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Predigt über Matthäus 23,7-30

Friedenskirche, Wichernhaus 30.12. 1984
Lieder: 40,1 - 5; 37,1 - 3; 37,4 + 6; 139; Lukas 2, 25 - 35 Lobgesang des Simeon

Jesus weint über Jerusalem

Liebe Gemeinde!
"Verwüstung abgewendet von diesem Ort und Land. Keine Verwüstung abgewendet von Äthiopien, von Bhopal, Nicaragua." Wir sind so einigermaßen über die Runden gekommen. Was alles dieses vergehende Jahr geschehen ist! Wir haben es schon fast vergessen. Es ist schon fast so, als ob es immer so gewesen ist. Unzählige Wohltaten haben wir uns zu Gemüte geführt. Denken wir daran, wie das so geht: Zuerst wollte man es kaum wahrhaben, wie führende Politiker von führenden Firmen Schmiergeld-Wohltaten in Millionenhöhe bekommen. Wie sie es ableugnen, uns allen Ernstes glauben machen, sie hätten nichts damit zu tun, wie es ihnen am nächsten Tag bewiesen wird, wie sie ihr Amt niederlegen. Anfangs waren wir noch alle empört. Anfangs sagten wir noch: das darf nicht sein! Aber haben wir uns nicht inzwischen daran gewöhnt? Will uns nicht die Presse langsam erzählen, sowas sei doch ganz normal, wenn so viele geschmiert werden, auch Journalisten, dann sei doch nichts dagegen einzuwenden? Anfangs waren wir entsetzt, als die Arbeitslosenzahl über die Millionengrenze stieg. Wir trauten der damaligen Regierung nicht zu, damit fertig zu werden. Die jetzige Regierung ist damit fertig geworden. Sie hat es geschafft, uns den Eindruck zu wecken, 2,3 Millionen Arbeitslose sei doch gar nicht so viel, wie man eigentlich erwartet hatte, eigentlich sowieso gar nicht so viel, ja was sind schon 2,3 Millionen, wo doch alle Zahlen rekordhaft anwachsen. Die Mietpreise, die Arbeitslöhne nicht ganz so schnell, die Ladenpreise. Mit anderen Worten: Der grauenvolle Tierversuch mit dem Gewohnheitstier Mensch hat zur Beruhigung aller Mächtigen in allen Ländern ergeben: Ergeben schlucken die Menschen alles, was ihnen als unabänderlich vorgesetzt wird: Peitsche und Zuckerbrot.
Vor einem Jahr noch sagten wir: Das darf nicht sein. Heute sagen wir: In Ängsten, aber wir leben. Mit Pershing 2, aber wir leben. Mit fast drei Millionen Arbeitslosen, aber wir leben. Mit Hunger in Äthiopien, aber wir leben. Und wir leben nicht schlecht. Mit sterbendem Wald. Wir leben nicht schlecht. Was stören uns die fehlenden Blätter an den Bäumen. Ist doch auch praktisch: man braucht im Herbst kaum mehr laubharken.
Was uns inzwischen alles normal vorkommt! Ich war früher eingefleischter Fahrradfahrer, fahre jetzt Auto mit größter Selbstverständlichkeit und verpeste die Umwelt. Wir sind Kompromisse eingegangen. Wir haben uns eben dran gewöhnt. Das Übel gehört jetzt mit zur Familie. Was soll man machen?
"Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten, du steinigst die Boten, die Gott zu dir schickt." So sagt das Kind, das, wie Simeon zu Maria sagt, "dazu bestimmt ist, viele in Israel zu Fall zu bringen und viele aufzurichten. Es wird ein Zeichen sein, gegen daß sich viele auflehnen, und so ihre innersten Gedanken verraten." Jesus weint über die Stadt mit ihrem Fortschritt, ihrer geschäftigen Betriebsamkeit, in der alles untergeht, was Gott an Einspruch gegen den Betrieb einlegt. Wir denken an die Geburt dieses Mannes zurück, der selbst von dem Betrieb Jerusalem getötet wurde. Einmal mehr schlägt der Lauf der Dinge einen Einspruch Gottes in dieser Welt nieder. Einmal mehr wird unliebsamer Protest ausgeschaltet. Man fand sich damit ab. Im nächsten Jahr schon war keiner mehr empört über den Staat, der Gottes Sohn kreuzigt. "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat." So beruhigt der Apostel Paulus und hat ganz vergessen, daß diese Obrigkeit Gottes Sohn gemordet hat. Mit der Zeit wächst Gras über die Sache. Man gewöhnt sich an alles. Die anfängliche Empörung ist einer beispielhaften Ruhe und Ordnung gewichen. Keiner leidet mehr darunter, daß Jesus hingerichtet ist. Es wird noch öfters erzählt. Aber es hatte ja auch sein Gutes: "für unsere Sünden", sagt Paulus. Damit wird der Skandal des ungerechten Mordes zur christlich beliebten und allseits erfreulichen Erlösungstat umgedeutet. Paulus weint nicht mehr über Jerusalem. Er schimpft nur noch auf Hurerei und Freßsucht. Und wenn er leidet, dann nur so allgemein, vom Schiffbruch bis zum Lachen der Leute über seine eigene Verkündigung. Er versucht, es leicht zunehmen. Er hat sich daran gewöhnt, das Leben ist manchmal hart, aber es läuft immer irgendwie weiter. Wohin es läuft?
Nicht alles als unabänderlich und ein für alle Male hinnehmen, das ist unbequem. Wer würde heute noch ernsthaft daran glauben, die Pershing II wird eines Tages wieder abmontiert? Haben wir das gewollt, einen weiteren Baustein, der inzwischen fast eingemauert ist, im Dom der Aufrüstung, zu setzen?
Jetzt redet er schon wieder über Krieg! So denken Sie, liebe Gemeinde. "Er wird ein Zeichen sein, gegen daß sich viele auflehnen." Jetzt klagt er schon wieder über Jerusalem und die Schriftgelehrten. Weg mit diesem Störenfried! An Jesus ist das unerbittliche Festhalten an der Güte Gottes gegen die Machenschaften der Mächtigen so empörend, daß man ihn tötet. Jesus will sich nicht gewöhnen an diese Tatsache, daß Jerusalem nun einmal Propheten tötet. Er kramt solche alten Vorkommnisse wieder aus dem Archiv der Geschichte. Er vergisst nicht die vergangenen Ungerechtigkeiten. Er findet sich nicht ab. Er leidet unter diesem Lauf der Zeit, Lauf der Mächtigen, die über Leichen gehen, Leichen in Bhopal, in Äthiopien, in El Salvador, in Afghanistan und Chile, Südafrika und den Philippinen.
In all der Heiterkeit des morgigen Silvesterfestes, laßt uns die Traurigkeit Jesu nicht vergessen, die nicht vergißt, über wieviel Unrecht der Lauf der Zeit so unbarmherzig hinweggeht. Lasst uns die Opfer nicht vergessen. Amen.