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Predigt über Lukas 10, 25 - 37

Friedenskirche 1. 9. 1985; Auferstehungskirche 15. 9. 1985

Lieder: 254, 1, 4, 6;     277, 1, 3, 5;     244, 1 + 3;       159, 1 - 3

Liebe als Kunst der Nähe

Ein Theologe fragt einen Laien (Jesus) nach dem ewigen Leben. Komischerweise nicht umgekehrt. Jesus, von einem reichen jungen Mann nach dem Weg zum ewigen Leben befragt, empfiehlt die Armut. Immer sieht es nach radikalen Lebensänderungen aus. Tut Busse! So ist der Tenor seiner Verkündigung. Ändert euch und euer Leben!

Es gibt ein Streitgespräch. Jesus soll blamiert werden, intellektuell geschlagen werden. Jesus verweigert sich oft haarspalterischen Diskussionen.

In diesem Fall weiß der Theologe genau, was er vorgeblich von Jesus wissen will. Darum fragt Jesus zurück: Was steht denn im Gesetz, also den Mose Büchern. Der Theologe bringt, dumm ist ja nicht, das ganze Gesetz der Juden, alle 623 Einzelvorschriften der fünf Bücher Mose, auf diesen einen Punkt: Gott über alles lieben und den Nächsten wie man sich selbst liebt. Er zitiert Deuteronomium 6,5, das berühmte jüdische Gebet Schema Israel. Markus bringt dieses Zitat ausführlicher. Zweites Zitat: Leviticus 19, 18. Es ist der Satz aus dem Heiligkeitsgesetz, in dem die Rache verboten wird und stattdessen Solidarität mit den Volksgenossen geboten ist. So wurde Nächstenliebe zu allererst verstanden. Gottesliebe und Nächstenliebe, das ist der Kern des Gesetzes der Juden. So versteht es der Theologe, und Jesus pflichtet ihm bei. Unnötig heute noch zu sagen, daß sich die Liebe zu Gott darin erweist, ob wir andere Menschen lieben. Gott lieben heißt Menschen lieben. Mit besonderer Vorliebe für Schwache.

Wer so lebt, Gott lieben, indem er Menschen liebt, der wird das ewige Leben haben. Darin sind beide einig. Was heißt ewiges Leben? Endlos, unsterblich Leben durch Nächstenliebe? Falsch. Ewig, Jesus, meint: Leben mit der Qualität der neuen Welt Gottes, die damals alle erhofften und erwarteten. Jesu Botschaft war: diese neue Welt Gottes steht direkt vor der Tür. Jeden Augenblick kann es donnern und krachen und dann wird sich die Welt ins Reich Gottes verwandeln, zu einer neuen, besseren Welt werden, ohne Haß, ohne Waffen, ohne Tränen. Und die Frage des Theologen an Jesus: wie wird in der neuen Welt Gottes gelebt? Gibt es Besonderes zu beachten? Neue Regeln? Revolution? Lehrt Jesus vielleicht Irrlehren, so daß man ihn anzeigen sollte? Und die Antwort, die Jesus gibt, heißt: nach dem Gesetz der Juden, nach den fünf Büchern Mose oder kurzgefaßt, nach den 10 Geboten leben. Jesus sagt damit nichts revolutionäres, nichts neues. Er ist konservativ. Er appelliert an die Tora. So wie viele heute ans Grundgesetz appellieren. Wer die 10 Gebote hält, die man alle auf den Begriff Gottesliebe durch Nächstenliebe bringen kann, der lebt so, wie man in Gottes Welt leben wird, der erfüllt Gottes Willen.

Jesus sagt: tue das, so wirst du leben! Nicht: so bekommst du ewiges Leben. Nein: so wirst du leben. Das bedeutet umgekehrt, wer nicht auf Nächstenliebe hin lebt, der lebt gar nicht. Den kann man zu den Toten zählen. Der zählt nichts für Jesus. Heute könnte man noch radikaler sagen: wenn wir in der Welt nicht mehr Liebe fertig bringen (zur Natur, zu Feinden, zu Volksgenossen und zu den Schwachen), dann werden wir die Erde zerstören und uns mit dazu.

