Predigt über Hebräer 4,12f

Bodelschwinghhaus: 2.Feb. 1986

Gottes Geheimnis als das Geheime im Menschen

Liebe Schwestern und Brüder!
Ich kann kein Blut sehen. Als ich vorgestern beim Arzt war und er anfing, von  blutigen Dingen zu erzählen, bin ich gleich schon in Ohnmacht gefallen. Es ist da so eine  Angst vor Verletzung hinter. Noch weniger wäre es mir möglich, als Chirurg wie Dr.  Gercek zu arbeiten und mit dem Skalpell bis tief in die inneren Organe eines Menschen  vorzudringen. Es ist eine Angst da vor der Verletzung, die entsteht, wenn man einem  Menschen zu nahe kommt, so nahe, daß es ihm mitten hineingeht in seinen Körper.  So löst auch die Vorstellung von Gottes Wort als einem zweischneidigen Schwert,  welches uns bis an die Knochen in den Leib geht, Angst in mir aus. Was so unter die Haut  geht, ist leicht tödlich, wie etwa die Klappmesser unserer jüngeren Generation zwischen  Kneipe und Knast. Aber der Chirurg hat ja das umgekehrte Interesse wie der Rocker. Er  will unter die Haut, um tief im Inneren etwas wieder heil zu machen. Ich glaube, das Wort Gottes kann beides sein. Es kann wie ein Klappmesser  Menschen tödlich beleidigen in ihrem Innersten, nämlich dann, wenn sie sich für  unfehlbar halten wie der Papst,der es auch nicht ist und das genau weiß. Dann werden  sie beleidigt sein, wenn sie aus dem Reden der Bibel erfahren, daß sie keineswegs nur  okay sind und große Klasse, sondern auch sehr verbrecherische Anlagen in sich haben,  die anderen Menschen weh tun. Das Wort Gottes kann aber auch wirken wie das Messer  eines Chirurgs. Es kann zu inneren Zerstörungen vordringen und dort, am Kern der  Krankheit, Segensreiches bewirken. Genau wie eine Operation tut auch die Operation  des Wortes Gottes oft weh. Die scharfe Zunge des Pastors kann diesen Schmerz des  Eingriffes hervorrufen, was wir uns so ungern gefallen lassen - es kann das unerbittlich  klare Urteil eines erfahrenen Freundes sein, der unsere Schwachstellen besser erkennt  als wir selbst. Es kann aber auch das Urteil des Richters sein, der uns unser Unrecht  spürbar vorhält. Und vielleicht ist es auch die innere Stimme, die uns immer wieder auf  unsere Fehler anspricht und bohrt und sagt: Du bist nicht okay. Und wie das helfende Chirurgenmesser gleichzeitig Schmerz und Gesundung  schaffen kann, so hat gute Kritik neben dem Verletzenden auch das Hilfreiche des  Wegweisers, den wir brauchen, um gut anzukommen. Das Wort Gottes ist ein kritisches  Wort an uns. Es zeigt uns unsere Unvollkommenheit und unsere Fehler. Es zeigt uns dies  durch einen Kontrast. Durch die Geschichte Jesu, der doch sehr andere gelebt hat als  wir, der aber doch so gelebt hat, daß es ganz und gar nicht unmöglich oder abwegig wäre,  es ähnlich mit unserem Leben zu halten, - durch Jesus erfahren wir uns als Sünder.  Indem wir sehen, wie er Menschen geliebt hat, geht uns auf, wie wenig wir bereit sind,  das zu tun. Unsere Lieblosigkeit wird an der Liebe Christi sichtbar, durch den Kontrast.  So richtet uns das Wort Gottes. Es zeigt uns, wie die Liebe ist, damit wir erkennen, wie  wenig Liebe wir geben und haben. Es zeigt uns, daß Gott uns liebt, damit wir mutig  werden, selbst Gottes Liebe für andere Menschen deutlich zu machen in unserem  Handeln. Die Kraft des Heiligen Geistes ist eine kritische Kraft der richtigen  Selbsteinschätzung. Nur wer sich einigermaßen gut kennt, kann die Folgen der eigenen  Schwächen bewältigen. Nur wer dran denkt, daß sein Bein frisch gebrochen ist, wird im  Krankenhaus nicht unvorsichtig herumturnen und alles nur noch schlimmer machen.  