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Predigt über Jes. 6,1-8    

Friedenskirche: 14. Juni 87

 Visionen von Gottes neuer Herrlichkeit 

Liebe Schwestern und Brüder! Liebe Taufeltern und Paten. Liebe Kinder!
Jesaja ist von Gott berufen worden. So wie wir von Gott berufen werden durch die  Taufe zu einem neuen Leben. Der Taufspruch von Johannes, der Jesus getauft hat, war:  Ändert euer Leben, denn das Reich Gottes ist nahe.  Jesaja wird durch eine Vision berufen. Vision, da sieht einer vor seinem inneren  Auge etwas so intensiv, als wäre es Wirklichkeit. Wie die Träume, in denen wir nicht  mehr wissen, träumen wir oder sind wir wach. Das gibt es, das ist keine Spinnerei, das ist  sogar sehr wichtig für uns Menschen, nicht allein in der Welt der Tatsachen, der  sogenannten Tatsachen zu leben, sondern auch in der Welt der Träume. Kinder erzählen  oft Geschichten, wo die Eltern erstmal gar nicht wissen, ist das nun wirklich passiert  oder nur in der Phantasie. Gut, ich glaube, die Berufung Jesajas zum Propheten, zum  Sprachrohr Gottes, ist in seiner Phantasie passiert. Gott ist etwas, was mit Phantasie  verbunden ist. Gott ist keine Tatsache, sowenig wie die Vision eine Tatsache ist. Es ist  eine phantastische Sache, eine Traumsache. Träume sind etwas wichtiges. Phantasien können die Welt verändern. Bevor  technische Erfindungen industrielle Revolutionen auslösen, sind sie erstmal nur fixe  Idee in den Köpfen der heutigen Daniel Düsentriebe. Ohne Phantasie würde kein  technischer Fortschritt denkbar sein, das wissen alle, die in den exakten Wissenschaften  tätig sind. Phantasien verändern die Welt. Es gibt schmutzige Phantasien. So haben  verwirrte Wissenschaftler die Atombombe erfunden und damit die gesamte Menschheit  in tödliche Bedrohung gebracht. Und es gibt tolle Phantasien, etwa die Achterbahn oder  die Schaukel oder Sonnenkollektoren. Ihr merkt, wie wichtig die Phantasie ist. Die  Vision des Jesaja ist eine solche wichtige Phantasie. Er steht vor Gott. Gott sitzt auf  einem Thron. Komisch, wie leicht man sich Gott als König vorstellt! Die Christen haben  eine andere Vision von Gott als Zeichen für ihre Kirchen gewählt: Das Kreuz, an dem  Jesus ermordet wurde. Unsere Vision ist nicht mehr der über allem thronende  Herrschergott, sondern ein Gott, der schreiend leidet und stirbt, von frommen  Menschen hingerichtet als Aufrührer.  So ändern sich die Bilder, die Visionen, die Phantasien, die Erfindungen. Daß Jesaja  sich Gott auf einem Thron vorstellt, ist eigentlich verständlich. Damals war das  schönste, aufregendste, wichtigste eben der König. Und so haben sich viele eben auch  Gott vorgestellt. Schön, aufregend, wichtig. Die Engel trauen sich gar nicht, Gott anzugucken. Die haben Angst, seine Schönheit  nicht aushalten zu können. Jesaja aber sieht Gott und erkennt in diesem Augenblick, wie  häßlich er selbst ist, wie bekleckert und beschmutzt mit all den Fehlern, die unter uns  Menschen normal sind. Unreine Lippen, weil unsere Münder so viel Gehässiges,  Häßliches, Verletzendes sagen. Weil wir uns mit unseren Worten vielleicht noch viel  mehr weh tun als mit den Fäusten. Und die glühende Kohle soll desinfizieren, das  dreckige herausbrennen. Harte Sache. Wie eine Operatio , bei der etwas krankes aus  dem Körper herausgeschnitten wird. Wir sind das Volk mit den unreinen Lippen. Wir sind krank. Wir sind immer zu leicht  verletzt und immer zu schnell verletzend. Das ist eines unserer großen Probleme, die  sich auch international auswirken. Jesaja bekommt nach dieser schmerzhaften Operation mit der Kohlenzange einen  Auftrag: Er soll das Volk verstocken. Er soll die Menschen mit der Wahrheit  konfrontieren, ohne daß sie die Wahrheit verstehen und begreifen. Ist das nicht  fürchterlich? Wir meinen doch, daß die Wahrheit uns die richtigen Dinge tun läßt. Aber  scheinbar eben doch nicht. Die Wahrheit kann uns auch das falsche tun lassen, kann  Trotz hervorrufen