Liebe Schwestern und Brüder!
Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und sei dir
gnädig. So heißt es im aaronitischen Segen, den wir
zum Schluß des Gottesdienstes zugesprochen
bekommen. Selig die reinen Herzens, denn sie werden Gott schauen.
Also kann man Gott doch sehen? Aber Mose darf nicht das
Angesicht Gottes sehen, sonst muß er sterben. Ist
es ein Horroranblick, der tödlich erschrecken ließe?
Kann man Gott sehen? Kann man ihn erfahren? Oder ist Gott
unsichtbar? Bei Adams Paradiesgarten lustwandelt Gott in der
Abendkühle. Beim Propheten Elia rauscht Gott als
sanftes Säuseln vorbei. In der Wüste am
Vulkanberg Sinai ist Gott in Donner und Blitz zugange. Mal
kommt er in Gestalt von drei Männern. Wir haben uns
damit abgefunden, daß Gott und seine Herrlichkeit nicht
sichtbar ist. Wir haben uns damit abgefunden, daß
Gott unter dem Gegenteil verborgen ist. Wir haben auch kein
gesteigertes Interesse daran, Gott zu sehen. Wir haben von
Johannes gelernt, daß es auf das Glauben ankommt,
nicht auf das Schauen. Wir wollen Gott schon gar nicht mehr
sehen. Vielleicht meinen wir auch, erst nach dem Tod sieht man Gott. Da
waren die Menschen früher unkomplizierter. Sie wollten Gott
sehen, sie waren noch so frei und so neugierig. Es ist schon
eine merkwürdige Angst, Gott zu sehen. Wir sind so
anständig und brav geworden, daß wir Gott sein
Geheimnis lassen. Wir haben uns aufs Glauben verlegt. Wir
verzichten auf die Sinnlichkeit Gottes. Er ist nur noch ein
Glaube. Zwar ein Glaube, der Berge versetzen kann, aber eben nur noch
ein Glaube. Es ist etwas Geistige und die Kraft des Geistes Jesu. Es
ist nichts Sinnliches mehr, so wie Jesus Fleisch war.
Gottesdienste sind auch wenig sinnlich. Im Mittelpunkt steht das Wort,
steht die Sprache. Gott ist Liebe - auch das ist und bleibt
oft nur Wort, manchmal recht leer sogar. Worte, Glaube, Geist
- Liebe geht durch den Magen: Gut, wir essen auch etwas im
Gottesdienst. Aber nur symbolisch. Die Sinnlichkeit Gottes ist auf
Symbole zusammengeschrumpft. Satt macht Brot und Wein in der
Kirche nicht. Daß Gott immer weniger Menschen
interessiert, liegt vielleicht auch daran, daß reine Worte
vielen zuwenig sind, daß die Menschen mehr
brauchen, sichtbare Zeichen der Liebe Gottes. Moses hat solche Zeichen
gefordert. Er wollte Gott sehen. Er gab sich nicht mit Worten
allein zufrieden. Und so gibt es ein Fest mit dem Namen Epiphanias
- Erscheinung, Sichtbarkeit Gottes - wo auf Visionserlebnisse
angespielt wird, in denen Gott Menschen erschienen ist.
Visionen hatten Propheten, Visionen hatten Nonnen im
Mittelalter. Es gibt soetwas wie das Recht, Gott zu erfahren, Gottes
Herrlichkeit zu schauen. Es gibt das Recht der Menschen,
nicht nur von Liebe zu hören, sondern Liebe zu
erfahren. Nicht nur vom Glück zu träumen, sondern
wirklich glücklich zu werden und zu bleiben. Glaube,
der nicht auch Schauen will, verliert den Ansporn. Worauf die
Christen bauen, ist nicht der Pocker mit der Unsichtbarkeit und
Unbeweisbarkeit mysteriöser Worte, sondern es geht
um sehr sinnliche Erfahrungen im Glauben. Immerhin darf Mose
Gottes Hinterteil sehen. Wenn schon nicht das Gesicht.
Merkwürdig diese Verborgenheit Gottes im AT. Zugleich aber
auch die Unbefangenheit, mit der die Menschen direkt mit Gott
reden und umgehen. Sehr selbstverständlich, sehr
unmittelbar, keine Skrupel. Es ist quasi alltäglicher Kontakt.
