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Rede zum Volkstrauertag    MartinLutherHaus 17.11. 1985

Wir gedenken heute der Opfer von Krieg und Gewalt in unserer Zeit: der Soldaten,  die in den beiden Weltkriegen gefallen, ihren Verwundungen erlegen oder in  Kriegsgefangenschaft gestorben sind, der Frauen, Kinder und Männer, die durch  Kriegshandlungen, auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus ihrer Heimat ihr Leben  lassen mußten. Wir gedenken all derer, die unter der Gewaltherrschaft Opfer ihrer  Überzeugung oder ihres Glaubens wurden, und all derer, die getötet wurden, weil sie  einem anderen Volk angehörten oder einer anderen Rasse zugerechnet wurden. Wir  gedenken der Männer, Frauen und Kinder, die in der Folge des Krieges und wegen der  teilung Deutschlands und Europas ihr Leben verloren. Wir trauern mit den Familien  und freunden um die Gefallenen und Toten all der Völker, die unter beiden Weltkriegen  gelitten haben. Wir trauern mit den Angehörigen um die Opfer des Terrorismus, der  Kriege und Bürgerkriege unserer Tage. Wir trauern, doch wir leben in der Hoffnung auf  Versöhnung der Völker und Frieden in der Welt. Für viele von uns ist dieses Gedenken vielleicht ein unbequemes Thema, mit dem  man bei vordergründiger Betrachtung nicht so recht etwas anzufangen weiß. Vierzig  Jahre nach Kriegsende verblaßt allmählich die Trauer, abgesehen vielleicht von der  Trauer der nächsten Angehörigen. Damit ändert sich auch der Sinn des Volkstrauertags.  Neben die Trauer tritt mehr und mehr das Nachdenken über die Ursachen der mehr als  Hundert Kriege, die es seit dem letzten Weltkrieg in aller Welt schon wieder gegeben  hat. Wie uns die Erfahrung leidvoll lehrt, kann Gedankenlosigkeit tödlich sein. Die  Wahlentscheidung von 1933 war eine der schrecklichsten Dummheiten der Deutschen.  Fast ununterbrochen führen in unserem Jahrhundert nach wie vor Menschen Kriege  und Bürgerkriege. Sie haben immer wieder neue Einfälle, einander zu quälen und zu  vernichten. Den 55 Millionen Toten beider Weltkriege folgten seit 1945 weitere 30  Millionen als Opfer der Gewalt gegen Menschen. Als neue Geißel ist dabei neben den  Krieg der Terrorismus getreten, der zur Durchsetzung obskurer Ziele rücksichtslos und  heimtückisch unbeteiligte Menschen in den Tod reißt. Es ist Terrorismus, wenn in  Kaufhäusern Bomben gezündet werden. Aber es ist auch Terrorismus, wenn in  Südafrika Polizei in wehrlose Menschenmengen schießt und täglich Schwarze sterben,  weil sie demonstriert haben für ihre Menschenwürde. Und es war Terrorismus, als in  unserem Land vor über 40 Jahren 6 Millionen Juden und Abertausende von Russen,  Kommunisten, Sozialdemokraten und Zigeunern grausig abgeschlachtet wurden. Auch  die Gräber unseres Russenfriedhofs in Weddinghofen verbergen manche grauenvolle  Bluttat. Die Führer der evangelischen Kirche, gerade aus dem Konzentrationslager  befreit, haben 1945 im Stuttgarter Schuldbekenntnis von einer kollektiven Schuld aller  Deutschen gesprochen. "Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer  gebetet, nicht fröhlicher geglaubt, nicht brennender geliebt haben." So sagten die, die  gerade noch mit dem Leben davongekommen waren, weil sie nach Kräften Widerstand  geleistet hatten gegen die Gewaltherrschaft der Nazis. Sicherlich haben die meisten  Deutschen nicht selbst