Liebe Gemeinde!
Es soll ordentlich, friedlich, geduldig zu gehen in der christlichen
Gemeinde, fröhlich, dankbar, begeistert, tolerant, aber auch
kritisch, fordert der Apostel Paulus von den Glaubensgenossen in
Thessaloniki, nur so könne ein jeder am Tage des Weltgerichts
bestehen. Das ist möglich sei so zu leben, wie eben gesagt und
wie es Gottes Wille ist, sei durch das Leben Christi demonstriert und
garantiert. Gott, der Gott des Friedens, will, daß seine
Kirche in Frieden untereinander lebt.
Liebe Gemeinde, alleine die Tatsache, daß Paulus dies alles,
was doch eigentlich selbstverständlich wäre, so
eindringlich am Ende seines Briefes betont, das zeigt doch,
daß alle diese Forderungen keineswegs so
selbstverständliche Realität des damaligen
Gemeindelebens gewesen sein können: denn wer wäre so
dumm, einem Fußgänger das Fußgehen ans
Herz zu legen oder einem Beter das Beten! Wenn Paulus von den Christen
in Thessaloniki Ordnung, Frieden, Geduld, Fröhlichkeit,
Dankbarkeit, Toleranz und Kritik fordert, dann doch, weil all diese
menschlichen Züge dort unterentwickelt waren.
Ein schwacher Trost für uns: an Gehässigkeit hat es
also auch damals unter Christen nicht gefehlt. Unter Christen sein war
schon immer wie - um mit Karl May zu sprechen - unter Geiern zu leben.
Ich vermute, daß die eindringlichen Ermahnungen des Paulus
nur wenig geändert haben an diesen christlichen Untugenden.
Warum nur hat es, seitdem die Botschaft von einem Gott, der Liebe ist
und will, so wenig Liebe in der Gemeinschaft, die sich auf diesen Gott
beruft und von ihm berufen fühlt, gegeben? Warum ist die Macht
des Teufels so stark unter Christen? Warum ist die Kirche für
viele immer noch der beste Beweis gegen die Existenz Gottes? Warum geht
es in der Gemeinde so intrigant und gehässig zu?
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat in seinen massenpsychologische
Überlegungen Grundlagen zu einer Antwort auf die Frage nach
der Bosheit der Heiligen entwickelt, die unser protestantischer
Gewährsmann Martin Luther nur dogmatisch konstatieren konnte
mit dem Satz: simul justus et peccator. Der Christ sei eben zugleich
Sünder und Gerechter, oder mit der Confessio Augustana Artikel
7: Congregatio sanctorum: die Gemeinschaft der Heiligen, ist eben auch
Gemeinschaft der Sünder.
Zur Sache: des Übels Wurzel liegt schon in seiner Benennung:
so wie Paulus die Thessaloniki zur Liebe auffordert, legt er schon die
Grundlage der typischen christlichen Lieblosigkeiten. Er predigt ihnen
etwas an, was sie so, wie es gefordert wird, gar nicht realisieren
können. Vielleicht ist dies das Grundproblem aller
Ermahnungen: die nur gepredigte oder herbeigeredet Liebe ist Schall und
Rauch.
Seid allezeit fröhlich. Diese Aufforderung ist schlimm! Nicht
nur, daß die Super-Colgate-keep-smiling-Reklame uns
Stereotypen vorgaukeln will, schön leben heiße Hepp
und Pepp. Nein, es gibt so viel, wo gelebt wird, was mich traurig macht
und verletzt, was mich eher zum Heulen und zum Schreien treibt, aber
nicht zu Fröhlichkeit und Lobgesängen. Jesus hat nie
verlangt, lieber Christ, bitte jetzt ein seliges Lächeln
aufsetzen, betont freundlich wirken, so und jetzt noch ein nettes
Küsschen wie die Politiker es vor den Kameras auf den
Flughäfen und die Prinzessinnen beim Gala-Abend für
den Frau-im-Spiegel-Reporter aufsetzen. Jesus hat bitterlich geweint
über Jerusalem, hat in dieser Stadt durchaus ungeduldig im
Tempel die Peitsche geschwungen und war auch sonst oft genug
wütend, genervt, traurig.
