Ev.
Friedenskirchengemeinde in Bergkamen 4619 Bergkamen.den 1. Juni 84
Michael
Lütge, PfarrerPfalzstr.
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Thesen
zur Wehrpaßverbrennung
Die
Wehrpaßverbrennung ist Zeichen für die Ablehnung der
Bundeswehr als glaubhafter Verteidigungsarmee. Seit Einführung
der Mittelstreckenraketen in Europa ist die Bundeswehr eingebunden in
eine neue Strategie, die als amerikanische Heeresdoktrin für
Europa entwickelt und von Heeresinspekteur Meinhold Glanz
mitunterzeichnet unter dem Namen "Air-Land-Battle 2000" bekannt wurde.
Danach wird die alte Strategie der "flexible response"
abgelöst durch die Drohung, denkbare gegnerische Angriffe
durch atomare Erstschläge tief im Innern des Gegnerlandes zu
beantworten. Konventionelle Waffen sollen Hand in Hand arbeiten mit
Atomwaffen großer Zielgenauigkeit (Pershing II). So wird die
Möglichkeit eines konventionellen Konflikts zum Beginn eines
Atomkrieges. Die Hemmschwelle, die früher bestand, Atomwaffen
einzusetzen, wird nivelliert. Nach "Air-Land-Battle 2000" besteht der
Zweck militärischer Operationen nicht mehr darin, eine
Niederlage abzuwenden, sondern der vollständigen Vernichtung
der gegnerischen Armee, zu der jede Waffe benutzbar ist. Sofort nach
Beginn der ersten Kampfhandlung des Gegners seien z.B. alle
militärischen Basen des Gegners sofort zu zerstören,
um die Möglichkeit einer Ausweitung der Angriffe durch andere
Kampfverbände zu zerstören. – Diese
für die in der BRD stationierten US-Armee-Bestände
verbindliche Doktrin verfährt nach dem Grundsatz: Für
ein Auge der sofortige Tod, statt dem bisherigen Modell: Auge um Auge.
In diesem Konzept wird die Bundeswehr integriert in einen Plan, der
nicht mehr nur Schutz unseres Territoriums ist, sondern im Krisenfall
Auslöser eines Angriffskrieges mit verheerenden
Ausmaßen. Damit ist die Aufgabe der Bundeswehr als
ausschließlicher Verteidigungsarmee nicht mehr
gewährleistet. Unter diesen Umständen
läßt sich ein Ja zur Bundeswehr als einem
Friedensdienst mit Waffen nicht mehr aufrechterhalten.
Die
Wehrpaßverbrennung war legal: Ich unterstehe nicht der
Wehrerfassung. Sie enthielt keine Aufforderung, dasselbe zu tun. Sie
ist kein Angriff gegen unseren Staat, insbesondere nicht seine
demokratischen Errungenschaften, die allerdings so zu fördern
sind, daß zukünftig keine Regierung gegen die
Mehrheit der Bevölkerung regieren kann.
Zu
den demokratischen Freiheitsrechten unserer verteidigenswerten
Verfassung gehört auch das auf freie
Meinungsäußerung. Das Verteidigenswerte an diesem
Staat ist u.a. die Tatsache, daß Bürger ungehindert
die Meinung vertreten dürfen, daß die Bundeswehr
für sie persönlich nicht mehr als Verteidigung
akzeptabel ist. Auch ein Pfarrer ist Bürger dieses Staates.
Solange er nicht qua Amt im Verkündigungsdienst des Wortes
Gottes handelt, hat auch er das Recht der freien
Meinungsäußerung. Wenn er seinen Wehrpaß
verbrennen läßt, so ist dies die Probe auf unsere
Meinungsfreiheit. Auch wenn in der Öffentlichkeit Amt und
Person nicht immer unterschieden werden, ist die persönliche
Meinung und Meinungsbekundung außerhalb des Dienstes im Amt
unter dem Schutz der Verfassung, zu der ich stehe.
Wenn
mir vom Presbyterium mein Handeln als Staatsbürger zensiert
wird, so findet, anders als in Predigtkritik oder Gottesdienstkritik,
hier ein Eingriff in die bürgerliche Freizügigkeit
statt.
Wer
die Wehrpaßverbrennung als politisch einseitiges Handeln
mißbilligt, vergißt, daß wir in einer
pluralistischen Gesellschaft alle Meinungen zulassen, auch die der
Rüstungsbefürworter, die ja genauso einseitig
argumentieren. Probe auf die Ernsthaftigkeit des Willens zur
pluralistischen Toleranz wäre, wenn auch die Bürger,
die meine Meinung zur Bundeswehr nicht teilen, meine Position als eine
mögliche unter anderen gelten lassen, gerade auch, wenn es
eine Minderheitsmeinung ist. Der Vorwurf der Einseitigkeit ist selbst
oft einseitig, aber von der Gegenseite erhoben. Der Vorwurf der
Intoleranz ist selbst auch intolerant. In diesem Falle duldet er nicht,
daß ich eine Bundeswehr unter atomarer Strategie nicht dulden
will.
In
Zeitungen wurde berichtet, ich hätte das "faule Volk
kritisiert", Wörtlich habe ich von einer gewissen
Trägheit in der Friedensfrage gesprochen, die darin zum
Ausdruck kommt, daß über 70 % der
Bevölkerung gegen die Stationierung sind, aber nur ca. 2 %
durch Demonstration diese Meinung bekunden. Superintendent Meier ist
nicht der einzige, der die Wichtigkeit des Demonstrierens für
den Frieden betont. Das eklatante Mißverhältnis
zwischen verbal erklärter Rüstungsgegnerschaft und
durch die Mühe der Beteiligung an Demonstrationen ernsthaft
bekundeten Interesse der Durchsetzung dieser Option mit
rechtsstaatlichen Mitteln in dieser für unser nationales
Überleben so wichtigen Frage offenbart entweder ein
abgrundtiefes Mißtrauen unserer Bürger gegen die
Regierung, daß sie die Meinung der Bevölkerung doch
nicht beachtet, oder in der Tat eine gewisse Trägheit im
Engagement für den Frieden. Bei Sportveranstaltungen etwa ist
von solcher Trägheit im Besuch von Veranstaltungen kaum etwas
zu spüren. Zu solcher Trägheit gehört auch,
daß keiner, der die Wehrpaßverbrennung kritisiert
hat, ihr beiwohnte.