Predigt über Neue Armut    Bodelschwinghhaus 3.11.85

Liebe Gemeinde, liebe Sozialhilfeempfänger! Vorgestern haben sich die evangelischen Männerkreise aus Unna, Kamen, Hamm,  Ahlen und Bergkamen in der Stadthalle Ahlen getroffen, um über die Berechtigung und  die richtige Form von politischen Predigten zu sprechen. Ein Oberkirchenrat hielt ein  langes Referat, in dem er sagte, vom Evangelium her sei es oft eindeutig geboten,  politisch Partei zu ergreifen, auch wenn das manchem nicht recht gefällt. Unser neuer  Präses war auch da und sagte es konkret: heute könne und dürfe Kirche nicht mehr  schweigen zur Politik der Aufrüstung, Politik der Arbeitsplätze-Wegrationalisierung, zur  Politik des Sozialabbaus, zur Politik der Naturzerstörung, zur Apartheidspolitik  Sädafrikas. Überall wo Politik Menschen Unrecht antut, ist der Prediger gefordert,  Gottes Willen nach Gerechtigkeit und Liebe unter den Menschen zu sagen und zu  bestimmten Dingen in der Politik ein klares Nein zu sagen. Das haben im Alten  Testament die Propheten regelmäßig getan und fast immer auch für ihre Verkündigung  des Willens Gottes Prügel bezogen. Die Menschen wollen selbst nach den  Umfrageergebnissen nicht eine Kirche, die zu allem Unrecht der Welt Ja und AMen  sagt, die Leute wollen eine eindeutige klare Kirche, die Unrecht Unrecht nennt. Und  besonders Armut ist ein Thema, um das die Kirche sich kümmern soll. Ob die Kirche zu  jeder neugeplanten Ampelanlage ihren Senf dazugeben soll, also Tagespolitik oder  CDU- oder SPD- oder grüne Politik mitmachen soll, das ist eine ganz andere Sache. Da  haben die Leute sicherlich recht, die sagen: Ihr lieben Pastoren, überlaßt doch auch noch  ein ganz klein wenig Arbeit den Stadträten. Sonst werden die glatt arbeitslos. Mit andern  Worten: Parteipolitik gehört ins Rathaus, nicht auf die Kanzel. - So war auf dem Ahlener  Kreismännertag die einhellige Meinung aller Teilnehmer. Und auch das war allen klar:  es gibt keine unpolitischen Predigten. Besonders klar wurde das, als unser  Superintendent Meier feststellte, daß er seit 27 Jahren politisch predige. Damit hat er in  ganz vorbildlicher Weise allen den Wind aus den Segeln genommen, die über politische  Predigten schimpfen. Am Nachmittag in Ahlen arbeiteten wird dann in Arbeitsgruppen über einzelne  Themen, zu denen Kirche nicht schweigen darf. Ich durfte mit einer Gruppe über das  Problem wachsender Armut in unserem Land sprechen. Und ich habe allen zu Anfang  gesagt: Was ihr jetzt sagt zu diesem Thema, möchte ich am Sonntag den  Sozialhilfeempfängern im Bodelschwinghaus Bergkamen predigen. Ihr seid also der  eigentliche Prediger, nicht Michael Lütge mit seinen Ideen und Spinnereien. Und ihr  müßt auch einen Bibeltext aussuchen, über den die Predigt dann entwickeln soll, wie  Gott zur Armut steht. Ich hatte natürlich schon eine Vorauswahl von 4 Bibeltexten  zusammengestellt, denn wir konnten nicht die ganze Bibel durchforsten und über jede  Stelle abstimmen. Es gibt so viele Stellen in der Bibel zu  Arm und Reich, daß es weiß  Gott keine leichte Wahl ist: Wehe euch, ihr Reichen, sagen die Propheten Amos, Hosea,  Jesaja, Jeremia, sagt Jesus. Glücklich seid ihr Armen, denn Gott wird euch satt machen  in seinem Reich, so wie der arme Lazarus in Abrahams Schoß im Himmel ist, während  der Reiche in der Hölle schmort, nach dem Tod. Jesus hat dem reichen Jüngling Armut  gepredigt. Und so weiter, die Bibel fließt über von Parteinahme Gottes für die Armen.  