Erste Kurzfassung (endgültige
folgt unten)
Liebe Gemeinde!
„Stehe auf und gehe hin! Dein Glaube hat dich
gerettet.“ Sind nicht auch die anderen gerettet? Gerade der
freche Samariter ist dankbar, trägt seine Freude
zurück zu Gott, indem er zu Jesus geht. Ist Jesus identisch
mit Gott? Die Heilung wird mehr vorausgesetzt als beschrieben, steht
nicht im Zentrum. Die Tendenz ist eher, Glauben bei denen zu zeigen,
die im Judentum für Ungläubige gehalten werden. Der
Glaube der Heiden ist für die Christen beschämend.
Glaube rettet. Von Aussatz. Beziehungshaftigkeit des Glaubens: Der
Samariter kehrt zurück zu Jesus. Beziehungslosigkeit des
Aussatzes: soziale Isolation. In dem der Samariter Gott dankt, stellt
er die Beziehung her, die seine soziale Isolation überwindet.
Das ist das Rettende, welches aus der Angst seiner Not, eben dieser
Krankheit, geboren wurde.
Aktualisierung: Aussatz ist die erste Krankheit, zweitens die Folge,
daß Aussetzen aus der Gesellschaft. Unsere
Aussätzigen leben mitten unter uns. Türkenviertel,
Studentenviertel, Behindertenheime. Unsere ganze Gesellschaft
zersplittert sich immer mehr in Aussätzige aller Art. Die
Isolation schreitet fort. Die Krankheit ist unmittelbar das, was damals
die Folge der Krankheit war. Die Wunderheilung hier bestand in der
Ermutigung, ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, ins Zentrum der
Öffentlichkeit zu gehen. Raus aus der Bergeinsamkeit auf den
Tempelplatz. Das wirkte heilsam. Die heutigen einsamen Herzen brauchen
heilsame Öffentlichkeit, und das Rettende ist, sich den Mut
des Vertrauens, des Glaubens, machen zu lassen, sich die Ermutigung
gefallen zu lassen. Wir sind der Tempel, im Zentrum der
Öffentlichkeit Kirche. Gerade die Fremden, Ausländer,
Außerkirchlichen können wunderbares Ziel der
Beziehungsfülle Gottes sein.
Predigt über Lukas 17,11-19 (Heilung 10 Aussätziger)
gehalten am 16. Sept. 79 in Bielefeld Bodelschwingh
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserm Vater, und dem
Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Geschwister!
Ich will einsetzen beim Sitzen. Weil es naheliegt. Denn bis auf mich
hier vorn sitzen wir alle, und ich hoffe, recht bequem. Sitzen sagt man
auch bei Strafgefangenen. Sie sitzen. Sie sitzen ein. Wir sitzen auch,
aber wir sitzen nicht ein. Sie sitzen ein, weil wir an ihnen etwas
auszusetzen haben, nämlich falsches Verhalten. Sie haben
geklaut, geprügelt, gemordet oder mit Rauschgift gedealt. Wir
haben etwas auszusetzen an solchen Leuten. Und wir haben sie
ausgesetzt. Sie sind draußen, draußen aus dem
normalen Leben, draußen aus den normalen Beziehungen, die sie
hatten. Denn sie sind drin im Gefängnis. Unsere Ausgesetzten
sitzen ein. In Gefängnissen, Irrenhäusern,
Waisenhäusern, Schwererziehbarenanstalten, in Bethel, im
Krankenhaus.
Ja, und zur Zeit Jesu gab es keine Krankenhäuser, kein Bethel,
kein Erziehungsheim. Darum saßen die Kranken damals nicht
drinnen im Heim, sondern draußen, vor dem Dorf, vor der
Stadt. Ich zitiere jetzt eine uralte Verordnung über
ansteckende Krankheiten, herausgegeben von den ersten
Ärzteverbänden in Israel. Das waren Priester, die
sich spezialisiert hatten auf Diagnose von Krankheiten. Sie befehlen:
„Es soll aber der Aussätzige (d.h. jemand mit
ansteckender Hautkrankheit), zerrissene Kleider tragen, die Haare frei
flattern lassen und den Bart verhüllen, und er soll rufen:
Unrein, unrein! Solange er die Krankheit an sich hat, bleibt er unrein.
Er ist unrein, abgesondert soll er wohnen, seine Wohnstätte
soll er außerhalb des Lagers (d.h. des Dorfes)
haben.“ - So im 3. Mose 13,45.