Man muß seine Schwächen erkennen, berücksichtigen, einplanen, damit sie nicht zu  schlimmen Folgen führen. Ich muß wissen, was ich nicht kann, damit ich mir nichts  übermenschliches zumiute. Und ich muß wissen, was ich nicht kann, damit ich genau das  vielleicht noch ein bißchen mehr trainiere. Damit ich weiß, worauf ich achten muß. Die  anderen Dinge gehen sowieso unbewußt richtig. Kritik will also die Schwachstellen  zeigen, um sie zu trainieren, damit die Schwächen keine schlimmen Folgen haben. Kritik  tut weh und muß doch sein bei der Suche nach der Wahrheit und dem richtigen Leben. Oft habe ich Zweifel, ob es überhaupt was nützt, zu predigen. Ich weiß aus  Umfrageergebnissen, daß Predigten nur das bestärken, was die Hörer ohnehin glauben  und daß die Aussagen, die dem Hörer nicht passen, einfach überhört werden oder man  sagt: das war aber nicht das Wort Gottes! "Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam."  Sagt der Hebräerbrief. Was löst eine Predigt schon aus? Im besten Fall ein gutes  Gefühl? Im anderen Fall etwas Unbehagen? Oder wäre es nicht auch Zeichen für das  Wort Gottes, daß es uns Ärger bereitet? Wir wollen uns nicht ärgern lassen vom Wort  Gottes. Predigt als Schwert, das bis ins Mark dringt, soetwas lehnen wir ab. Wir leugnen  dann, daß es das Wort Gottes war.  Liebe Schwestern und Brüder! Mit diesen Sätzen können noch fast alle einverstanden sein. Jeder weiß, daß er Kritik von der Kanzel nicht sehr gern hört. Aber würde ich es jetzt konkretisieren auf die entscheidenden Fragen des Glaubens, etwa Feindesliebe:Pershing 2 ist Sünde und soll hier nicht sein! - dann würden alle sagen: Er predigt wieder Politik, aber nicht das Wort Gottes. So haben wir unsere Abwehrmechanismen gegen Gottes Wort.  Die Geschichten Jesu sind voll von solchen Abwehrmechanismen gegen die  Ausstrahlung Jesu auf der Seite der Pharisäer und Schriftgelehrten.  Sie streiten dauernd  mit Jesus, weil sie sich ärgern über das, was Jesus sagt und tut. So sagt Paulus mit vollem  Recht:Das Wort vom Kreuz ist den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit. Ich  glaube, zur Lebendigkeit und Wirsamkeit des Wortes Gottes ist, daß es uns manchmal  wurmt und ärgert. Die Schärfe des Gotteswortes dringt bis dahin, wo Geist und Seele  zusammentreffen. Sagt der Hebräerbrief.  Der Schnittpunkt von Geist und Seele ist das  Gebiet der Psychologie. Wenn Gott die Seele des Menschen kennt bis in die geheimsten  Wünsche, und das sind die uns selbst unbewußten, dann kennt Gott uns besser als wir  uns selbst. Und wer nur ein bißchen nachdenkt über sich selbst, der weiß, wie wenig man  sich wirklich kennt. Wir alle leben damit, daß wir uns was vormachen. Wir alle spielen  unser Theater so recht und schlecht. Alles stereotype Rollen, die wir von anderen  übernommen haben und die uns nicht auf den Leib geschrieben sind, sondern eher auf  den Leib geprügelt. Die besserwisserischen Männertypen, hart und eisern,  Kruppstahlopas, die gesitteten Damen, die selbst die Liebenswürdigkeit in Person sind,  aber beim Tratsch über die Nachbarin so richtig die Sau rauslassen - unser alltägliches  Theaterspielen entspricht nicht dem, was wir im