Pfarrer
Michael Lütge
Bergkamen
1.Sept.1986
Die
Kontakte zwischen Menschen, die sich als Christen
verstehen oder zur organisierten Kerngemeinde der Kirche
gehören, und denen,
für die aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse der
Gebrauch des Wortes
"Gott" sinnlos geworden ist, sind in der Alltagssituation kirchlicher
Projekte, in denen es auf die Stärke gemeinsamen Handelns
ankommt
(Aktionseinheit), als ein Stück Orthopraxie
vernünftiger Weltbewältigung
entstanden. Im Bereich gemeinsamer Aktionen gibt es einen fast
problemlosen
Konsens. In der Frage der handlungsleitenden Axiome und Theoreme gibt
es
dagegen starke Diskrepanzen. So eng der Konsens in der Frage der
Orthopraxie,
so unüberbrückbar der Dissens in der Frage der
Orthodoxie, der die Wahrheit
benennenden richtigen Lehre.
Ziel
dieser Thesen ist daher, die Divergenzen zu formulieren
und die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens so evident
darzulegen, daß
sie noch denen plausibel wird, die nicht mit der Existenz Gottes
rechnen.
Es
gibt ein außerordentlich stark ausgeprägtes
Bedürfnis der
Menschen nach Spiritualität. Von diesem Bedürfnis
unterscheidet sich die Frage
der theologischen Dogmatik. Die Sätze des Glaubens
vermögen wohl in
gottesdienstlichem Zusammenhang spirituelle Erfahrungen
auszulösen. Doch sind
ebenso völlig andere Momente Auslöser spiritueller
Erfahrungen: Liturgische
Rituale, Drogen, Fastenübungen, Meditationsübungen,
Empfänglichkeit für
Aberglauben, usw. Aus der langen kirchlichen Tradition Europas hat die
traditionelle kirchliche Dogmatik für das Bewußtsein
der kirchlich gebundenen
Menschen einen starken Stellenwert bei der Vorbereitung spiritueller
Erfahrungen: Gott als Vater im Himmel, Lenker der Welt,
Verantwortlicher für
all das, was Menschen einander zufügen, Geber von Leben und
Tod. Diese
theistischen Axiome lösen nach wie vor bei der Mehrheit der
Kirchentreuen
spirituelle Erfahrungen aus. Ähnlich hat in Jugendsekten,
spiritistischen Kulten
und Meditationszirkeln ein bestimmter dogmatischer Bezugsrahmen einen
spirituelle
Erfahrung formenden und auslösenden Effekt. Der
verblüffende Erfolg von Jugendsekten
bis Wunderheilern ist Zeichen dafür, daß das
Bedürfnis der Menschen nach
Spiritualität keineswegs erloschen ist. Die Menschen wollen
heute keineswegs religionslos
leben, sondern sind getrieben von einer ungemein starken Sehnsucht nach
Transzendenz:
danach, daß der alltägliche Lebenszusammenhang nicht
schon alles ist. Spiritualität
überschreitet die Grenze der Alltagserfahrung, ist die Stelle
im Leben, wo ein
Mensch über sich hinauswächst. Religion als
Überschreitungserfahrung von Alltäglichem,
als Grenz-Erweiterung des menschlichen Bewußtseins ist dann
nicht nur psychohygienisch
wichtig als Faktor und Moment glücklichen Lebens, sondern
bildet eine Ebene des
fortschreitenden Bewußtseins einer Gesellschaft, auf der
rationale mit emotionalen
Dimensionen des menschlichen Geistes in einzigartiger Tiefe verbunden
sind.
Solche spirituellen Erfahrungen sind vielleicht ebenso lebenswichtig
für
glückliche Menschen wie Essen, Trinken und Sexualität.