Man muß sich vorstellen, die hatten ja nicht solche
medizinischen Kenntnisse wie wir, sondern die wußten gerade
eben zu unterscheiden, welche Krankheitszeichen auf ansteckende
Krankheiten hinwiesen, die die Gefahr einer Seuche heraufbeschwor, und
welche Ausschlagsmale ungefährlich für die anderen
waren. Und die Kranken mit Seuchengefahr galten
verständlicherweise als unrein. Unrein heißt da
nicht, dreckig, ungewaschen, sondern ansteckend,
allgemeingefährlich. Die Unreinen waren
allgemeingefährlich. Darum mußten sie für
alle deutlich erkennbar in zerrissenen Kleidern, wie Struwelpeter
ungekämmt und mit Bartbinde herumlaufen und von weitem schon
anderen zurufen: „Ich bin unrein, ich habe eine ansteckende
Krankheit, komm mir nicht zu nahe, sonst kriegst du sie auch
noch.“ Und die lebten nicht auf einer Isolierstation im
Krankenhaus, sondern in Hütten auf den Bergen
vor der Ortschaft. In diesem Fall vor einem Dorf zwischen Samaria und
Galiläa. Die Juden hatten einen ausgeprägten
Nationalismus. Nur wer beschnitten war und nach dem Gesetz der
Mosebücher lebte, galt als reiner Jude. Die Samariter waren
eine Mischung aus Juden und Babyloniern, die vor langer Zeit dort nach
der Eroberung Israels angesiedelt waren. Die Samariter waren keine
rassereinen Juden. Darum verachtete man sie und setzte sich ab von
ihnen. Mir fällt dazu ein, wie wir Deutschen vor vierzig
Jahren die Synagogen und Geschäfte der Juden demoliert und
geplündert haben, weil sie nicht arische rassereine
Volksgenossen waren. Diese Mentalität ist die von
Hundebesitzern, die Rassenreinheit lieben und wie Pudelzucht auch am
liebsten Menschen gezüchtet und gezüchtigt sehen
würden.
Der hautkranke Samariter in der Heilungserzählung von Lukas
ist also doppelt unrein. Verseucht und Ausländer. Oder, im
kirchlichen Wortschatz: Sünder und Heide. Er hat Aussatz und
ist ausgesetzt worden vor das Dorf. Da kommt er nun mit neun
jüdischen, rassereinen Leidensgenossen zu Jesus, der auf der
Grenze zwischen Samaria und Galiläa, zwischen Unreinheit und
Reinheit, gerade ein Dorf betreten will.
Und die zehn schreien von weitem, weil sie nicht nahe
herandürfen: „Jesus, Meister, erbarme dich
unser.“ Setz dich ein für unseren Aussatz. Setz dich
nicht von uns ab, wie die anderen, die uns meiden, die unser
geschwürübersätes Aussehen nicht ansehen
mögen, die wegsehen. Hab doch Einsicht, daß unsere
Aussicht auf ein glückliches Leben kaputt ist. Jesus sieht sie
sich an. Er sieht ihre ekelerregende Ansicht und ihre vertrauensvolle,
hoffnungsvolle Absicht, von ihm Hilfe zu erbitten und zu empfangen.
Jesus löscht ihren Aussatz mit einem Satz aus: „Geht
und zeigt euch den Priestern!“ Das war der Ritus, den
geheilte Aussätzige machen mußten. Sie
ließen sich von den Priestern nachuntersuchen und ihre
Gesundung bescheinigen und dann wurden zwei Vögel geopfert,
die stellvertretend die Krankheit vom Aussätzigen wegtrugen.
Wenn Jesus sagt: „Geht und zeigt euch den
Priestern“, so heißt das: Tut so, als ob ihr gesund
geworden seid, als ob ihr rein seid. Jesus setzt an mit einem Wort. Mit
diesem Wort setzt er eine ganz neue Wirklichkeit in Kraft. Er setzt die
Aussätzigen wieder in die Gemeinschaft der reinen, frommen,
braven, bürgerlichen Juden ein. Er setzt die strenge
Unterscheidung von rein und unrein außer Kraft. Und das hilft
den Unreinen, den Ausgestoßenen. Während sie ins
Zentrum der Öffentlichkeit, in den Tempel, gehen, werden sie
gesund.
Einer kehrt zurück zu Jesus und dankt ihm mit
fröhlichen Liedern, er jodelt seine Freude und sein
Glück begeistert heraus; es ist gerade der, von dem man es am
wenigsten gedacht hätte. Der Ausländer, der Heide,
der Kirchenfremde, der Samariter.
Schade, sagt Jesus ein bißchen traurig und resigniert, die
anderen neun sind nicht mitgekommen, um Gott ihre Freude mitzuteilen
und mit Gott ihre Freude zu teilen. Die waren wohl noch im Tempel
dabei, die vorgeschriebenen zwei Vöglein zu opfern, wie es
sich gehörte. Hat Jesus kein Verständnis
dafür, daß die anderen die
vorschriftsmäßigen Formalitäten erledigen
mußten? Daß sie die üblichen
Gänge zu den Behörden abwickelten?