Der Theologe ärgert sich, weil er den gesuchten Streit mit Jesus noch nicht gefunden hat. Noch sind beide sich einig. Noch hat der Theologe nichts Ärgerliches von Jesus gehört, und das ärgert ihn noch mehr! Darum fragt er weiter, möchte sich mit Jesus über die Definition von "Nächster" streiten. Wer ist alles Nächster im Sinne des Heiligkeitsgesetz ist und wer nicht? Wen muß man lieben, wen darf man hassen? Eine typische Juristenmentalität. Jesus ist kein Jurist. Jesus antwortet mit einem Gleichnis. Er erzählt eine Geschichte, die eben nicht definiert, wer alles nächster ist, sondern in-finiert, die Grenze zwischen Nächster und Nicht-Nächster aufhebt. Im Heiligkeitsgesetz war es nur der Volksgenosse. In der Geschichte Jesu aber wird zum Nächsten einer, der er ein Feind ist.

Juden und Samariter waren Feinde. Die Volksgenossen, die nächsten im Sinne des jüdischen Gesetzes, gehen am Opfer des Raubüberfalls vorbei, nicht gnadenlos, sondern weil sie ihn für tot halten und das Gesetz die Berührung und Nähe zu Toten verbietet. Die Volksgenossen bleiben fern, obwohl sie nächste sind laut Gesetz. Der Samariter, ein Kaufmann auf dem Wege ins Westjordanland, verarztet den Überfallenen und kümmert sich um seine Heilung. Er hat kein Gesetz, was ihm die Nähe zu bestimmten Leuten verbietet. Er kann sich näher leisten. So wird er zum Nächsten. Gibt es im jüdischen Gesetz die Grenze von Nächsten und Nicht-Nächsten, Volksgenossen und Ausländern, Freunden und Feinden, also starre eingefahrene Rollen; bei Jesus wird offensichtlich, wie lächerlich und unsinnig diese Unterscheidungsversuche sind. Die Unterscheidung einer Gruppe von Menschen, die man lieben soll und einer anderen Gruppe, die man nicht lieben braucht, ist absurd. Gottes Wille ist, das Liebe unteilbar allen Menschen gilt. Auch den Bösen! Und wer wirklich Gott liebt, dessen Freundlichkeit und Barmherzigkeit hört nicht vor denen auf, die er nicht leiden kann.

Die Liebe Gottes in den Herzen der Menschen überschreitet Grenzen wie Volk, Zuständigkeitsbereiche oder andere Gruppen Egoismen. Gottes Liebe ist internationalistisch, verbindet die Völker miteinander, die Rassen, die Interessengruppen. Die Liebe ist nicht eine Verbindung um der Verbindung willen, sondern um des Wohlergehens aller willen. Der Überfallene soll wieder gesund werden.

Es ist also nicht die Frage: wer ist mein Nächster? Um wen müssen wir uns als Christen demnach alles kümmern? Sondern: wem werde ich zum Nächsten? Auf wen will ich mich einlassen, wieviel Nähe lasse ich zu. Wieviel Nähe kann ich ertragen ohne Angst vor Vereinnahmung. Nur wer nicht Angst hat, er könnte freßbar sein, kann Nähe ertragen. Nur wer gewiß ist, sich nicht zu verlieren, kann seine Aufmerksamkeit und Tatkraft anderen schenken. Nur wer sich selbst nahe ist, braucht nicht zu fürchten um Selbstverlust, wenn er anderen nahekommt. Nur wer keine Angst hat, zurückgewiesen zu werden, kann anderen nahe kommen.

Die Kraft, Nächster zu werden, ist die Kehrseite der Kraft der eigenen Persönlichkeit. Es ist der Mut, sich hinzugeben mit der Hoffnung, sich in der Nähe zum anderen neu zu empfangen. Amen.