Jugendsekten
u.a. dokumentieren heute, wie stark sich das
Bedürfnis nach Spiritualität formiert, wie leicht es
lenkbar ist und wie
anscheinend die Kirche in ihren Lebensäußerungen
diesem Bedürfnis vielfach
nicht mehr gerecht werden. Es fehlt in den Kirchen an
Spiritualität, obgleich
die Kirche dafür der prädestinierte Ort in der
Gesellschaft wäre. Zugleich
fehlt es vielfach in der Kirche immer noch an Orthopraxie, Tun des
Rechten,
sodaß die Kirchen nicht nur dem spirituellen
Bedürfnis nicht gerecht werden,
sondern auch nicht den ethischen Konsequenzen ihrer eigenen Lehre. Das
einzige
Gut der Kirche ist vielerorts die der Aufklärung nicht
standhaltenden theistischen
Ausdrucksformen des christlichen Glaubens, die in einer sich jeder
wissenschaftlichen
Nachprüfbarkeit entziehenden Beliebigkeit als Orthodoxie ohne
Wahrheit erstarrt
sind und zur reinen Behauptung bei gegenteiliger Praxis verkommen sind.
In der
Frage richtigen Lebens sind vielfach Nichtchristen den Kirchentreuen
weit voraus.
Daraus ergibt sich die ekklesiologische Frage, ob die Kirche nach
Luther der
Ort richtiger Lehre ist oder da existiert, wo der Wille Gottes getan
wird, anstatt
in der Anbetung des Herr, Herr-Sagens gerade die Herrschaft Christi zu
verhindern. Aus der Lehre Christi geurteilt hat die organisierte Kirche
weitaus
weniger Authentizität als viele unorganisierte Menschen, die
sich nicht als
Christen bezeichnen, denen aber sachlich diese Bezeichnung viel eher
zukäme als
den Kirchentreuen selbst.
Um
nicht nur Aktionseinheiten mit diesen vom
Selbstverständnis her nichtchristlichen, von der Sache her
doch christlichen
Tätern des Willens Gottes zu machen, sondern auch einen
gemeinsamen
Begründungszusammenhang dieser Aktionsformen zu entwickeln,
aus der Orthopraxie
zur Orthodoxie zu gelangen - nie geht die Theorie der Praxis
tatsächlich voraus
im alltäglichen Lebenszusammenhang! -, ist die Lehre des
christlichen Glaubens
in ihrer dogmatisch verfestigten Form daraufhin zu
überprüfen, was unter dem
Aspekt der Gültigkeit des fortgeschrittensten
wissenschaftlichen Wissens an
biblischen Aussagen evident und plausibel ist. Das Ziel dieser
Unternehmung
ist, aufgrund einer allgemeingültigen Glaubwürdigkeit
des christlichen Glaubens
mit allgemein nachvollziehbaren Sätzen ausgewiesener Wahrheit
zu einer wiederum
nicht mehr partikular-innerkirchlichen, sondern allgemein bejahbaren
Spiritualität zu gelangen, die als einende Triebkraft die
Solidarität und
Durchsetzungsfähigkeit der gemeinsamen Aktionseinheit im
politischen Handeln
fördert. Eine solche Form der Spiritualität haben
weder die organisierte Kirche
noch die politisch im Sinne Jesu engagierten Menschen. Sie ist eine
Erfahrungsdimension,
die erst gemeinsam erschlossen werden muß. Es hat in der
Geschichte der Kirche
immer wieder solche Neu-Erschließungen von orthopraktischer
Spiritualität
gegeben. Solche orthopraktische Spiritualität ist aber nichts
zeitlos gültiges,
sondern verändert ihre Gestalt mit der Veränderung
des Wissens und der gesellschaftlich
gebotenen Formen richtigen christlichen Handelns.
Zu
der neuen Spiritualität gehört das Recht der
Menschen, in
Gemeinschaft Ruhe und Geborgenheit zu finden, in der Gemeinschaft das
zum Thema
zu machen, was uns "unbedingt angeht"(Tillich). Das auszusprechen,
was alle bewegt: erste und letzte Fragen, nach dem Sinne dieses so
offensichtlich
leidvollen und ungerechten Lebens, nach der letzten Bestimmung der
Menschen,
wenn es eine solche geben sollte. Was trägt uns in unserer
unaufhebbaren
Verlassenheit, in der jeder einsam seinen Tod stirbt und unwiderruflich
vergeht? Warum ist für viele Menschen das Leben nur Qual und
der Tod dann noch
einmal? Mit welchem Zufall wird jemand in eine wahre Hölle
hineingeboren, warum
kann bundesdeutsche Schikeria sich kaum Hölle vorstellen? Alle
diese Fragen
existieren und geben in der Art ihrer Beantwortung unserem Handeln
letzte
Koordinaten, die sich auswirken bis hinein in Zielrichtung und
Intensität der politischen
Verantwortung-Nahme. Das gemeinschaftliche Nachdenken und Meditieren
dieser
letzten Fragen könnte als dogmatischer
Innovationsprozeß der Kirche
Nichtchristen und Christen verbinden in der Kirche als Ort der
Spiritualität,
die solchen Fragen Raum gibt, ohne ihre traditionellen Antworten als
die
apriori schon richtigen darzustellen.