gemordet. Aber sie haben geschwiegen, wo sie hätten schreien  sollen. Und als einige geschrien haben, da war es wieder einmal zu spät. Was lernen wir daraus? Wie kann unsere Trauer fruchtbar werden, daß nicht  nocheinmal unser Volk Krieg erleben muß? Ich glaube, wir Deutschen haben mit der  unglaublichen Schuld von Millionen Opfern unseres Terrorismus damals eine ganz  besondere Verantwortung dafür, daß kein Krieg mehr sei, nicht in anderen Ländern und  erst recht nicht mehr bei uns. Einer der Fehler, die wir gemacht haben, war: die falsche  Partei zu wählen. Man hat sich verführen lassen von großartigen Versprechungen. Der  zweite Fehler war dann programmiert: man hat geschwiegen zur Aufrüstung Mitte der  Dreißigerjahre. Aus Trägheit, blindem Vertrauen, oder vielleicht schon aus Angst. Und  dann war man drin im Strudel der Gewalt. Es gab kein Zurück mehr. Man hat den  Zeitpunkt nicht erkannt, an dem das Volk noch hätte umkehren können. Volkstrauer  heute heißt: lernen aus dieser unserer Geschichte. Und die Lehre ist: Erkennt die  Zeichen der Zeit und wehret den Anfängen. Aus Rüstung kann nie und nimmer  dauerhaft Friede werden. Es gibt eine stärkere Waffe als jede Pershing II und jedes  SDI-Programm. Diese Waffe ist der Gott, der Liebe ist. Wo Menschen nach der  Ordnung seiner Gewaltlosigkeit handeln, wächst ein geradezu beängstigender Mut,  ohne Gewalt für die Ziele einzutreten, die wichtiger sind als alle nationalen Interessen,  die zumeist eh nur die Interessen einiger weniger Machthaber im Volk sind. Ghandi,  Martin Luther-King, der Ruhrkampf 1923 und die Erfolge der  Solidarnosch-Gewerkschaft in Polen zeigen, daß auf Dauer die Macht der  Ohnmächtigen stärker sein kann als die Abschreckung der noch so perfekten  Waffensysteme. Inzwischen haben praktisch alle Machthaber erkannt, daß der Feind gar  nicht mehr das andere Volk ist, sondern der unaufhaltsame Fortschritt und die  Eigengesetzlichkeit der Aufrüstungsspirale. Das Mißtrauen gegeneinander und massive  Firmeninteressen treiben die Völker zu immer neuen Rüstungswahnsinnstaten an. Der  Hunger auf der Welt wäre längst nicht mehr, wenn auch nur ein Bruchteil der  Rüstungsausgaben für Entwicklungsprogramme verwendet würde. Allein an der bloßen  Existenz von kostspieligen Armeen sterben täglich 40.000 Kinder im Hunger. Angesichts  dieser Entwicklung kann und darf unsere Trauer und geschichtliche Verantwortung für  den Frieden nicht einfach nur stummes Mitleid mit den Opfern sein. Nein, wir sind  gefordert, aktiv für den Frieden einzutreten. Trauer ist eine Chance zum  Über-Sich-Hinauswachsen. Das Eine ist, zu erkennen, sich zu informierten, was im  rüstungsbereich geschieht. Und in fürchte, wir haben uns noch zu wenig gegen die  Pershings gewehrt, nun haben wir hier die höchste Atomwaffendichte der Welt, sitzen  auf dem Pulverfaß. Möglicherweise ist es schon zu spät, etwas zu tun gegen den Strudel  der Vorkriegsgesetzmäßigkeit. Aber je länger wir warten, desto später wird es. Und die  Lektion unserer über 40 Jahre alten Schuld ist: rechtzeitig schreien und der Aufrüstung  widerstehen. Das Zweite ist, angesichts der Todesspirale Aufrüstung zu erkennen: Alle  wollen Frieden. Alle Völker wollen Abrüstung. Und alle haben Angst, die Gegner  könnten zuviel Waffen haben. Und darum, aus Mißtrauen und Angst, rüsten alle auf.  