tiefen Inneren wirklich wollen und  denken. Der Harte Mann ist gewöhnlich das Riesenbaby, ohne den Mut, zu weerden wie  die Kinder. Die Edelmütigen haben oft auch sehr finstere Gefühle. Luther wußte nur zu  gut, wie auch die Heiligen vom Teufel geritten werden. Die Abgründe der Bosheit  unserer Seele genau auszuloten, das tut weh, weil man sich gern besser hätte. Aber es ist  als Aufgabe des Psychiaters auch zugleich die Hilfe, die Menschen an der Grenze der  Selbstzerstörung  fähig macht, mit ihren finsteren und traurigen Zügen zu leben. Und  dadurch zu überleben. Glücklich kann ein Mensch nur im Einklag mit sich werden.  Wenn es keine Kluft zwischen den verborgenen Wünschen und den bewußten Motiven  gibt. Die geheimsten Wünsche in uns, die wir uns nie eingestehen mögen, es sind im  Grunde nicht die Abgründe der Bosheit. Es sind sehr zärtliche Strebungen. Es sind  Wünsche der Liebe, der Geborgenheit, der Unbekümmertheit. Sehnsüchte nach einem  Leben ohne Tränen. Der Wunsch, grenzenlos Schönes zu erleben, grenzenlos geliebt zu  werden und grenzenlos jemanden zu lieben ohne Zurückweisung zu erleben. Die  verborgenen Wünsche sind fast wie das Heiligtum eines Tempels. Und drum herum  sieht es böse aus. Wir erleben überall, daß diese Wünsche von außen, von anderen  verstellt werden. Das tut uns weh. Darum kapseln wir uns ab. Wir zeigen anderen nicht  mehr unseren Kindertraum, weil er ja doch nicht erfüllt wird. Wir werden hart,  verschlosssen, unnahbar. Wir nehmen die Rollen an, die man uns vormacht. Und das  zarte Fädchen der Hoffnungen des Kindes in uns reißt ab. Die Hoffnungen werden in  uns begraben.  Wir schweigen sie tot. Wir resignieren. Man kann ja doch nichts machen.  Unsere Kinderträume werden uns selbst zum Geheimnis. Und Gott kennt dieses  Geheimnis. Gott weiß um unsere kindlichen verborgenen Sehnsüchte. Und er sagt sie  uns noch einmal. Diesmal nicht von innen heraus, sondern durch Boten auf der Kanzel.  Die dort Liebe predigen und Frieden und Gerechtigkeit, die sprechen das aus, was die  Kinder in uns sich wünschen. Darum wurmt uns das Wort Gottes: Weil es unseren  unterdrückten eigenen Wünschen zutiefst entspricht. Gott will, was alle Kinder dieser  Erde wollen, auch die Kinder in uns Erwachsenen, die wir totschweigen: Kein Mensch  soll gequält werden, jeder soll Vater und Mutter haben, ein schönes Haus zum wohnen,  einen Garten zum Spiel, Essen für alle und Frieden auf der ganzen Welt. Das ist unsere  Hoffnung, die ärgerliche Hoffnung Gottes: Der einzige Schmerz, den es dann noch  geben wird, ist der Liebeskummer. "Es gibt nichts, was Gott verborgen wäre. Alles liegt  nackt und bloß vor den Augen dessen da, dem wir Rechenschaft schuldig sind." Stellen wir uns vor, Gott sieht uns so, wie wir wirklich sind. Wir sehen uns so, wie wir  unser Theater spielen. Wenn Gott nun uns erträgt, so wie wir sind, dann gibt es keinen  Grund, weshalb wir uns selbst nicht auch ertragen können sollen. Vor den Augen Gottes  sind wir wie spielende Kinder. Unser Lieblingsspiel ist heute Verstecken. Wenn Gottes  Reich anbricht, werden die Kinder Gottes andere Spiele spielen, weniger nervtötende.  Ihr Spiel wird die Aufrichtigkeit, die Zärtlichkeit, das Schmusen, das vertrauende  Erzählen, das gemeinsame Träumen sein. Ich habe mir vorgenommen, schon jetzt so  allmählich damit anzufangen. Amen.
p.s. Covenant Players in Bergkamen!