Der
Beitrag der Christen in diesem spirituellen Dialog,
dessen Ort der christliche Gottesdienst wäre, ist in einer
aufgeklärten
Gesellschaft folgender: Wir verzichten auf die Behauptung, Gott habe
die Welt
geschaffen in der Art, wie es die Anfangskapitel der Bibel beschreiben.
Gott
ist nicht vor oder außerhalb der Welt, sondern in ihr. Wir
glauben Gott nicht
als Person, die alle Geschicke dieser Welt verantwortlich lenkt. Gott
ist
Geist, der die Herzen, Köpfe und Hände einzelner
Menschen und Gemeinschaften zu
bewegen imstande ist und der ohne diese ihn in sich tragende und von
ihm
getragene Gemeinschaft nicht ist. Insofern verkörpert Kirche
Gott in der Welt. Kirche
in diesem Sinn ist nicht kongruent mit der Organisation gleichen
Namens. Das
ist der Wahrheitsgehalt der Geschichten von den biblischen Propheten,
von
Jesus, von Heiligen der katholischen Kirche (Individuen) und der
christlichen
Gemeindebildung bis hin zur Kirchenlehre und Pneumatologie. Weil Gott
Geist
ist, ist die spirituelle Erfahrung zugleich die Erfahrung Gottes, auch
wenn sie
nicht als solche bezeichnet und erlebt wird.
In
besonders eindrucksvoller Weise hat Jesus den Geist
Gottes in Wort und Tat verdeutlicht. Als Quintessenz seines Auftretens
läßt
sich formulieren: Gott ist Liebe. Das Leben Jesu ist als Illustration
dieses
Satzes zu verstehen: Sein Bemühen, alle Menschen satt zu
machen, bedeutet für
uns heute eine neue Weltwirtschaftsordnung ohne Ausbeutung. Dies setzt
eine
tiefgreifende Änderung der kapitalistischen Herrschaftsformen
voraus. Jesu
Gewaltlosigkeit bedeutet heute einen radikalen Verzicht auf
Militär und eine
weitestgehende Einschränkung innerstaatlichen Gewaltgebrauchs.
Das involviert
den Kampf der Christen für Abrüstung. Die Liebe
Gottes umfaßt die Menschen mit
ihren Stärken und Schwächen, das zeigt das Handeln
Jesu. In der Art, wie die
Kirche auf den Mann Jesus aufmerksam ist, zeigt sich die Herrschaft
Jesu
Christi. Sie lebt nicht aus der Verehrung eines Mannes, sondern aus der
praktischen Aneignung dessen, was sein Leben entscheidend
geprägt hat. Das
kennzeichnet aufgeklärten Glauben, der den Ruf Jesu in seine
Nachfolge nicht
als theistische Vergötterung zur hierarchischen Marionette.
Jesus ist
beeindruckendes Vorbild und als solches lebendig im Handeln der
Christen. Das
ist die Form seiner über den Tod hinausgehenden Lebendigkeit.
In der Erinnerung
des Lebens eines Toten wird seine Lebendigkeit bewahrt und in neuer
Weise
entfaltet. Wenn an der Geschichte von der Auferstehung etwas
gültig ist, dann
die verbildlichte Hoffnung darauf, daß das, was einen
Menschen ausmacht, nach
seinem Tod nicht erloschen ist, sondern in erneuerter Form wieder
auflebt in
anderen durch die Kraft der Erinnerung, die ein Teil der Kraft des
Heiligen
Geistes ist. Christliche Liebe geht in dieser Form der Erinnerung
über den Tod
hinaus.