Nicht die fremden Völker sind der wahre Feind. Der wirkliche Feind ist unsere Angst,  unser Mißtrauen, ist die russische Angst, das russische Mißtrauen, die amerikanische  Angst, das amerikanische Mißtrauen. Und diesen Feind bekämpfen wir nicht mit  Waffen, sondern mit Vertrauen. Und hier will uns die geistliche Waffenrüstung des  Glaubens an die Macht Gottes ein grandioses Angebot machen: Wenn wir wirklich  glauben wollen, daß Gott unsere feste Burg ist, unsere Wehr und Waffen, dann brauchen  wir tatsächlich keine Atomraketen und das andere Teufelszeug der Militärs, in einem  Land, das, so Altkanzler Schmidt, mit militärischen Mitteln eh nicht mehr zu verteidigen  ist. Wenn aber wir keine Waffen mehr haben, schwindet bei anderen Völkern die Angst,  wir könnten sie angreifen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß heute noch ein Völk auf  Raubzüge geht. Also werden unsere politischen Gegner auf unsere Abrüstungsschritte  hin auch abrüsten. Dann wird es eine Abrüstungsspirale geben statt der jetzigen  Aufrüstungsspirale. Das ist machbar und möglich. Aber einer muß den glaubhaften  Anfang machen. Und dann wird der Satz Realität: Gott ist unser Schutz. Bei Hunden  löst das Hinhalten der Kehle, also die absolute Wehrlosigkeit, eine völlige  Tötungshemmung aus. Bei Menschen löst der Verzicht auf Gewalt ebenso eine  Tötungshemmung aus, wenn Vertrauen da ist. Wir haben hiermit nur noch fast keine  Erfahrungen, weil wir ständig auf der Hut sind und uns von allem und jedem bedroht  fühlen. Wir sind da ganz am Anfang, Vertrauen als die Waffe zu beherrschen, die  wirksamer ist und zukunftsträchtiger als die besten Waffensysteme der Welt, die unsere  Zukunft radikal vernichten können. Vertrauen, Gewaltlosigkeit will gelernt sein. Wer  als Kind auf dem Schulhof schon lernt, sich mit den Fäusten zu wehren, wird kaum  verstehen können, daß ohne Drohung, Abschreckung, Gewalt die Konflikte auch zu  lösen sind. Darum fängt Abrüstung und Friedenschaffen schon in der Schule an, nein,  schon im Kindergarten, nein, schon in der Familie. Wenn die Eltern ihren Kindern mit  Schlägen und lauten Worten das Recht des Stärkeren beibringen, wie sollen da Kinder  jemals die Macht der Ohnmächtigen, die Möglichkeit friedlicher Konfliktlösung als  erfolgreichen Weg kennenlernen? Der Frieden fängt im Elternhaus an! Die Lehrpläne  der Schulen schreiben Friedenserziehung als Pflichtprogramm vor. Gut so. Wir könnten  sogar in der Art von Selbstverteidigungskursen trainieren, im Fall von körperlicher  Bedrohung ohne Gewalt herauszukommen. Der immer belächelte Tip Jesu - ich halte  ihn für die Rettung der Welt: Ihr wißt, daß es heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich  aber sage euch: Ihr sollt euch überhaupt nicht gegen das Böse wehren. Wenn dich einer  auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die linke hin. - Ich möchte Ihnen, liebe  Weddinghofener heute, 40 Jahre nach dem letzten Weltkrieg, angesichts der unsagbaren  Grauen des Krieges diese einfach und wirkungsvolle Lektion mit auf den Weg geben:  Haben Sie es auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben probiert, wenn Sie auf die eine  Backe geschlagen werden, die andere auch noch hinzuhalten? Probieren Sie es aus, nur  ein einziges Mal, es könnte der Anfang des Wirkens von Gottes Waffe sein: der Liebe.  Das wünsche ich uns allen.