteswillen ausdrücken sollten, genau wie die 10 Gebote.
Ich habe das Verhalten des Samariters jetzt aus jüdischer Sicht, und das heißt, auf heute übertragen, aus kirchlicher Sicht, beurteilt. Das Gotteslob des geheilten Mischlings setzt sich in Konflikt zur religiösen Institution. Darin schwingt eine Mißachtung lange gewachsenen Liturgietraditionen mit, die religionspsychologisch betrachtet sicher ein tiefes Recht haben, ähnlich wie unsere Liturgie ihr gutes und tiefes Recht hat, ähnlich wie unser bürgerliches Gesetzbuch sein Recht eher schlecht als recht hat.
Die neun Aussätzigen, die nicht zu Jesus zurückkehrten, feierten den traditionellen Genesungsgottesdienst im Tempel und Lukas läßt offen, daß auch sie gerettet, daß auch sie im Genuß der Güte Gottes Aussicht auf eine freundliche, gesunde Zukunft haben. Dem unkirchlichen Heiden, der unbürokratischen Schlamperei des Samariters aber spricht Jesus das Heil ausdrücklich zu: „Steh auf und geh hin; dein Glaube hat dich gerettet.“ Das Heil, welsches Jesus den Aussätzigen zugesetzt hat, ist nicht nur das Heil eines kräftigen Glaubens. Es ist materiell, so sehr unser Körper etwas mit Materie zu tun hat. Jesus ist materialistisch in der Lukasgeschichte, anders als unser Wohlstandsmaterialismus allerdings schon und erst recht anders als der bei uns fest zu eben diesem Materialismus gehörige Spiritualismus, das fromme Gefühl des rechten Glaubens gewisser Mercedes-Benz-Christen. Das Heil Jesu ist materiell und spirituell zugleich, geistlich und fleischlich gleichermaßen. Gesundes Fleisch und Freude am Leben, wie sie der geheilte Samariter mit Gott teilt, mit Jesus teilt, dem das auch ganz gut getan hat, wenn er mal ein Dankeschön für seinen Einsatz für Ausgesetzte kriegt. Überdies aber ist das Heil Jesu sozial: es versetzt die Aussätzigen, die Ausgesetzten zurück in die Gemeinschaft der Heiligen. Zur Gemeinschaft der Heiligen dürfen fortan alle die sich eingeladen wissen, die leiden unter sozialer Diskriminierung. Die fernab sitzen von der traditionellen Kultgemeinde, fern vom Tempel, fern vom Dom, fern von den kleinen Gottesdienstbaracken. Und auch die, die ferne sitzen von unseren neuen Tempeln, den Karstadt, Horten, Hertie-Tempeln mit dem Götzendienst der Einkaufslust, dem Shoppen. Diesen Fernen ist die Güte Gottes ausgesprochen habe. Ausgesprochen und zugesprochen nämlich von Jesus, für den es keine Trennwände mehr gibt zwischen Frommen und Heiden, Kranken und Gesunden, Christen und Nichtchristen, Drinnen und Draußen, Nahen und Fernen. Die einen sitzen ein, die anderen unter der Kanzel. Daran hat Jesus etwas auszusetzen, an diesen versteinerten Verhältnissen. Aus diesem Leben hinter verschlossenen Mauern, ist er mit einem Satz herausgesprungen: „Steh auf und geh hin!“ Die Zeit des guten und schlechten Sitzens ist am Zuendegehen: Unser alteingesessener Nationalismus, unser Rassismus, unsere Vorurteile gegen Penner und Pensionäre, Arbeitslose und Kriminelle, Säufer und Fixer, Schwule und Kommunisten, Juden und Türken, Neger und Spießbürger, alle diese festsitzenden Klischees - auch ich habe viele - die werden aufstehen und hingehen, sollen in Bewegung kommen, in Fluß, wandeln wie Jesus zwischen Galiläa und Samaria, werden     sich wandeln und andere mit verwandeln, so wie Jesus die Ausgesetzen und andere verwandelt und in geist-fleischliches Heil hineinversetzt hat. Auf dem Weg dahin befinden wir uns, die wir hier sitzen, und dieser Weg verläuft in der Nachfolge Jesu: „Steh auf und geh hin; dein Glaube hat dich gerettet!“ Ich wünsche uns einen guten Marsch! Amen.