Die
Kirche hat nur eine Chance, wenn sie den Dialog mit den
aufgeklärten Nichtchristen sucht und vor dem
fortgeschrittensten Wissensstand
die Inhalte des Glaubens formulieren und aufrechterhalten kann. Wenn
die Kirche
sich dieser Verantwortung nicht stellt, gibt sie den Kontakt zur
Vernunft auf
und regrediert zu einer Sekte ohne Wahrheitsgehalt.
Möglicherweise hat sie dann
immer noch viele Kunden. Sie ist aber kein gesellschaftlich relevanter,
überzeugender Gesprächspartner mehr, sondern
konkurriert mit Märchenerzählern.
Um als "Volkskirche" Zukunft zu haben, bedarf es der theologischen
Umorientierung auf die Kompatibilität der Aussagen des
Glaubens mit denen der
Wissenschaften. Eine Kirche, die diesem Dialog nicht sich stellt,
verwirkt
nicht nur ihre Zukunft als Organisation, sondern zugleich die Zukunft
der Liebe
Gottes, von der sie lebt und die sie missionarisch weitergeben
möchte.
Missionarisches Handeln heute heißt: Glaubens- und
Dialoggemeinschaft bilden
mit Nichtchristen. Zum Wesen Christi gehörte, daß er
keine Angst hatte, etwas
zu verlieren. Eine Kirche, die diesem Wesen gemäß
lebt, wird in dem notwendig anstehenden
Dialog mit Nichtchristen vor der Preisgabe von theologischen Aussagen
zurückschrecken,
die ihr im Lauf der Tradition liebgeworden sind, aber nicht zum
innersten Kern
des Liebesgeistes Gottes gehören. Die Wunderstories der
Evangelien usw.
brauchen heute nicht mehr als Tatsachenberichte behauptet zu werden. Es
kommt
darauf an, ob die im Gewand spätantiker
Wundergläubigkeit formulierten
Geschichten vom Wesen der Liebe Gottes in Jesus über dieses
Wesen Gottes etwas
sagen. Dies allein ist heute (und war es damals ebenso) wesentlich,
nicht das
wundergläubige Gewand der Geschichte. Das Gewand solcher
Geschichten darf ein
Christ durchaus preisgeben, so wie der Hl. Martin seinen Mantel teilte.
Der
Erweis der Glaubwürdigkeit des Christlichen Glaubens
wird dadurch gebracht, daß eine Argumentationsfigur, die
völlig ohne Adaption
theologischer Motive auskommt, zu den selben oder ähnlichen
Ergebnissen kommt,
etwa in sozialethischen Fragen. Beispiel: Frieden als Ziel ist sowohl
politisch
der beste Zustand zu existieren, also nach wissenschaftlicher Logik,
wie er
zugleich als Ausdrucksform Gottes zum ethischen Ziel des Handelns der
Christen
erhoben wird. Aus dem universalisierten narzißtischen Wunsch
nach
Triebbefriedigung (Essen, Trinken, Geborgenheit und Wohnung,
Wärme, Sexualität)
läßt sich soziale Gerechtigkeit als Forderung nach
grundlegender struktureller
Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer und Resourcen
ableiten; dieselbe
wissenschaftlich begründbare Forderung ist aber auch (ohne
großartigen
Begründungszusammenhang) Grundforderung der Propheten und Jesu
in der Bibel.
Neue Weltwirtschaftsordnung ist gleichermaßen rational aus
der Universalisierung
der menschlichen Grundbedürfnisse her mit dem Evidenzpol des
eigenen Narzißmus
herleitbar, sondern daneben aus dem Sättigungswillen der
Mutterliebe Gottes zu
verstehen. Erst wenn die Macht der kapitalistischen
Wirtschaftsmachthaber durch
Demokratisierung und Vergesellschaft der Produktionssphäre
gebrochen ist, wird
es überhaupt zu einer grundlegenden Änderung des
Ausbeutungsverhältnisses
zwischen Industrie- und Entwicklungsnationen kommen.