oder Resignation, kann Verbitterung und Angst erzeugen, kann Haß  und Ablehnung auslösen. Das ist ein typischer Mechanismus. Je schwächer ein Mensch ist, umso weniger kann  er vertragen. Je verlogener einer ist, umso mehr haßt er die Wahrheit. Die Wahrheit  macht ihn nur wütend. Das Hinschauen macht ihn blind vor Wut. Denn die Konsequenz  vieler Erkenntnisse wäre, daß wir unser Leben in bestimmten Punkten ändern müßten,  die uns so lieb und vertraut und angenehm geworden sind. Das täte weh, so eine  Umstellung, so eine Änderung. Und deshalb wehren wir uns gegen alles, was unsere  derzeitigen Ansichten und Lebensgewohnheiten bedroht. Es ist Selbstschutz. Wenn ein  Mensch erfährt, daß er Krebs hat, ist er in den ersten Wochen so geschockt, daß er  immer wieder sagt, nein, das kann nicht wahr sein, das darf einfach nicht wahr sein. Bis  er endlich ertragen lernt, daß sein Leben bald vorbei sein wird. So leugnen wir oft die  Wahrheit, um unsere innere Stabilität aufrecht z erhalten. Das darf nicht wahr sein, also  ist es eben nicht wahr. Und der, der uns solche bösen Dinge erzählt, ist unser Feind,  greift uns an, will uns Böses. Früher hat man die Boten, die die Niederlage in einer  Schlacht dem König meldeten, sofort getötet, quasi um die schreckliche Botschaft  ungeschehen, ungehört zu machen. Heute versucht man schon wieder, die zum  Schweigen zu bringen, die an unsere schuldbeladene grausige Vergangenheit im  Hitlerdeutschland erinnern. Es ist eben nicht leicht, Wahrheit zu ertragen. Wahrheit über mich selbst: Daß ich gar nicht der tolle Mensch bin, der ich so gerne  wäre, daß ich gar nicht so gut bin, wie ich gerne glaube. Wer mir meine Fehler sagt, den  finde ich erstmal gehässig, gemein, doof. Bis ich ertragen kann, daß er recht hat, daß ich  doof bin und nicht er, dauert seine Zeit. Vielleicht ist es dann schon zu spät und ich habe  mich mit einer komischen Eigenschaft, mit einem Fehler, völlig verrannt. Bei Jesaja will  Gott das sogar so. Bis nur noch ein Rest übrigbleibt von Israel. Bis nur ein Rest noch  übrig bleibt von mir, meinem Mut, meiner Kraft, meinem Selbstbewußtsein. Dann  endlich kann ich verstehen und richtig hören, was mein Stolz nicht ertragen hat. Dann  endlich bin ich offen, Gottes Wahrheit zu sehen und zu vertragen. Dann endlich kann ich  mich so sehen und akzeptieren, wie ich bin: ein Mensch mit unreinen Lippen, mit  schmutzigen Phantasien, mit viel Vorurteilen, mit viel Überheblichkeit. Wenn ich dann  meine eigene Unvollkommenheit ertragen lerne, werde ich die Unvollkommenheit der  anderen Menschen auch besser bejahen können, dann werde ich weniger an ihnen  herummeckern und eher verstehen, wieso sie so komi ch sind. Ich werde barmherzig,  weil ich merke, wie sehr ich selbst auf Barmherzigkeit angewiesen bin. Und so erkennen  sich die Christen als unvollkommene Leute, die allesamt Dreck am Stecken haben,  keiner besser als der andere. Und sie üben sie darin, zuerst über den eigenen Dreck  nachzudenken und dann erst über die Dreckigkeit der anderen. Und bei diesem  Nachdenken bekommen sie den Wunsch, sich gründlich abzuwaschen von allem  Schmutz. Es reicht ihnen nicht mehr zu wissen, daß andere auch dreckig sind. Sie wollen  etwas tun, damit sie selbst nicht mehr so dreckig bleiben. Und das versuchen wir mit der  Taufe. Sie soll uns reinwaschen von unseren Fehlern und ihren bösen Folgen. Sie soll  uns das Gefühl geben, daß Gott uns als frischgeduschte, saubere Leute haben möchte  und uns den Schweiß und die Last unseres Lebens immer wieder abwäscht. Wer so von  seinem eigenen Dreck frei wird, der wird sich nicht mehr freuen oder ärgern über die  Schuld und Schande der anderen Menschen, sondern wird überlegen, was er tun kann  für ihre Sauberkeit, für ihre Appetitlichkeit. Vielleicht lädt er sie mal zum Baden ein.  Vielleicht seift er ihnen den Rücken ein. Vielleicht wäscht er ihnen den Kopf. Jesus hat  seinen Jüngern die Füße gewaschen. Amen.