Jesus ist der Heiland der Armen. Ja, also, unsere Männerarbeitsgruppe wählte das  Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg als Predigttext für heute aus. Ich möchte es  Ihnen jetzt einmal vorlesen: Mattaeus 20, 1- 15f Die Arbeiter, die ganz zuletzt angefangen haben zu arbeiten, die also am wenigsten  getan haben, bekommen den gleichen Lohn wie die früh angefangenen Arbeiter. Ist das  nicht fies? Ist das nicht ungerecht? Gleicher Lohn für gleiche Leistung, das ist doch eine  vernünftige Forderung! Für dieselbe Arbeit sollen Frauen genausoviel verdienen wie  Männer - so die selbstverständliche Forderung der Gewerkschaften gegen die  sogenannten Leichtlohngruppen bei Frauenarbeit. Oder Südafrika: Wer unter uns  würde es für gerecht halten, daß in Johannesburger Bergwerken ein Schwarzer  nur den  Sechsten Teil dessen verdient, was weiße als Arbeitslohn erhalten, für dieselbe Arbeit  wohlgemerkt! Und jetzt auch noch Gott, der Arbeiter dermaßen ungleich auszahlt? Ist  Gott einer von ddieser Sorte Unternehmern? Natürlich nicht.  Wir sollten wissen, daß damals, zu Jesu Zeit, auch viele arbeitslos  waren und als Tagelöhner herumzogen, immer in der Hoffnung, für ein paar Tage bei  irgendeinem Gutsherrn  Unterkunft und Brot für einen harten Feldtag zu bekommen.  Und in solch einer Situation  mögen den Gutsherrn  Mitleid bewegt haben, die  Tagelöhner, die erst gegen Abend bei ihm  eintrafen und vorsprachen, für den  zuendegehenden Tag eben noch ins Feld zu schicken, um wenigstens einen  Vorwand zu  haben, ihnen auch den Tageslohn auszuzahlen.  Für einen Tagelöhner damals war dieser  Lohn in der Tat das "tägliche Brot", um das Jesus jeden Tag aufs neue bat.  Und ein Tag  ohne Lohn damals war ein Tag ohne Brot. Darum bekommen die spät angefangenen  Arbeiter im Weinberg  den vollen Tageslohn: sie brauchen genau wie die anderen ihr  tägliches Brot.  Und das verspricht ihnen Gott in seinem Reich. Im Himmelreich soll  gelten: Jedem nach seinen Bedürfnissen!  Keiner soll hungern und frieren.  Und dieses  Himmelreich ist nicht nach dem Tod, sondern fängt hier mitten unter uns überall da an,  wo Menschen nach dem Willen Gottes leben. Wir können und sollen diese Erde zu  Gottes Reich umbauen.  Gott will, daß wir die Geschichten und Gleichnisse seiner  Herrschaft zum Vorbild unseres Handelns machen. Wir sollen dafür sorgen, daß unter  uns und überall auf der Welt jedes Kind, jede Frau und jeder Mann satt werden.  Soweit das  Gleichnis der Bibel. Nun zurück zum Kreismännertag. Wir hatten Streit  darüber, ob es bei uns überhaupt sowas  wie neue Armut gibt. Einige wortgewandte  Teilnehmer sagten, Neue Armut gibt es nicht, das sei Parteipropaganda und solle  Emotionen aufwühlen gegen die augenblickliche Regierungspartei.  Wir stellten fest,  daß es schon vor 10 Jahren 6 Millionen Arme bei uns in der BRD gegeben hat,  Menschen, die mit ihrem Einkommen am oder unterm Existenzminimum liegen.  Bedauerlicherweise hat es die Leiterin unseres Bergkamener Sozialamts abgelehnt, an  diesem Gottesdienst teilzunehmen, sonst könnte sie uns an dieser Stelle wohl berichten,  daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger in letzter Zeit doch zugenommen hat.  Ganz  sicher ist arm nicht identisch mit Sozialhilfeempfänger. Es gibt Väter, die mit 1200 DM  netto ihre 4 Kinder durchbringen müssen. Und wenn die zu stolz sind, um Sozialhilfe  dazu zu beantragen, sind diese Familien noch ärmer dran als manche, die vom Sozialamt  leben. Es gibt hier eine Hemmschwelle  und falsch Bescheidenheit und Schüchternheit,  die überhaupt nicht nötig ist. So war das einmütige Wort aller Männer in Ahlen, hier  allen Mut zu machen: Geht zum Sozialamt! Laßt euch informieren über eure Rechte,  über das, was euch zusteht. Nehmt es an! Stellt die entsprechenden Anträge! Einige  meinten in Ahlen, die Armen unter uns sollten besser rechnen lernen, nicht gleich am  Monatsanfang alles ausgeben und am Ende nichts mehr haben.  