Müßte man nicht umgekehrt sagen: der Samariter ist
eine Schlampe, ist außerhalb der religiösen
Verfassungsnorm, weil er die Gesetze zur Entsühnung und
Wiedereingliederung in die Gemeinde mißachtet? Gesetze, die
ja doch auch den Gotteswillen ausdrücken sollten, genau wie
die 10 Gebote.
Ich habe das Verhalten des Samariters jetzt aus jüdischer
Sicht, und das heißt, auf heute übertragen, aus
kirchlicher Sicht, beurteilt. Das Gotteslob des geheilten Mischlings
setzt sich in Konflikt zur religiösen Institution. Darin
schwingt eine Mißachtung lange gewachsenen
Liturgietraditionen mit, die religionspsychologisch betrachtet sicher
ein tiefes Recht haben, ähnlich wie unsere Liturgie ihr gutes
und tiefes Recht hat, ähnlich wie unser bürgerliches
Gesetzbuch sein Recht eher schlecht als recht hat.
Die neun Aussätzigen, die nicht zu Jesus
zurückkehrten, feierten den traditionellen
Genesungsgottesdienst im Tempel und Lukas läßt
offen, daß auch sie gerettet, daß auch sie im
Genuß der Güte Gottes Aussicht auf eine freundliche,
gesunde Zukunft haben. Dem unkirchlichen Heiden, der
unbürokratischen Schlamperei des Samariters aber spricht Jesus
das Heil ausdrücklich zu: „Steh auf und geh hin;
dein Glaube hat dich gerettet.“ Das Heil, welsches Jesus den
Aussätzigen zugesetzt hat, ist nicht nur das Heil eines
kräftigen Glaubens. Es ist materiell, so sehr unser
Körper etwas mit Materie zu tun hat. Jesus ist materialistisch
in der Lukasgeschichte, anders als unser Wohlstandsmaterialismus
allerdings schon und erst recht anders als der bei uns fest zu eben
diesem Materialismus gehörige Spiritualismus, das fromme
Gefühl des rechten Glaubens gewisser Mercedes-Benz-Christen.
Das Heil Jesu ist materiell und spirituell zugleich, geistlich und
fleischlich gleichermaßen. Gesundes Fleisch und Freude am
Leben, wie sie der geheilte Samariter mit Gott teilt, mit Jesus teilt,
dem das auch ganz gut getan hat, wenn er mal ein Dankeschön
für seinen Einsatz für Ausgesetzte kriegt.
Überdies aber ist das Heil Jesu sozial: es versetzt die
Aussätzigen, die Ausgesetzten zurück in die
Gemeinschaft der Heiligen. Zur Gemeinschaft der Heiligen
dürfen fortan alle die sich eingeladen wissen, die leiden
unter sozialer Diskriminierung. Die fernab sitzen von der
traditionellen Kultgemeinde, fern vom Tempel, fern vom Dom, fern von
den kleinen Gottesdienstbaracken. Und auch die, die ferne sitzen von
unseren neuen Tempeln, den Karstadt, Horten, Hertie-Tempeln mit dem
Götzendienst der Einkaufslust, dem Shoppen. Diesen Fernen ist
die Güte Gottes ausgesprochen habe. Ausgesprochen und
zugesprochen nämlich von Jesus, für den es keine
Trennwände mehr gibt zwischen Frommen und Heiden, Kranken und
Gesunden, Christen und Nichtchristen, Drinnen und Draußen,
Nahen und Fernen. Die einen sitzen ein, die anderen unter der Kanzel.
Daran hat Jesus etwas auszusetzen, an diesen versteinerten
Verhältnissen. Aus diesem Leben hinter verschlossenen Mauern,
ist er mit einem Satz herausgesprungen: „Steh auf und geh
hin!“ Die Zeit des guten und schlechten Sitzens ist am
Zuendegehen: Unser alteingesessener Nationalismus, unser Rassismus,
unsere Vorurteile gegen Penner und Pensionäre, Arbeitslose und
Kriminelle, Säufer und Fixer, Schwule und Kommunisten, Juden
und Türken, Neger und Spießbürger, alle
diese festsitzenden Klischees - auch ich habe viele - die werden
aufstehen und hingehen, sollen in Bewegung kommen, in Fluß,
wandeln wie Jesus zwischen Galiläa und Samaria,
werden sich wandeln und andere mit
verwandeln, so wie Jesus die Ausgesetzen und andere verwandelt und in
geist-fleischliches Heil hineinversetzt hat. Auf dem Weg dahin befinden
wir uns, die wir hier sitzen, und dieser Weg verläuft in der
Nachfolge Jesu: „Steh auf und geh hin; dein Glaube hat dich
gerettet!“ Ich wünsche uns einen guten Marsch! Amen.