Seid allezeit fröhlich - das ist nur die halbe Wahrheit
über die Stimmung der Christen und damit schon die ganze
Unwahrheit. Was dabei herauskommt, sind jene verlogenen Zeitgenossen,
die immerzu ein reserviertes Lächeln, immer einen freundlich
klingendes Wort auf den Lippen haben, aber sobald der
Angelächelte weg ist, erstmal ihrem Ärger
über ihn Luft machen müssen. Die Masche der
christlich-aufgesetzten Fröhlichkeit im Umgang ist nur der
Auftakt der anschließenden üblen Nachrede: weil die
Konfliktpunkte im direkten Kontakt verschwiegen werden, nicht aus
Wohlwollen, sondern aus plötzlicher Feigheit vor vielleicht
nötigem Streit, kommen sie dann hinterfotzig als Klatsch
heraus.
Was ist schuld an der christlichen Verlogenheit? Zu glauben, die
Sünde sei schon damit tot, daß man so tut, als
gäbe es sie nicht. Man will gerne aus sich selbst einen
Heiligen machen: Man will gerne ein guter Mensch sein. Da passen dann
die kleinen Aggressionen und Ressentiments nicht hin, die man denen
gegenüber hegt, die man laut Befehl von oben ja lieben soll
und nichts als lieben. Weil es verboten ist, jemanden einfach nicht
leiden zu können, weil man es als Heiliger ja auch schaffen
soll, mit allen gut auszukommen, deshalb werden die unheiligen
Antipathien aus dem direkten Kontakt in den indirekten verlegt. Man
redet über einen, statt mit ihm.
Weil jeder ein Heiliger sein will, auf jeden Fall besser als der
andere, deshalb Lächeln alle um die Wette und pressen die
Judas Küsse unentwegt einander auf. Das nur
verdrängte Böse aber macht sich im
Unbewußten selbstständig und sucht sich seine Wege
der Gehässigkeiten durch alle Fassaden der Freundlichkeit
hindurch. Es liegt dann zwischen den Zeilen, statt in den Worten. Es
ist dann das schleichende Gift statt der drohenden Faust, es ist dann
die besonders raffinierte Art, einen mit Nettigkeiten kleinzukriegen.
Seid allezeit fröhlich - das könnte dann die Kunst
sein, einander zu zerfleischen mit der Mine des Heiligen.
Liebe Gemeinde, ich sehe nur einen Ausweg aus dieser unmenschlichen
Freundlichkeit: den falschen Heiligenschein fallen lassen: einander
eingestehen und zugestehen, daß man sich nicht lieben kann,
daß man miteinander nicht zurecht kommt. Das einen am anderen
Dinge stören, die man eben nicht so einfach schlucken kann.
Dem anderen sagen, daß er kein Heiliger ist, so wie wir ihn
vielleicht gerne oder wenigstens lieber hätten. Aber dann auch
aufhören, selbst ein Heiliger sein zu wollen, selbst die
überragenden moralischen Qualitäten demonstrieren zu
müssen. Nicht irgendwelche christlichen Tugenden sollten wir
demonstrieren, sondern einfach nur unser Herz, das in der Regel in all
seiner Sehnsucht nach Liebe eine lieblose Mördergrube ist.
Unter der anständigen Fassade unserer Christlichkeit sind wir
alle doch nicht besser als der andere: in unserem Herzen sieht es aus
wie bei Hempels unterm Sofa. Ein Glück für uns,
daß keiner reingucken kann. Ein Glück? Falsch! Kein
Glück, denn es macht unglücklich, wenn man nie sein
Herz öffnen kann mit all dem Verletzenden und
Unanständigen, was da drinne ist.
Es macht uns krank, wenn wir immer den Heiligen spielen sollen und nie
zeigen dürfen, daß wir in Wirklichkeit
Sünder sind.
Machen wir uns doch nichts vor. Tun wir doch nicht so als sei einer von
uns besser als der andere. Aber tun wir dann bitte auch nicht so, als
sei einer von uns schlechter als der andere. Machen wir also keinen
schlecht. Vielleicht werden wir dann besser, vielleicht jagen wir so
dem Guten nach: indem wir uns solidarisieren miteinander als Sauhaufen
Gottes, oder mit dem Barmer Bekenntnis gesagt: als Gemeinschaft der von
Gott begnadeten Sünder. Dann ist nicht mehr unsere
Güte wichtig, sondern die Güte Gottes, der uns mit
all unserer Unvollkommenheit vollkommen liebt. Amen.