Und wir in der Kirche  sollten mal Kurse in Haushaltsfinanzierung anbieten.  Ihr Armen unter uns, ich sage  euch: Wenn wir in der Kirche mit so wenig auskommen müßten wie ihr, dann wären wir  genauso pleite. Wir können auch nicht besser wirtschaften und haushalten. Aber wir  haben soviel, daß alle unsere Gemeinden leben können. Und ich kenne  Besserverdienende, die haben keine Viertausend Mark Schulden, sondern  Fünfzigtausend und mehr. Und denen sperrt man nicht das Konto, die leben flott weiter  mit dicken Schulden und dickem Wagen. Ich kann euch nicht verurteilen, wenn ihr euch  am Monatsanfang mal was leisten wollt nach Tagen des kargen Lebens  Aber ihr müßt  auch wissen, daß euch kein anderer Ausweg bleibt als knallhart zu rechnen und euch das  Geld ganz straff über den Monat einzuteilen.  Ursache für die wachsende Armut unter uns ist die neue Technologie. Roboter und  Computer machen immer mehr Arbeiter arbeitslos. Und  die Bestimmungen, unter  denen die Menschen, die keine Arbeit mehr haben, leben müssen, werden immer  schwerer. Diese Entwicklung der neuen Technologie ist schier unaufhaltsam. Es ist  kaum wahrscheinlich, daß es mal wieder Zeiten mit Vollbeschäftigung geben wird. Da  können wir in der Kirche weder wirkungsvoll mit Geld weiterhelfen, noch wird die  Industrie da gerade auf uns so sehr hören. Aber wir müssen eins ganz unmißverständlich  sagen: Wer heute arbeitslos wird, der ist kein schlechterer Mensch als einer, der noch das  Glück hat, einen Arbeitsplatz sein eigen zu nennen. Arbeitslose sind auch nicht fauler  als Arbeitende. Sie haben nur das Peck gehabt, in einem wirtschaftlich unfähigen  Betrieb gearbeitet zu haben, der seine Arbeiter nicht halten konnte oder wollte.  Ich  denke da an den Bergkamener Verkäufer, der nach Karstadt-Schließung sein Leben  nicht mehr  berechtigt fand und es sich nahm. Wer arbeitslos ist, ist nicht deshalb schon  ein schlechterer Arbeiter. Und wer Arbeit hat, ist nicht deshalb schon ein besserer  Arbeiter. Wir sollten uns vor diesen Vorurteilen hüten. Wir brauchen ganz ganz  dringend an dieser Stelle ein Umdenken! Egal, ob es neue Armut gibt oder nicht, es muß  unter  uns etwas wachsen, was es noch viel zu wenig gibt: eine NEUE SOLIDARITÄT!  Wir sind nicht unseres Glückes Schmied. Wir sind wirtschaftlichen Zufällen ausgeliefert.  Wer heute noch seine Nase hoch erhob über diese faulen Arbeitslosen, kann morgen  schon seine Entlassung im Briefschlitzlein haben. Darum laßt uns dankbar sein, solange  wir noch Arbeit haben. Laßt uns dafür sorgen, daß genügend Geld zur Verfügung steht,  um alle Arbeitslosen und Armen zu versorgen. Denn wenn eines Tages wir selbst mit  dazugehören, sind wir darauf angewiesen, daß eine von Gottes Güte erfüllte  Gesellschaft als oberstes ihrer Ziele gesetzt hat: Jeder soll soviel bekommen, daß er  wirklich leben kann. Das fordert ganz sicherlich denen, die besser verdienen, auch ihre  Opfer ab. Aber hat nicht auch Gott  zuerst für die Mägen gesorgt, ehe die schönen  Künste und der Kirchbau dran waren? Neue Solidarität heißt: der Unterschied zwischen  Arbeitern und Arbeitslosen ist rein zufällig, und: Wer mehr verdient, kann auch mehr  abgeben, damit alle satt werden. Amen.