Du sollst dir kein Bildnis machen. Trotzdem, Wolken- und
Feuersäule ziehen mit, die Bundeslade mit den 10
Geboten, das heilige Zelt. Zeichen der Anwesenheit Gottes.
Und dann Jesus. Johannes sagt: das ist das lebendige Wort Gottes. Die
Logik Gottes. Logik ist in allen Dingen, vom Naturgesetz bis
zur Mutterliebe. Geist ist schon etwas sehr wichtiges und
ohne Logische Verhältnisse wäre weder Leben auf Erden
noch irgend etwas sinnlich Wahrnehmbares. Es gibt unterhalb
der Sprachebene genausoviel, nein, noch viel mehr Logik und
logische Funktionen, nach denen Leben abläuft und
die sinnliche Wahrnehmung überhaupt erst
möglich machen. Gottes Logik in Jesus - das
bedeutet: die Nächstenliebe, die Feindesliebe, die Sanftmut
und Wärme sind Entwicklungskräfte, die Gott
in der Welt entwickelt hat und die wie in der Entstehung
eines neuen Planeten mit unaufhaltsamer Macht Veränderungen
herbeiführen. Gottes Logik in der Welt zielt auf
allen Menschen sehr sinnlich spürbare Liebe,
Gerechtigkeit, Frieden. Gott wird dann sichtbar, wenn die
Welt gekennzeichnet ist durch Gerechtigkeit und Frieden und
Liebe. Solange ist Gott verborgen. Dann aber kann man Gott sehen. Es
ist falsch, zu sagen: Gott ist unsichtbar, also Augen runter. Es ist
richtig zu sagen: Jetzt sehen wir noch nicht viel von seiner
Welt, von Gerechtigkeit und Frieden. Jetzt sehen wir noch
Kriege, Morde, Hunger, Elend. Jetzt sehen wir die Welt, die
Jesus gekreuzigt hat. Aber das wird nicht immer so bleiben.
Eines Tages wird man auf der ganzen Welt Gottes Heil sehen.
Wenn alle Menschen satt sind, warm haben, Arbeit haben,
Freunde haben, gute Eltern und einen guten Staat, der für sie
sorgt und nicht nur für die reicheren
Bürger, die vollmündigen. Damit man Gott sehen kann,
gibt es noch viel zu tun im Umbau der Welt zur Heimat. Wir
haben die Möglichkeit und Aufgabe, für andere
Menschen Gott sichtbar und spürbar zu machen.
Hungrige sättigen, Brot für die Welt und nicht Waffen
für Südafrika. Unrecht beim Namen nennen
und bekämpfen und nicht noch mitfinanzieren.
Geborenes Leben erhalten und zum Besten fördern, anstatt gegen
Abtreibung zu schimpfen, aber zur sozialen Not geborener
Kinder zu schweigen, für die es besser
wäre, nicht geboren worden zu sein in den
gegenwärtigen Aufschwung der neuen Armut hinein.
Gottes Gesicht ist nicht eine Welt, in der die Schwierigkeiten auf dem
Rücken der Armen und Unterprivilegierten ausgetragen
werden. Seine Herrlichkeit verlangt nach Menschen, die
eintreten für die Armen und nicht nur für die
Industriellen. Die eintreten für den Schutz der
Umwelt und nicht für die Atomindustrie. Die weinen
mit den Traurigen und lachen können mitten in dieser
Welt der Traurigkeiten, weil sie manchmal für
Sekunden und Minuten eine Überdosis Glück erleben,
wie es Moses empfunden haben muß auf dem Felsen im
Rücken Gottes. Wir können Gottes Gesicht
sehen! Im Lächeln eines lieben Menschen, in der Wärme
einer Umarmung, in der Gastfreundschaft fremder Menschen, in
jeder Blüte, jedem Stein. Wir müssen nur
die Augen aufmachen, müssen nur hinschauen in die
Natur, die noch übrigblieb nach allem Waldsterben
und Rheinvergiften: so überwältigend schön
ist unsere Welt, so übervoll von Lebendigkeit, so
voller Wunder und in jedem sehen wir ein ganz kleines Stück
von Gott. Aus vielen kleinen Stücken Wunder,
Schönheit und Liebe wächst dieses Gesicht
zusammen zur Welt, in der Gott alles in allem ist, einer Welt ohne
Hunger und Tränen, einer Welt, an der wir bauen.
Gott helfe uns zum richtigen Bauplan. Amen.